Kulturkommentar

Das unheimliche Auge

Die ersten deutschen Big Brother Awards

Sendung: Sonntag, 05. November 2000,
Autor: Michael Langer

Man hat schon lang die Schüssel auf dem Dach oder über Kabelanschluß den Salat, und wer hätte nicht auch mal Dreck im Schachterl? Anders als Guido Westerwelle, so erfuhren wir es vergangene Woche von der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel, die ausserdem wie viele andere auch ziemlich beschäftigt war mit der Füllung des Begriffs von der "deutschen Leitkultur"-: anders also als Westerwelle wolle sie den Bewohnern des Big-Brother-TV-Containers keinen Besuch abstatten. Das klang wie ein schöner Gruß von der großen Schwester. Aber schon von Berufs wegen interessiere sie, was viele junge Menschen gucken: "Menschen haben unheimliches Interesse daran, in andere menschliche Leben reinzugucken", diagnostizierte Sister Angela. Und weiter: "Wenn man mit der S-Bahn durch Berlin fährt, gibt es Häuser, die dicht an der Strecke stehen. Da schaut man doch auch gerne hinein, wenn die Leute ihre Gardinen nicht zugezogen haben." Ende des Zitats. Gardine zu - und alle Fragen offen.

Wo ist eigentlich Zlatko geblieben? Keiner hat ihn mehr auf dem Schirm, wenn er ihn je auf demselben hatte, und doch denkt fast jeder, der die zwei Wörtchen 'Big Brother' hört, an das gleichnamige Fernsehformat. Aber damit hat der *Big Brother Award*, von dem hiernun die Rede ist, gar nichts tun. Dieser Preis wurde zum 50. Jahrestag von George Orwells utopischen 1948er Roman "1984" von der Datenschutz-Organisation Privacy International in Großbritannien ins Leben gerufen. Das war vor zwei Jahren, 1998. Seither wurden *Big Brother Awards* unter großer öffentlicher Anteilnahme etwa in den USA, in Kanada, der Schweiz und Österreich ausgelobt -- heuer zum ersten Mal auch in Deutschland - allerdings unter geringer öffentlicher Anteilnahme. In Bielefeld organisierte der Foebud e.V.: der Verein zur Beförderung des bewegten und unbewegten Datenverkehrs die Preisverleihung. Zu den Auslobern der Big Brother Awards made in Germany zählte die Deutsche Vereinigung für Datenschutz. Doch von wegen Lob: die Negativ-Preise gingen an Firmen, Institutionen oder Personen, die in besonderer Weise die Privatsphäre von Bürgerinnen und Bürgern beeinträchtigen.

Und: kaum verläßt man das Haus, ist man, ohne es zu ahnen, mitunter mittendrin: zum Beispiel im Taxi zum Bahnhof. Beim Bezahlen fiel mir gerade noch ein winziges Kameraauge auf. Wird das Taxi Videoüberwacht? Ja, ja, sagte der Fahrer, man wisse ja nie, aber wer nichts zu verbergen ..usw.. Nett, dass man das, wenn auch nur zufällig, überhaupt erfährt - und ich fand es eigentlich gar nicht nett für einen potentiellen Kriminellen gehalten zu werden. Gestatten Hombre, Homo Homini Lupus! oder was? Was mit der Aufnahme geschehe, wollte ich wissen. Name?: Hase! Tja, er nehme an, sagte der Taxler recht-freundlich, bitte-recht-freundlich, das Band werde gelöscht, wenn es voll sei. Er nahm an: Genauere Auskünfte gäbe es beim Chef. Schon am Kölner Hauptbahnhof erwischte mich also die erste Gardinenpredigt. Lernen wir, uns den Chef als großen Bruder vorzustellen: als einen nicht unsympathischen Menschen.

Hartmut Mehdorn zum Beispiel: ist Vorsitzender der Deutschen Bahn AG. In dieser Eigenschaft wurde ihm der Big Brother Award in der Kategorie "Behörden und Verwaltungen" zuerkannt. Die Deutsche Bahn verfolgt nämlich zur Beseitigung von "Service-, Sicherheits- und Sauberkeitsdefiziten" das sinnigerweise sogenannte 3-S-Konzept. Original-Ton Bahn: "Unser Wohlfühl-Programm". Und das besteht, so die Bielefelder Jury, vor allem aus einer lückenlosen Videoüberwachung von zunächst 42 Bahnhöfen in Deutschland. Dabei arbeiten Bahnpersonal, Polizei und Bundesgrenz-schutz zusammen & und zwar - wie nicht nur Datenschützer meinen - in undurchschaubaren Zuständigkeiten. Doch keine Sorge, man bekommt nichts mit davon, dass auch der Bahnhof in Wahrheit ein Container ist. Das televisionäre Motto lautet: Vorsicht, versteckte Kamera! Wenn´s denn dem Wohlbefinden dient !? Unter den Stichworten Sauberkeit, Sicherheit betrifft das natürlich zuerst die Randgruppen: Punks, Penner und Pack sind im Bahnhofsbereich nicht gern gesehen. Aber Grundrechte genießen eben leider auch Leute mit roter, grüner, gelber Haarfarbe oder gegebenenfalls ausländischer Nationalität, und nicht nur "Normalbürger". Wie sieht so einer überhaupt aus?

Anderseits gibt es Leute & auch Deutsche, die möglicherweise Wolf heißen, aber lammfromm sind und ganz und gar unschuldig, & denen es trotzdem unangenehm ist, beobachtet zu werden und noch dazu nicht zu wissen, von wem und zu welchem Zweck. Wie sollte man sich ausserdem geben, um nicht etwa für einen entsprungenen Insassen gehalten zu werden, in diesen Zeiten, wo Platz im kleinsten Container ist? Wie ein leitender Angestellter, ein Parlamentarier, ein Taxifahrer oder doch wie ein Journalist? Machen wir uns mit dem Gedanken vertraut, der Große Bruder könnte ein Leithammel sein.

Die sogenannte "deutsche Leitkultur" definierten in der vergangenen Woche ja viele, bis wieder mal alle Boote voll waren, auch der CSU-Landtagsabgeordnete Peter Gauweiler, Zitat: "Es ist doch klar, was gemeint ist: Deutschland soll keine multikulturelle Bahnhofshalle sein...", so Gauweiler: "Wir wollen nicht, dass das kulturelle Bild unseres Landes entgleitet." Und die Chefin der Schwesterpartei sekundierte: "Der Begriff macht deutlich, dass eine multikulturelle Gesellschaft nicht funktionieren kann."

Es ist anscheinend nicht gut bestellt: weder um unsere Bahnhofshallen noch um das kulturelle Bild unseres Landes - trotz fröhlicher Expo, weltoffener Taxis & allerlei Videos. Machen wir uns nichts vor und noch ein Bielefelder Bild von der Republik:

In der Kategorie "Lebenswerk" als deutscher Big Brother 2000 bekam den sog. LifeTime Award das Kölner Bundesverwaltungsamt zugesprochen: für sein Ausländerzentralregister, das es seit 1953 gibt. In diesem Fall betrifft es nicht direkt die Deutschen, aber Menschen und Bürger, die in diesem Lande leben. Versuchen wir, in Ihnen (und also auch in uns) die kleinen Brüder zu sehen.

Das Bundesverfassungsgericht stellte 1983 fest, dass das AZR einer gesetzlichen Grundlage bedarf; aber erst 12 Jahre später zog der Gesetzgeber Konsequenzen. Dr. Thilo Weichert, stellvertretender Datenschutzbeauftragter in Schleswig-Holstein, und Juror beim BigBrother Award, hält aber noch heute trotz einer legalisierten Grundlage, diese Praxis für verfassungswidrig, weil unverhältnissmässig ins Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung bei Nicht-Deutschen eingegriffen werde. Denn nicht nur Ausländerbehörden können auf diese Daten zurückgreifen, sondern auch Polizei und Geheimdienste, und jede andere Behörde des Bundes oder eines Landes. Dieses Register sieht zudem Suchvermerke vor: wenn etwa eine Schule einen ausländischen Schüler suche, so die Juroren, könne sie ihn über das Ausländerzentralregister zur Fahndung ausschreiben. Nicht nur, weil das für deutsche Schüler nicht gilt, hält man dies für eine eindeutige Diskriminierung. Ist das "Leitkultur"?: Darunter "ist das Grundgesetz zu verstehen, das als Hausordnung für alle zu gelten hat." So brachte es CSU-Generalsekretär Thomas Goppel auf den Begriff. Kleine Fussnote: Ausnahmen bestätigen die Regel. Denn manchmal hängt mit dem Segen auch die Hausordnung schief.

Möglicherweise wird, was Orwellschen Fantasien entgegenkäme, bald der Markt alles richten, wenn er keine Bürger mehr, sondern bloß noch Kunden kennt. Der Hauptpreis der ersten deutschen Big Brother Awards fiel auf das digitale Rabattsystem ‚Payback' und seinen Anbieter: die ‚Loyalty Partner' Gesellschaft für Kundenbindungssysteme mbH aus München. Mehrheitseigner mit 67% ist die Lufthansa Comercial Holding. Man hat ja nichts zu verbergen.

Stellen wir uns den kleinen Bruder endlich als kauffreudigen Menschen vor. Fürs handliche Payback-Magnetstreifenkärtchen gibt es überall Rabatt, egal ob beim Surfen (mit AOL), beim Tanken (mit DEA), im (REAL)Supermarkt oder auch abends im (Ufa)Kino. Herrlich! Man muß nur seinen Datenkörper veräußern - ohne zu wissen, wer ihn kriegt. Man kann sich ausrechnen, dass personenbezogene Angaben in Verknüpfung mit detailierten Rechnungen nicht nur Aufschluß übers Konsumverhalten geben, sondern auch zu aparten Persönlichkeitsprofilen führen. Alles hat eben seinen Preis. Wer nicht bereit ist, sein ganzes Profil abzugeben, kommt auch nicht in den Genuß des Rabattsystems. Mit angepeilten 12 Mio Kunden, so lautet das Payback-Ziel, entsteht ein ordentlicher Kosten- und Kalkulationsfaktor bei den Partnerunternehmen. Logischerweise wird Otto-Normal-Käufer, dem solche Bedingungen nicht schmecken, dann die Rabatte mitfanzieren, die er gar nicht bekommen kann!

Lernen wir schließlich die ganze Welt als Container zu sehen, und also auch Ostwestfalen-Lippe. In dieser Ecke des globalen Dorfes findet eine exemplarische "Leitkultur" im Jahre 16 nach Orwell´s Utopia ihr Biotop. Der Big Brother Regionalpreis ging an die Verkehrs Gmbh der Stadtwerke Bielefeld , weil sie in vier Linienbussen die Zwangsbeschallung mit dem Programm eines lokalen Kommerzsenders eingerichtet hatte. Total-digital-global gesehen ist das Konzept nur scheinbar provinziell: weil viele unter uns gern auf dem Schirm sind, sollten eben alle andern das selbe oder wenigstens das gleiche Programm auch im Öffentlichen Raum nicht entbehren müssen. Da hilft dann wirklich nur noch Orwell's Zauberspruch: "Ignorance is strength!" Oder, wie sich die Juroren ausdrückten: "Wenn es Ihnen nicht passt, können Sie auch zu Fuß gehen."

Bayerischer Rundfunk II, 05. November 2000