Die Polizei, dein Lauscher und Gucker

In der Präventionslogik mutiert der Mensch per se zum Sicherheitsrisiko / Rolf Gössners Laudatio zur Verleihung des BigBrotherAward

Die Regierungen der Bundesländer Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen haben am gestrigen Freitagabend den BigBrotherAward verliehen bekommen, weil sie unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung stark gegen die Rechte ihrer Bürger verstoßen. Der Autor warnt vor dem Absturz in den Überwachungsstaat.

Der BigBrotherAward in der Kategorie Politik wird verliehen an die Regierungen und Innenminister der Bundesländer Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen, weil sie im Windschatten der Terrorismusbekämpfung die Verschärfung ihrer Landespolizeigesetze betreiben und damit drastische Einschnitte in die Grundrechte einer Vielzahl unverdächtiger Personen einkalkulieren. Bedroht sind insbesondere das Brief- und Fernmeldegeheimnis, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und damit auch der Schutz der Privat- und Intimsphäre sowie das Recht auf freie Kommunikation ohne Angst vor Repressalien. Hier nur einige der gravierenden Einschnitte:

Das Recht auf freie Kommunikation ist nicht mehr garantiert

1.
In allen genannten Bundesländern soll die präventive Telekommunikationsüberwachung durch die Polizei legalisiert werden - also das vorsorgliche Abhören von Telefonen und Handys sowie das vorsorgliche Mitlesen von Faxen, SMS und Emails, ohne dass eine Straftat oder ein Anfangsverdacht vorliegen muss. Beim Abhören könnte sich ja der Verdacht auf eine Straftat ergeben, die dann verhindert werden könnte, so die Logik der Gesetzesmacher. Dabei sollen schon vage Anhaltspunkte ausreichen, um potenzielle Störer "zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder bedeutende Sach- und Vermögenswerte" belauschen zu können; oder aber um Personen zu überwachen, "bei denen tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass sie zukünftig schwerwiegende Straftaten begehen" (Formulierungen der Entwürfe variieren).

Mit einer solchen Befugnis, wie sie bislang nur in Thüringen legalisiert ist, kann die Polizei die Telekommunikation von "vorverdächtigten" Personen im Vorfeld eines Anfangsverdachts vorsorglich überwachen - selbst wenn rein zufällige und unverdächtige Kommunikationspartner wie Verwandte, Nachbarn, Arbeitskollegen und sonstige Bekannten von den Lauschaktionen betroffen werden. Zum Teil soll sogar die Kommunikation mit unverdächtigen Kontakt- und Vertrauenspersonen wie Rechtsanwälten, Abgeordneten, Ärzten, Journalisten, Psychotherapeuten oder Seelsorgern überwacht werden können - und zwar ungeachtet der besonderen Schweigepflichten, denen solche Personen unterliegen. Auf diese Weise wird das gesetzlich verankerte Zeugnisverweigerungsrecht von Berufsgeheimnisträgern ausgehebelt, ebenso wie wesentliche Elemente der Pressefreiheit: nämlich der Schutz von Informanten und das Redaktionsgeheimnis. Unabhängige Recherchen wären so nicht mehr zu gewährleisten.

Dass die Maßnahme von einem Amtsrichter angeordnet werden muss, ist kein ausreichender Schutz, wie die ausufernde Praxis der Telefonüberwachung zur Strafverfolgung zeigt. Denn es gibt bis heute keine Ermittlungskompetenz des Richters und keine gerichtliche Verlaufs- und Erfolgskontrolle solcher Überwachungsmaßnahmen. Schon gehört die Bundesrepublik allein im Bereich der Strafverfolgung mit jährlich über 15 000 abgehörten Telefonanschlüssen und Millionen von Betroffenen zu den weltweiten Spitzenreitern im Abhören - ein trauriger Rekord, der den ehemaligen Bundesverfassungsrichter Jürgen Kühling dazu brachte, das Brief- und Fernmeldegeheimnis als "Totalverlust" abzuschreiben (Grundrechte-Report 2003, S. 15). Das Recht auf freie Kommunikation ohne Angst vor Überwachung und Repressalien ist nicht mehr garantiert.

Der Hunger nach Verbindungsdaten hat zugenommen

2.
Die präventive Überwachung der Telekommunikation schließt neben der Inhaltskontrolle auch die näheren Umstände der Telekommunikation ein (Erfassung und Speicherung von Verbindungsdaten). Wer geschäftsmäßig Telekommunikationsdienstleistungen erbringt oder auch nur daran mitwirkt, wird gesetzlich verpflichtet, der Polizei die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation zu ermöglichen: Zu diesem Zweck müssen sie die notwendigen technischen Voraussetzungen schaffen, um damit Unmengen von Überwachungsdaten auf Verdacht und Vorrat erfassen und speichern zu können. Die Diensteanbieter müssen der Polizei jederzeit Auskünfte über die näheren Umstände und Verbindungen früherer, aktueller und künftiger Telekommunikationsprozesse erteilen: Wer hat mit wem, wann und wie lange von wo nach wo fernmündlich oder schriftlich kommuniziert, welche SMS- oder Internetverbindungen genutzt.

Schon jetzt beklagt die Deutsche Telekom eine massive "Entwertung des Fernmeldegeheimnisses" durch die Ermittlungsbehörden. Im Bereich der Strafverfolgung habe ihr Hunger nach Verbindungsdaten stark zugenommen und längst verfassungswidrige Ausmaße angenommen (www.heise.de vom 17. 10. 03). Um etwa die häufig verlangten Kontakte zu ausländischen Handy-Nutzern an die Ermittlungsbehörden herausgeben zu können, müssten alle drei Monate alle 50 Millionen Kunden von T-Mobile komplett durchgerastert werden. Hinzu kämen täglich tausende Abfragen von Verbindungsdaten, selbst wenn es nur um Straftaten mittlerer Schwere gehe. Nicht selten werden der Telekom lediglich "Formblatt-Anordnungen" oder Richterbeschlüsse ohne individuelle Begründungen zugeschickt, um Überwachungsmaßnahmen und damit massive Grundrechtseingriffe zu veranlassen. Weigere sich die Telekom deshalb im Einzelfall, die Maßnahmen durchzuführen oder Daten herauszugeben, werde sie mit dem Vorwurf der Strafvereitelung "rüde" unter Druck gesetzt.

Das Handy als Bewegungsmelder seiner Besitzer und Nutzer

3.
Auch die vorsorgliche Standortfeststellung von Telekommunikationsteilnehmern mit Hilfe so genannter IMSI-Catcher ist geplant. Einerseits können mit diesen schuhkartongroßen Geräten die individuellen Kennungen und Gerätenummern von Handys ausgeforscht werden. Auf Grund dieser Identifikation kann die Polizei dann Verbindungsdaten der Mobilfunkteilnehmer beim jeweiligen Telekommunikationsunternehmen abfragen. Andererseits können zur genauen Standortbestimmung Handys elektronisch geortet werden, auch wenn diese nur Stand-by geschaltet sind. Dadurch wird der Polizei die Möglichkeit eröffnet, Bewegungsbilder ihrer Besitzer und Nutzer zu erstellen - nicht etwa zur Verfolgung von Straftätern, nein: zur Verfolgung von Personen, denen künftig Straftaten zugetraut werden (also zur Verfolgung von prinzipiell Unverdächtigen).

Die Bürgerrechtsorganisation "Humanistische Union" hat im Juli dieses Jahres vor dem Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde gegen den Einsatz des IMSI-Catchers zum Zwecke der Strafverfolgung erhoben, der Anfang 2003 in der Strafprozessordnung legalisiert worden ist. Der IMSI-Catcher-Einsatz führe zur unterschiedslosen Erfassung gänzlich unverdächtiger Personen und verstoße deshalb gegen das Fernmeldegeheimnis des Artikel 10 Grundgesetz, das auf diese Weise undifferenzierten Ermittlungsmethoden geopfert werde.

Lausch- und Spähwanzen in privaten Wohnungen

4.
In Rheinland-Pfalz ist der Einsatz von elektronischen Wanzen und Video-Kameras zum präventiven Großen Lausch- und Spähangriff in und aus Wohnungen geplant, wie er bereits in Thüringen (und Baden-Württemberg) legalisiert worden ist. Zur Installation der Lausch- und Spähwanzen soll die Polizei die auszuforschende Wohnung unerkannt betreten können. Damit kann das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung bereits im Vorfeld, ohne Vorliegen eines Straftatverdachts gegen die Eigentümer, Mieter, Mitbewohner oder Besucher, ausgehebelt werden.

Der richterliche Beschluss zur Anordnung dieser Maßnahme ist nach jeweils dreimonatiger Aktion zu erneuern, ohne dass eine zeitliche Obergrenze vorgesehen ist. Bei Gefahr im Verzug soll - trotz der Schwere des Eingriffs - eine Anordnung durch den Behördenleiter ausreichen. Die besonderen Berufsgeheimnisse von zeugnisverweigerungsberechtigten Personen sind keineswegs ausreichend geschützt.

Nachdem inzwischen selbst die eigenen vier Wände objektiv nicht mehr vor Lauschangriffen sicher seien, so der frühere Bundesverfassungsrichter Jürgen Kühling, drohe "ein Zivilisationsverlust, der unsere Demokratie verändern wird" (Grundrechte-Report 2003, S. 20).

Bayern plant Massenscreening von Autokennzeichen

5.
In Bayern ist zusätzlich die automatische Erfassung von Auto-Kennzeichen und deren Abgleich mit Polizeidateien (Fahndungs- und sonstigem Datenbestand) geplant. Ergibt sich bei diesem Datenabgleich ein Verdacht, so wird das betreffende Fahrzeug verfolgt. Die bayerische Polizei testet bereits ohne jegliche Rechtsgrundlage entsprechende Systeme. Ob mit diesem Massenscreening nur Autokennzeichen oder auch andere, etwa biometrische Kennzeichen zum Zwecke der Gesichtserkennung erfasst und abgeglichen werden sollen, ist ebenso ungeklärt wie die Frage, was mit den erfassten Daten geschieht, ob sie etwa zur Erstellung von Bewegungsbildern und Reiseprofilen bestimmter Personen genutzt werden können.

Außer an den bayerischen Grenzen soll der automatische Kennzeichenabgleich auch an so genannten gefährdeten Orten wie Flughäfen, Bahnhöfen und militärischen Einrichtungen erfolgen, darüber hinaus zur Überwachung von Straßen, Autobahnen, Einkaufszentren oder Parkplätzen. Vor Demonstrationen sollen auf diese Weise "bekannte Störer" ausgefiltert werden.

Fazit:
Solche präventiven Regelungen sind tendenziell uferlos, kaum kontrollierbar und daher unverhältnismäßig. Das mit diesen vorsorglichen Maßnahmen sichtbar werdende Präventionskonzept neigt zur Maßlosigkeit, weil damit immer mehr unverdächtige Menschen polizeipflichtig gemacht und in ihren Grundrechten verletzt werden. Da es sich in der Regel um verdeckte Maßnahmen handelt, merken die zahlreichen Betroffenen in aller Regel nichts von den intensiven Eingriffen. Es handelt sich um landesrechtliche Ergänzungen der umstrittenen "Anti-Terror"-Gesetze, die voriges Jahr als Reaktion auf den 11. 9. 2001 (Anschlag auf das World Trade Center in New York, d. Red.) in Kraft gesetzt wurden.

Wo die Prävention zur vorherrschenden Polizeilogik erhoben wird, da verkehren sich allmählich die Beziehungen zwischen Bürger und Staat , da verliert eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, nämlich die Unschuldsvermutung, unter der Hand ihre Macht begrenzende Funktion. Der Mensch mutiert zum (potenziellen) Sicherheitsrisiko - ein generalisiertes Misstrauensvotum, wie es schon bei der verdachtsunabhängigen Schleier- und Rasterfahndung sowie bei der ausufernden Video-Überwachung im öffentlichen Raum zum Ausdruck kommt, in die alle Passanten einbezogen werden, ohne zu wissen, was mit den Aufzeichnungen anschließend geschieht.

Die neuen Instrumente machen einem präventiven Überwachungsstaat alle Ehre - einem Sicherheitsstaat, in dem Rechtssicherheit und Vertrauen allmählich verloren gehen, Verunsicherung und Verängstigung gedeihen. Angesichts einer solchen Entwicklung gibt die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, zu bedenken: "Eine demokratische politische Kultur lebt von der Meinungsfreude und dem Engagement der Bürger. Diese dürften allmählich verloren gehen, wenn der Staat seine Bürger biometrisch vermisst, datenmäßig durchrastert und seine Lebensregungen elektronisch verfolgt" (Rede auf dem Anwaltstag 2002; Anwaltsblatt 8/9 - 2002, S. 457). Im CDU-regierten Thüringen ist der Frontalangriff auf elementare Freiheitsrechte bereits im Juni 2002 umgesetzt worden. Insofern erhält die Thüringer Landesregierung den BigBrotherAward für eine vollendete Tat. Diesem Pilotprojekt wollen nun die Landesregierungen in Bayern (CSU), Niedersachsen (CDU/FDP) und Rheinland-Pfalz (SPD/FDP) folgen. Deshalb erhalten die dafür Verantwortlichen den Preis präventiv - sozusagen als Maßnahme der Gefahrenabwehr.


DER AUTOR
Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Publizist, parlamentarischer Berater und Präsident der "Internationalen Liga für Menschenrechte" (Berlin); außerdem Mitherausgeber der Zweiwochenschrift "Ossietzky" sowie Mitglied der Jury zur Verleihung des Negativpreises "BigBrother-Award" an Institutionen, die in besonderem Maße gegen den Datenschutz verstoßen. Soeben ist im Knaur-Verlag, München, seine neueste Publikation als "Sachbuch des Monats"erschienen: "Geheime Informanten: V-Leute des Verfassungsschutzes - Kriminelle im Dienst des Staates", 320 S., 12,90 Euro, ISBN 3-426-77684-7. Der Autor ist im Internet zu erreichen unter: www.rolf-goessner.de

DER PREIS
Der BigBrotherAward wurde hier zu Lande im Jahr 2000 ins Leben gerufen, um die öffentliche Diskussion über Privatsphäre und Datenschutz zu fördern und den missbräuchlichen Gebrauch von Technik und Information aufzuzeigen. Seit 1998 wird der Preis schon in verschiedenen Ländern an Privatpersonen, Firmen und Institutionen verliehen, die besonders krass die Rechte der Bürger beeinträchtigen und persönliche Daten Dritten zugänglich machen. In Deutschland organisiert der "Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs"(FoeBuD) die Preisverleihung. Weitere Informationen sind im Netz zu finden unter: www.foebud.org.

Frankfurter Rundschau, 25. Oktober 2003
Original: http://www.fr-aktuell.de/ressorts/nachrichten_und_politik/dokumentation/?sid=b3424c3509e01a2351022a036c6b9598&cnt=327758