Big Brother im Alltag

Schnüffelziel: Bürger

Von der Wiege bis zur Bahre - Formulare, Formulare. Und in den Formularen: Daten, Daten, Daten. Der Wissensdurst scheint unstillbar. An erster Stelle will der Staat alles Wissenswerte über seine Bürger wissen. Von Volkszählungen - mit ihrem dramatischen Ausgang - berichtet schon die Bibel. Seither wurden die Methoden der Datenerhebung und Auswertung perfektioniert. Und der Kreis der Dateninteressierten ist gestiegen. Einwohnermeldeämter, statistische Bundes- und Landesämter, Krankenkassen, Rentenversicherungen, Banken, Finanzamt, Arbeitgeber, Vermieter, Reiseveranstalter, Zeitungsverlage, Telefongesellschaften, Waschmittelhersteller, Katzenfutterfabrikanten, Rundfunk- und Fernsehsender, Joghurtproduzenten, Müsliriegelbäcker - kurz: alle wollen heute alles von allen wissen. Die einen wollen besser verwalten, sagen sie, die anderen wollen besser verkaufen, kundennäher produzieren. Im Informationszeitalter ist die Verknüpfung von Daten nur einen Mausklick entfernt. Hinzugekommen ist die visuelle Datenerfassung per Video. Ist die Horrorvision vom gläsernen Bürger schon Wirklichkeit? Ist Big Brother, der große Überwacher, schon überall?

In diesem Frühjahr machte ein (relativ) kleiner Privatsender Fernseheinschaltquote mit der Voyeurshow "Big Brother". Für 100 Tage verfolgten Fernsehkameras das Zusammenleben einiger Freiwilliger in einem Wohncontainer. Täglich gab es einen einstündigen Zusammenschnitt der Tagesereignisse im Abendprogramm. Banalitäten wurden zur besten Sendezeit ausgestrahlt. Medienrummel machte das Kunstprodukt zum Medienereignis. Die Botschaft: Wir haben nichts zu verbergen, jeder kann alles sehen, alles ist "Fun". In der Spaßgesellschaft kann jeder mitmachen, jeder ist ein Star. Und wer brav seine Tagesaufgabe im Wohncontainer erfüllt - egal ob es das stupide Herunterstrampeln von Kilometern auf den Hometrainer oder das Basteln einer Kletterwand ist - wird von "Big Brother" mit Aufmerksamkeiten belohnt. "Big Brother" füllt die Speisekammer, "Big Brother" schickt einen Starfriseur vorbei. Weil "Big Brother" alles weiß, kann er alle Wünsche erfüllen - oder auch nicht. "Big Brother" erweist sich - neben dem profanen Fernsehquoten- und Werbeblockgewinner - als Propagandist für eine vormundschaftliche Gesellschaft, als Gegenbild zur selbstbestimmten Gesellschaft. Als die Mitwirkenden an der "Big Brother-Show" in den Wohncontainer einzogen, gaben sie ihr Recht auf Selbstbestimmung an der Eingangspforte ab. Nur der freiwillige Ausstieg könnte es ihnen zurückgeben. Denn das unfreiwillige Ausscheiden per Nominierung und anschließendem Rauswurf durch Zuschauerumfrage hat mit Freizügigkeit nichts zu tun.

Selbstbestimmung, auch selbst bestimmen über die eigenen Daten, über die "Intimsphäre", gehört zu den Grundwerten dieser Gesellschaft. Das bekräftigte das Bundesverfassungsgericht in seinem berühmten Urteil anläßlich der Volkszählung in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Seinerzeit hatten sich Bürgerinitiativen von "Volkszählungs-Verweigerern" gebildet. Knackpunkt war die mögliche Zuordnung von erhobenen Daten zu Personen. Seither gilt, daß der Bürger die Verknüpfung von Daten zu Persönlichkeitsprofilen und daran anknüpfender Fremdbestimmung nicht hinnehmen muß. Ihm ist offenzulegen, was in öffentlichen Dateien über ihn gespeichert wurde. Jedenfalls im Prinzip; auch von staatlichen Institutionen angelegte Dateien weisen oft in Graubereiche, zum Beispiel Polizeidateien über "Hooligans" oder europaweit angelegte Informationssysteme, sehr zum Ärger von Datenschützern.

Der gläserne Mieter?

Auch im privaten Bereich schießt Datensammelwut über das notwendige Maß hinaus. So gilt zum Beispiel bei Vermietern die "Selbstauskunft" zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen einschließlich Angaben zum Nettoeinkommen mit Verdienstbescheinigung inzwischen zum Standard. Doch neben dem Geburtsdatum, das zur Unterscheidung von Mietern im Computer gespeichert wird, sind häufig Fragen nach Geburtsort, Geburtsname und Staatsangehörigkeit in Fragebögen zu finden. Datenschützer halten dies für rechtswidrig. Ebenso wie Fragen nach Zugehörigkeit zu einer Mieterorganisation, nach Vorvermietern, nach sexuellen Neigungen, Vorstrafen, Religionszugehörigkeit, Krankheiten oder gar nach einer Schwangerschaft. Solche Fragen sind aus der Sicht von Datenschützern nicht hinzunehmen, eine Falschbeantwortung könne nicht zu einer berechtigten Mietvertragsanfechtung wegen Täuschung nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch führen, weil sie mietvertraglich nicht relevant seien.

Videoüberwachung als Service

Zunehmend bieten Vermieter großer Wohnanlagen Videoüberwachung als Service gegen Vandalismus und zur Erhöhung der Sicherheit an. Die Kehrseite ist, daß damit auch jeder Besucher erfaßt und sein Bild gespeichert werden kann. Mit Datum und Uhrzeit. Bedenken in der Bevölkerung sind hier, wie an anderen Stellen mit Videoüberwachung, gering, die Akzeptanz ist hoch. Datenschützer sehen im Einsatz von Videoüberwachung als Allheilmittel eine dramatische Entwicklung, die kaum noch zum Schutz der Bürger vor der Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte zu regulieren ist.

Sicherheitsgefühl durch Videokameras

In Kaufhäusern und Supermärkten wird Videoüberwachung heute schon weitgehend flächendeckend eingesetzt. Ladendiebstahl soll verhindert, Hausverboten Nachdruck verliehen werden. Dafür wird jeder Kunde erfaßt. Selbst beim Zigarettenhändler an der Ecke weist ein Schild auf die Videokamera hin. Begründung: "Kids aus der nahe gelegenen Schule klauen Cola und Kaugummi." Zoomen, scannen, erkennen heißt es bei der U-Bahn, wo auf den Bahnhöfen Video statt Personal eingesetzt wird. Auf den Berliner Ostbahnhof überwachen seit zwei Jahren 70 Kameras 90 Prozent der Bahnhofsfläche. In Hotels, Tankstellen und Parkhäusern wird Videoüberwachung ebenso eingesetzt wie von Stadtverwaltungen auf öffentlichen Plätzen. Auch in Berlin und Brandenburg sollen die technischen Anlagen "zur Verbrechensbekämpfung" flächendeckend aufgebaut werden. Schon seit längerer Zeit beobachtet die Polizei Demonstrationen mit der Videokamera und wertet die Bänder aus. Nicht immer ist vom gescannten Bürger nachzuvollziehen, was mit seinen Bildern geschieht. "Ich habe nichts zu verbergen", ist häufig zu hören, wenn über Videoüberwachung diskutiert wird. Aber ist es die freie Entscheidung es Einzelnen, in einem (zum Teil von privaten Gesellschaften eingerichteten) Überwachungssystem gespeichert zu werden? In George Orwells Horrorvision "1984", geschrieben vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Nazi-Diktatur und dem Stalinismus, wurde die Video/Audio-Überwachung durch den "Großen Bruders" zur Überprüfung des richtigen Denkens und Verhaltens eingesetzt, das Ergebnis war ein totalitäres System. Bei "Big Brother" im Jahr 2000 bei RTL II zogen die Beobachtungsobjekte freiwillig in ihr 100-Tage-Gefängnis ein. Was aber zeitgleich auf öffentlichen Plätzen und Bahnhöfen sowie von Privaten mit der Videoüberwachungskamera veranstaltet wird, verlangt größeres Problembewußtsein und weniger vorauseilende Akzeptanz. Nicht alles, was technisch machbar ist, sollte auch gemacht werden.

Profile für 5 Mark

Problembewußtsein ist auch angebracht, wenn von "Meinungsforschungsinstituten" die Konsumgewohnheiten der Bürger ausgespäht werden. Ein hessisches Institut veranstaltet bis zum Ende dieses Jahres zum Beispiel eine Umfrage, die umfassende Profile - personenbezogen - ermöglicht. Gefragt wird nach Gewohnheiten rund um die Freizeit, rund ums Auto, rund ums Einkaufen, rund ums Telefon, rund um den Beruf, rund um den Haushalt inklusive Wohnungsgröße, Etage, Miethöhe, Hausalter und Wohndauer, nach Bausparverträgen, den Bankverbindungen, den Versicherungen und die Urlaubsgewohnheiten.

Im Maschendraht

Hier ein Profil, erstellt nach diesem Fragebogen für Herrn Mustermann:

Herr Mustermann beschäftigt sich in seiner Freizeit mit den Computer und surft im Internet. In der Familie wird Wandern regelmäßig als Sport betrieben. Nachrichten sehen die Mustermanns vor allem in der ARD, Sport bei Sat1, Krimis im ZDF, Serien bei RTL. Für Spielfilme wird Premiere World bevorzugt, Shows allerdings häufiger bei der ARD angeschaltet. Musik wird bei Anderen gehört (nach MTV wurde nicht extra gefragt) und Magazine wieder bei der ARD geguckt. Die Mustermänner nutzen das Fernsehgerät 2 bis 3 Stunden am Tag. Gelesen wird auch, hier wird bei regelmäßig Stern, TV Movie und "regionale Tageszeitung" angekreuzt, gelegentlich "Der Spiegel", PC Welt und Kicker. Bei der Frage: "Wie regelmäßig kauft ihr Haushalt die BILD-Zeitung in der Woche" wird "nie" ausgewählt. Damit entfallen die Fragen, ob die nächste BILD-Verkaufsstelle bequem zu erreichen ist, um welche Uhrzeit das Springer-Produkt gekauft wird und ob man es noch früher erwerben will. Weiter geht es mit der Frage, wo die Zeitungen/Zeitschriften gekauft werden: Pressefachgeschäft. Bei den Themen wird Politik, Technik, Sport angekreuzt. Die nächste Frage löst einen Familienkrach aus, Frau Mustermann spielt heimlich Lotto am Samstag und trägt dies in den Fragebogen ein, Herr Mustermann schimpft über Geldverschwendung. So geht das munter weiter: Autoangaben inklusive Schadensfreiheitsrabatt und Erwägung eines Kfz-Versicherungswechsel. Einkaufsstätten von Aldi über Karstadt und Lidl bis zu WalMart werden abgefragt. Tiere im Haushalt interessieren ebenso wie die Marke der Küchenhandtücher und des Geschirrspülmittels. Der Weichspüler wird abgefragt oder wenn nein: warum nicht? Haartypen (Trocken, Fett usw.) sind für die Markforscher ebenso interessant wie die Verwendung von Binden, Tampons oder Slipeinlagen, die Lagen des Toilettenpapiers oder die Benutzung von Kreditkarten (!).

Nachdem sich die Familie Mustermann zu Tampons, feuchtem Toilettenpapier und Dispokredit der Hausbank geäußert hat, fallen die Antworten zu den Telefongewohnheiten leicht. Festnetz, Mobilnetz, Internet (welcher Provider), und was man so ausgibt für die Informationsgesellschaft. Leichter Familienstreit keimt wieder auf: "Was, soviel Geld geht dabei drauf?"

Die nächsten Fragen erinnern an die Fragen in der Einkommensteuererklärung: Haben Sie ein Büro zu Hause? Wie weit arbeiten Sie von ihrem Wohnort entfernt? Beschäftigt als?, Schulabschluß/Berufsabschluß, monatliches Nettoeinkommen. Diese Fragen sind Einstimmung in den Komplex: Rund um den Haushalt. Wie viele Personen leben in Ihrem Haushalt? Haben Sie Kinder? Wie sieht die Altersstruktur in Ihrem Haushalt aus? Verheiratet, Lebenspartner, Ledig, Verwitwet, Geschieden? Geburtsdatum? Wie wohnen Sie: Eigenes Haus, Gemietetes Haus, Eigentumswohnung, Gemietete Wohnung? Haben Sie einen Garten? Auf wieviel Quadratmetern wohnen Sie? In welcher Etage wohnen Sie? Seit wann wohnen Sie hier? Wann wurde Ihr Haus gebaut? Ihre monatliche Miete ohne Nebenkosten? Sind Sie als Privatperson Vermieter?

So, jetzt kommt der Rest. Schnell noch ein Kreuz bei der Berliner Bank als Hausbank für das Girokonto, Sparbuch natürlich bei der Sparkasse, Wertpapiere wieder bei Berliner Bank (und natürlich auch Kredit). Nach diesem Strip die Versicherungsfrage geklärt: Wo ist der Hausrat versichert und bei welcher Versicherung besteht eine Kapitallebensversicherung. Rechtschutzversicherung nicht zu vergessen. Und dann wollen die Markforscher noch wissen, bei welcher Krankenversicherung die Familie versichert ist und ob gewechselt wurde. Na klar doch!, zwei Striche in den entsprechenden Feldern. Die Fragen nach dem Urlaub (wo, mit welchem Verkehrsmittel, mit welcher Fluggesellschaft und welchem Reiseveranstalter) stimmen schon wieder auf die schönste Zeit des Jahres ein. Also ankreuzen. Und dann kommt Name, Adresse, Telefon, e-mail-Adresse. Geburtsdatum, Einkommenshöhe, Kreditkarten, Bankverbindungen, Miethöhe usw. wurde ja schon früher abgefragt. Einwilligungserklärung: Meine Angaben in diesem Fragebogen dürfen verarbeitet und genutzt werden, wobei die personenbezogene Weitergabe ausschließlich auf Organisationen und Unternehmen beschränkt wird, die meinen erkennbaren Interessen und Wünschen entgegenkommen. Diese Organisationen dürfen mir Informationen, Werbung und Angebote zusenden. Also unterschreiben, Herr Mustermann, dafür gibt es 5 Mark für den Aufwand.

Oder besser nicht? Die Marktforschungsgesellschaft wird erklärtermaßen die "Angaben für die Analyse der Konsumgewohnheiten auswerten, Trends und Schwerpunkte der Marktentwicklung erfassen und, darüber hinaus, die Angaben für Direktmarketing bekannten, renommierten Unternehmen zur Verfügung stellen". Also, die Angaben landen bei Unternehmen zur Auswertung, und diese Unternehmen können damit arbeiten, wie sie es für ihr Direktmarketing für richtig und notwendig halten. Sie bekommen ein umfassendes Profil geboten. Einen schönen Gruß vom "Großen Bruder".

Negativ-Preis für Schnüffler

Seit 1998 wird in Großbritannien der "Big Brother Award" an Personen und Institutionen vergeben, die sich um die Beeinträchtigung der Privatsphäre von Menschen "verdient" gemacht haben. In diesem Jahr wird der Award erstmals auch in Deutschland vergeben. Vorbilder für den deutschen Award, den ein Bielefelder Verein von Computeraktivisten in diesem Jahr erstmals vergibt, sind Großbritannien, die USA und Österreich. Dort gewannen im letzten Jahr eine Direktmarketing-Firma, Microsoft Österreich und Europaabgeordnete, die der Enfopol-Abhörinitiative zugestimmt hatten. Verliehen werden soll der erste deutsche Big Brother Award voraussichtlich im Oktober in Bielefeld. Die Trophäe selbst ist noch in Arbeit. Nominierungen für die Empfänger werden aber jetzt schon entgegengenommen: per E-Mail am bba@foebud.org.

MieterSchutz, März 2000