Kolumne

Wer ist der größte Big Brother?

Beim Big Brother Award trugen diverse Firmen, Behörden und Organisationen den Preis für die dreisteste Datenschnüffelei davon. Wer hat die Nase vorn?

Nach einer Meldung der Stiftung Deutscher Studienpreis befürwortet jeder fünfte Deutsche die Verpflanzung eines Chips in sein Gehirn. Jedenfalls unter der Voraussetzung, dass der Chip die Hirnleistung verbessert. So ein Chip könnte noch ganz andere Leistungen verbessern: Bei der Geburt in die Fontanelle eingepflanzt, könnte er die ultimative Lösung zur lebenslangen IP-Adresse sein und komplexe Überwachungsaufgaben erheblich reduzieren. Big Brother freut sich über jeden fünften Deutschen. Doch so weit sind wir noch nicht. Es gibt noch Widerstand.

Mit 16 Jahren Verspätung wurde in Deutschland zum ersten Mal der Big Brother Award verliehen. Dieser Award gehört zu den Anti-Preisen, zu den Zitronen, die niemand gerne entgegen nimmt. Mit dem Award wollte die Jury Firmen und Organisationen auszeichnen, die in besonderer Weise die Privatsphäre von Menschen nachhaltig beeinträchtigen. Doch nicht nur in Deutschland wurden Preise verteilt: Zeitgleich gab es Preise in Österreich und in der Schweiz, ein jedes Land hatte seine eigene Jury und eigene, zusätzliche Kategorien, in denen Sonderpreise vergeben wurden. Dieser Unterschied mag beruhigen: Big Brother ist noch längst nicht so Big, als dass der Preis grenzüberschreitend vergeben werden könnte. In Deutschland erwischte es die Deutsche Bahn AG, das Ausländerzentralregister, den Berliner Innensenator und die Payback-Karte der Loyalty Partner Gesellschaft für Kundenbindungssysteme (www.loyalty-partner.de). Mit 68% ist hier die Lufthansa beteiligt. Und es erwischte einen kleinen Pinguin.

Der Pinguin als Sündenbock

Tux heißt das Stoffvieh, das für die Linux-Szene steht und zur Preisverleihung mit einer Feder dekoriert auf der Bühne erschien. Die Feder ist das Symbol für den Apache-Webserver, der den deutschen Spezialpreis bekam. Diesen "Szene-Preis" erhielt das meist verbreitete Webserver-Programm der Welt für die Standard-Konfiguration, in der zu viele Details in ein Logfile geschrieben werden. Details wie etwas das Referrer-Log oder die IP-Nummer, die Aufschluss über den Surfer geben könne, so die Jury. Nun ist diese IP-Nummer noch nicht mit dem Chip im Gehirn verbunden: Viele Surfer kommen über Proxy-Server mit "verzerrten" IP-Adressen zu einem Web-Angebot, viele benutzen Einwahlverbindungen, bei denen der Provider eine dynamische IP-Adresse vergibt. Sie ist nicht ohne weitere Umstände einer bestimmten Person zuzuordnen - der Preis für den eklatanten Bruch der Privatsphäre hat einen Beigeschmack.

Ein weiterer Missgriff der Jury ist die Wahl des Pinguins. Schließlich läuft Apache auch auf anderen Plattformen, etwa denen von Microsoft. Wo liegt der Fehler? Liegt es daran, dass das Original-Maskottchen von Windows längst vergessen ist? Niemand erinnert sich noch an den Bär, der als Easter Egg in den ersten Versionen von Windows auftauchte. Wer erinnert sich daran, dass die ersten Linux-Versionen mit einer Möve kamen, das Microsoft Bob Windows auch einmal menscheln lassen wollte. Seis drum: Ein vergessener Microsoft-Bär (und der Garfield-ähnliche Tiger von Windows NT) und der Linux-Pinguin, brüderlich die Feder reichend, passten nicht zur Big Brother-Schablone.

Frage nicht, was dein Land tut...

In Abwandlung eines berühmten Satzes von John F. Kennedy wäre hier die Frage zu stellen, was jeder selbst tun kann. Denn das Mitschreiben von IP-Adressen, wie es auf dem Apache-Webserver der Jury passiert, ist ein Klacks gegen die Einbruchsmöglichkeiten in die Privatsphäre, deren sich der Surfer beim Browsen erwehren muss, gegen die Datenschnüffeleien, die mit Cookies realisiert werden. Wer sich nicht um seine eigenen Datenspuren kümmert, wer nicht von Web-Servern Privacy-Optionen einverlangt, spielt dem Big Brother in Hände. Ein besonderen Preis hätten darum nicht Tux samt Feder verdient, sondern all die Surfer, die sorglos im Cyberspace herumnavigieren. Jeder Fünfte toleriert vielleicht den Chip im Hirn, doch jeder Dritte kennt die Einstellungen seines Browsers nicht. Von Hilfen wie Crowds, Onion-Routings, Anonymizer, oder Mixmaster Remailer ganz zu schweigen.

Detlef Borchers arbeitet seit 1986 als Computer-Journalist und schreibt unter anderem für "Die Zeit", die "Süddeutsche Zeitung" und "Neue Zürcher Zeitung". Seine Artikel zu High-tech-Themen verfasst er in der reizvoll kontrastierenden Umgebung des Bulkhofs, eines Bauernhofs in Nordrhein-Westfalen.

ZDNet, Oktober 2000