Virtuosin einer lebenswerten Netzkultur

Rena Tangens ist Medienkünstlerin. Mit originellen Aktionen bringt sie Kreativität in die lineare Denke der High-Tech-Welt.

Rena Tangens Mitten in einem Bielefelder Vorstadtviertel kann man mit etwas Glück im Schaufenster der Marktstrasse 18 Rena Tangens beobachten. An manchen Tagen stellt sich die Medienkünstlerin dem Betrachter als Objekt der Neugierde dar. Das sei kein Theater, versichert sie. Tatsächlich ist diese Performance ein Teil des Konzepts der Galerie "Art D´ Ameublement", die Galerie für den "neuen Bürger", eine der vielen künstlerischen Innovationen, deren Geburtshelferin die Bielefelderin ist.

Der Computer ist für Rena Tangens mehr als nur ein Rechenknecht - Musik als Raumteil

Namenspate bei der Gründung der Galerie stand der französische Komponist Erik Satie und dessen "Musique D´ Ameublement". Sein Klavierstück "Vexations" dauert etwa eine Minute, soll aber auf Empfehlung Saties 840mal wiederholt werden. "Diese Musik ist nicht zum ehrfürchtigen, passiven Zuhören, sondern sie ist ein Bestandteil des Raumes, wie ein Möbelstück oder die Raumtemperatur". In diesem Sinne will auch Tangens ihre Arbeit verstanden wissen: Kunst, die Menschen nicht zum passiven Publikum macht, sondern ihnen Raum mit einer anregenden Atmosphäre zur Verfügung stellt.

Nach diversen Jobs - mal auf dem Friedhof, mal in einer Werbeagentur - entdeckte Rena Tangens 1984 den Reiz des Computers. Den zündenden Impuls auf ihrem Weg zur Medienkünstlerin erhielt sie während der Ausstellungsreihe "Interregionale Mehrwert-Vorstellung". Der Chaos Computer Club funktionierte die Galerie kurzerhand in ein Hacker-Quartier um und kreierte den Begriff "Medienkunst". Drei Tage und Nächte lang hackten die "Chaoten" damals öffentlich. "Wir waren unter anderem in Rechnern der Washington Post. Damals war das noch nicht legal, heute wollen die ja, daß man sich bei ihnen einloggt", erinnert sich Tangens. Den Kunstbegriff zu erweitern war nicht das explizite Ziel dieser spektakulären Aktion.

"Wir waren fasziniert von der Tatsache, daß so viel potentielle Kommunikationsleitungen durch simple Computerarbeit erstellt werden können." Tangens war sich sicher, daß die neuen Technologien die Gesellschaft verändern würden und wollte dieses Feld aus ihrer Sicht bestellen.

Den Durchbruch, sich Kunsträume zu eröffnen, brachte die Gründung des Vereins zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs (FoeBuD), das seine eigene "Bionic-Mailbox" mit mehr als 700 registrierten Systemen startete. Trotz Internet-Euphorie wächst das unabhängige Bürgernetz auch heute noch munter. In öffentlichen Foren diskutieren Hunderte von Menschen über alles, was ihnen am Herzen liegt. Tangens Visionen für eine lebenswerte Netzkultur werden langsam ernst genommen. Heute wird sie von Unternehmen und Behörden um Rat gefragt, ist willkommen auf Messen und Kongressen. Unter anderem berät sie den Bundestag in Sachen "Informationsgesellschaft".

"Medien-Piazza"

Überhaupt: Das Internet ist das genaue Gegenteil von Rena Tangens Utopie. "Das Gerede von den Datenautobahnen nervt mich, auf Autobahnen geht es immer nur vorwärts". Ihre Vorstellung von der Cyber-Zukunft ist menschenfreundlicher. Tangens träumt von einem globalen Dorfbrunnen, der Mittelpunkt eines öffentlichen Mediencafés ist, zu dem die Menschen kommen, um ihre Sorgen mitzuteilen, ihr Wissen auszutauschen sowie ihre Angelegenheiten zu verhandeln. Eine Art Mekka für Infobürger. Ausgestattet mit Computerarbeitsplätzen, virtuellen Zeitungen, ergonomischer Bestuhlung und Computerkunst am Rande. Sozusagen die Belebung einer verlorengegangenen Kommunikationsidylle: die "italienische Medien-Piazza".

Kameran Fatah

Computer und Co, Januar 1998