Die Daten kommen durch die Steckdose

Feindbild Telekom: Zur "Interfiction" in Kassel trafen sich Internet-Nutzer, um ueber Online-Piraterie und die Moeglichkeit eigener "Netzgesetze" zu diskutieren

Das Internet galt bis vor wenigen Jahren als anarchistisch- unreglementierte Insel der Seligen: ein rechtsfreier, transnationaler Raum, in dem keine Gesetze existierten auszer einem unausgesprochenen Ehrenkodex. Doch seit 1993 macht es die graphische Variante des Internet, das WorldWideWeb (WWW), auch fuer Computerlaien einfach, sich im Netz zu bewegen. Und ein fast gleichzeitig vom amerikanischen Vizepraesident Al Gore losgetretene Beschwoerung des "Daten-Highway" Internet liesz immer mehr Menschen in den Cyberspace vorstoszen, die die gewachsenen Sozialstrukturen des Internet nicht kannten.

Auch die bei der traditionellen "Net-Community" wenig beliebten Medienkonzerne und Groszunternehmen begannen sich im Netz breitzumachen. Ploetzlich sah es so aus, als wuerde aus dem Cyberspace, den seine Urbewohner aus dem akademischen Milieu und aus der Hackerszene als sozialen Ort verstanden hatten, ein gigantisches Einkaufszentrum werden - ohne Ladenschlusz- oder sonstiges Gesetz. Was einmal von den Pionieren im Vertrauen auf eine eingeschworene Gemeinschaft als archaischer Ort besiedelt worden war, zieht mittlerweile windige Geschaeftsleute an, die mit Spielkasinos, Neppgeschaeften und Bumslokalen ein schnelles Geld machen wollen. Selbst Neonazis und Kinderpornographen greifen zum Netz.

Die Veranstaltung "Interfiction", die am Rande des Kasseler Film- und Videofestivals stattfand, wollte der wachsenden Kolonialisierung des Internet durch kommerzielle Interessen etwas entgegensetzen. Waehrend Telekom, Bertelsmann und America Online sich zur Zeit darauf vorbereiten, den deutschen Online-Markt aufzurollen, sollte in Kassel diskutiert werden, ob man den Cyberspace jetzt kampflos den Interessen von Groszunternehmen und deren Kunden ueberlassen musz oder ob es nicht moeglich sei, das Internet als "Raum, in dem ich nicht als Konsument behandelt werde", zu erhalten, wie es der Amsterdamer Medientheoretiker Geert Lovink in seinem Eroeffnungsreferat formulierte. Gleichzeitig versuchen einige Internet- Benutzer auf recht rigorose Art, den uebrigen Usern ihre Moralvorstellungen aufzuzwingen. Sabine Helmers vom Wissenschaftszentrum Berlin berichtete von den Cyber- Angels, die aehnlich den Guardian Angles, die in der New Yorker U-Bahn patrouillieren, um Verbrechen zu verhindern, das Netz nach Informationene durchsuchen, die ihrer Definition von "Schmutz" entsprechen. Um sicher zu gehen, dasz das Internet nicht auf solche Weise in die Haende der Geschaeftemacher und Moralapostel faellt, sollten in Kassel politische Forderungen formuliert oder sogar ein Manifest verabschiedet werden.

Dazu kam es nicht. Wir waeren nicht in Deutschland, haetten bei einer derartigen Veranstaltung nicht erst mal alle Beteiligten so sehr recht, dasz man die Debatte gleich wieder beenden koennte. Der mitunter recht harsche Ton und die Verbissenheit, mit der viele Konferenzteilnehmer ihre Standpunkte verbreiteten, erinnerte an die schoensten Momente in den oft aggressiven Debatten der Internet- Newsgroups. Klaus Schoenberger vom Autonomen Zentrum Marburg, der in seinem Einleitungsreferat sagte, dasz nicht das Medium zaehlt, sondern das, was damit mitgeteilt wird, bekam sofort seinen veralteten Begriff von Gegenoeffentlichkeit um die Ohren geschlagen. Auch sonst muszte erst mal jeder sein Terrain reklamieren: Die Computer-Veteranen gegen die Internet-Neuzugaenge, die Mailbox-User gegen die WWW-Surfer, die postmodernen gegen die traditionellen Linken und alle zusammen gegen die Telekom.

Die Telekom ist ein gemeinsames Feindbild, denn deren kuenftige Preisstruktur, die durch ihre ueberhoehten Ortsgespraechstarife die User von Online-Diensten benachteiligt, macht unmoeglich, was alle Konferenzteilnehmer als wichtiges Ziel fuer die Zukunft ansahen: Access for all - der gleichberechtigte Zugang fuer alle zum Netz. Um die Telekom und ihr ueberteuertes Leitungsnetz zu umgehen, schlug der Berliner Medientheoretiker Volker Grassmuck darum vor, alternative Leitungen zu benutzen: Statt ueber das Telefonnetz koennte man Computerdaten via Infrarot- Strahlen uebertragen oder die "Babyphone"-Technologie nutzen, die es moeglich macht, geringe Datenmengen statt durch Telefonleitungen ueber das Elektrizitaetsnetz zu bewegen. Die Kasseler Mailbox asco experimentiert mit packet-radio: Statt per Telefonleitung kann man sich bei asco mit CB-Funk einloggen: "Das ist zwar zeitaufwendiger als ueber das Telefonnetz, aber dafuer umsonst. Auch Gereon Schmitz von dem WWW-Projekt Internationale Stadt forderte, einen Satelliten zu mieten, um die Netze der Telekom zu umgehen.

An Forderungen fehlte es auch sonst nicht. Padeluun von der Bielefelder Mailbox Bionic regte an, dasz der Cyberspace als eigener Staat Mitglied der UNO werden muesse und dasz alle Menschen Gelegenheit dazu haben sollten, in Bibliotheken oder Gemeindezentren das Internet und seine Netiquette kennenzulernen. Offenbar sind die politische Forderungen mit der Net-Community gewachsen: das Recht auf Information, demokratische Abstimmungen ueber Datenuebertragungsprotokolle, eine Kontrolle des Netzmanagements durch die User, Gewerkschaften fuer Telearbeiter und Organisationen, die die Interessen von Usern vertreten - denn, so hiesz es, es gehe nicht darum, Computer miteinander zu vernetzen, sondern Menschen.

Auf keinen Fall jedoch soll die wirkliche Welt im Cyberspace blosz abgebildet werden, sondern eine andere Welt geschaffen werden. In der wirklichen Welt bekannte unerfreuliche Erscheinungen wie Rassismus oder Sexismus moechte man nicht unbedingt in den Cyberspace importieren. Auch darum waere es wuenschenswert, einen politisch akzeptablen Konsens zu finden. Andererseits ist es im Cyberspace durchaus moeglich und gebraeuchlich, andere Geschlechteridentitaeten anzunehmen. Allein schon in bezug auf das eigene Geschlecht koennte daher ein "Recht zu luegen" Element eines "Netzgesetzes" werden. Und um diejenigen, die daran mitwirken, aus dem Cyberspace einen oeffentlichen Raum zu machen, so zu honorieren, dasz sie auch in der wirklichen Welt ueberleben koennen, sollte auch "Netzleistung" - also die Kreativitaet, die Netzbastler in den Cyberspace investieren - entlohnt werden. Dafuer koennte zum Beispiel ein internationaler Netzfonds geschaffen werden, in den alle Laender im Verhaeltnis zu ihrem Bruttosozialprodukt einzahlen, wie Padeluun vorschlug.

Es war also nicht so, dasz in Kassel die Ideen fehlten, was relevante politische Forderungen fuer den Cyberspace sein koennten. Was fehlte, war blosz die Bereitschaft, sich auf welche zu einigen. Auf konkrete, praktikable Ideen, wie man das Netz fuer alle zugaenglich macht, ohne dasz es zum Cyber- Tollhaus oder zum virtuellen Las Vegas wird, wird man wohl noch ein wenig warten muessen - oder alles den US- Amerikanern ueberlassen, die den Europaeern in puncto Cyberspace sowieso um einige Jahre voraus sind. Fuer ein paar Teilnehmer hat sich der Weg nach Kassel jedoch auf jeden Fall gelohnt: Die Veranstalter von dem Berliner WWW- Projekt Internationale Stadt, die bei der naechsten documenta ein Internet-Projekt machen werden, konnten vor Ort noch schnell die halbe Kasseler Mailbox-Szene als Mitarbeiter fuer ihre documenta-Plaene rekrutieren. Wenn Mailbox-Freaks ploetzlich an einem WorldWideWeb-Projekt mitarbeiten, dann hat die Interfiction schon einiges Feedback erreicht.

Tilmann Baumgaertel

die tageszeitung, 19. Dezember 1995