Friedrich Kittler über Wissenschaft, Computer und Techno

Friedrich Kittler StadtBlatt: Sie sind der Ansicht, daß seit Descartes und Mersennes die Musik unter dem Gesichtspunkt der Zeit betrachtet wird. Ist diese Sichtweise heute überhaupt noch angemessen? Als Besucher einer Techno-Disco hat man das Gefühl, sich nur noch In einem Jetzt zu bewegen.
Kittler: Ich habe den starken Eindruck, daß die Produzenten an ihren Computern, Mischpulten und Samplern Zeit sehr wohl ständig einkalkulieren. Sie machen diese paradoxe Sache, daß sie reine Geräusche so behandeln, als seien ,sie musikalische Gebilde, sie werden repitativ eingesetzt, was bei Geräuschen früher nie ging. Saubere Töne kann man problemlos iterieren, vergößern, verkleinern, spiegeln. In der ganzen alten Musikgeschichte kam man aber mit Geräuschen nie so zurecht wie mit Noten. Das macht die Techno-Musik jetzt aber gerade möglich. Mit dem Computer besitzt man die Möglichkeit, auf der Zeitachse zu spiegeln, also das Musikstück von hinten wieder nach vorn zu denken und von hinten her zu korrigieren und Sig. nale zu edieren. Hier kommen In das Rauschen all die alten schriftlichen Verfahren hinein, die früher nur mit Noten möglich waren. Es kann sein, daß es den Konsumenten in dieser sehr präsenzgeladenen Situation In der Disco dann als das genaue Gegenteil erreicht. Aber dahinter stehen Technologien, die Kunst in die Rauschspektren einführen.

Geräusche als Musik

StadtBlatt: In einem Ihrer Texte warnen Sie vor einem neuen Computer-Analphabetismus. Dort ging es um Anwender In multimedialen Systemen, die nur noch anwenden und gar keinen Zugriff mehr auf die Grundlagen der Anwendungen haben. Gibt es vielleicht parallel dazu einen musikalischen Analphabetismus?
Kittler: Bei dem Computer habe Ich Immer ein bißchen Angst, daß ich vielleicht nur aus alterlichen Gründen sage: Das ist furchtbar mit Bill Gates und den Waschmaschinencomputern. Diese Entwicklung ist ja unabwendlich. Ich denke aber trotzdem, wenn Barbara Töns und andere programmieren, wissen sie, was sie tun. In Sachen Musik habe Ich unterschiedliche Erfahrungen mit DJ's und Techno-Pioduzenten gehabt. Ein DJ hatte bei mir promoviert (Ulf Poschardt, die Red.), das Buch hieß »DJ-Culture« und dem mußte man die Musiktechnik erst einmal ein bißchen beibringen, bevor er sich von seiner Handfertigkeit löste. Andererseits habe ich junge Discomusik-Produzenten kennengelernt, die sich bei diesen Produktionen diese ganze Musik-Mathematik reingezogen haben. Anders geht das ja auch schlecht. Man muß ja ein bißchen lernen, um auf dem Markt auch erfolgreich zu sein.

StadtBlatt:Bei Ihren Überlegungen verfließen Literatur- und Naturwissenschaften. Ist die Vermittlung beider Bereiche ein Anliegen von Ihnen?
Kittler: Das ist der Weg von der Literaturwissenschaft hin zu einer Wissenschaft, In der es nicht bloß Buchstaben gibt, sondern auch Zahlen und auch Buchstaben als Zahlen oder als Metazahlen. Ich würde mir wünschen, daß es ,hier mehr Leute gäbe, damit die Kluft zwischen diesen zwei Kulturen kleiner wird. Dazu wäre es ganz wichtig, daß man die Naturwissenschaft nicht mehr nach dem alten Schreckbild stilisiert, wie Adorno und Heidegger es Im Kopf hatten: Die Naturwissenschaft analysiert die Natur und macht sie dabei kaputt. Man sollte begreifen, daß In der Naturwissenschaft heute Konstruktions und nicht Analyseverfahren primär sind. So hat die Musiktheorie nicht einfach nur beschrieben, wie Musik Im allgemeinen analysierbar Ist, sondern hat neue Musik In die Welt gesetzt. Insofern tun die Menschen, die mit Zahlen- und Gleichungssystemen wirbeln auch etwas ähnliches wie Schriftsteller: Sie bauen Welten und oft sehr viel effizientere Welten. Auf der Ebene sollte das Gespräch laufen und nicht auf dieser blöden Alternative zwischen »Wir bauen und ihr zerstört«.

Die Fragen stellten Juri Fischer und Janko Röttgers

Stadtblatt, 23. Mai 1996