Prof. Dr. iur. Michael Walter
Universität zu Köln
Vorsitzender des
Landespräventionsrates NRW

Zur Videoüberwachung an Kriminalitätsbrennpunkten
Sachverständigenanhörung am 16.1.2003 -
I. Änderung der gesetzlichen Grundlagen
Der im Jahre 2000 in das Polizeigesetz von Nordrhein-Westfalen - PolG NRW -
eingefügte § 15 a (Datenerhebung durch den offenen Einsatz optisch-technischer
Mittel) soll in Grenzen erweitert werden (s. den Gesetzentwurf der
Landesregierung [LT-Drucks. 13/2854] und den Gesetzesentwurf der CDU-
Fraktion [LT-Drucks. 13/2280]).

1. Zwischen den beiden vorliegenden Entwürfen besteht zunächst insofern
Einigkeit, als die bisherige Begrenzung der Videoüberwachung oder -
beobachtung (Abs. 1) nicht mehr auf „Straftaten von erheblicher Bedeutung,, (im
Sinne des § 8 Abs. 3 PolG NRW oder der §§ 224, 244 Abs. l Nr. l StGB) beschränkt
sein soll (Streichung des bisherigen Abs. 4 des § 15 a PolG NRW). In der
Begründung des Entwurfs der CDU-Fraktion findet sich dazu der Hinweis, der
Legalitätsgrundsatz verbiete es, bei der Verfolgung von Straftaten „nach deren
Erheblichkeit zu klassifizieren,,. Das ist nicht richtig. Denn mit gutem Grund wird
beispielsweise beim Verfolgungsaufwand zwischen einem schwerwiegenden
Sexualdelikt und einem „einfachen,, Diebstahl sehr wohl unterschieden.
Entsprechend zu differenzieren, ist sogar im Hinblick auf einen optimalen Einsatz
stets begrenzter Ressourcen rechtlich geboten. Zutreffend erscheint jedoch der
Hinweis auf die relativ häufigen, keineswegs nur bagatellartigen Diebstähle oder
Körperverletzungen, deren polizeiliche Beobachtung durch den beabsichtigten
Verzicht auf Delikts-Kataloge generell in die präventiven Überlegungen
einbezogen würden. Gerade diese „Straßenkriminalität,, bereitet vielen Menschen
Sorgen, wobei allerdings unangemessene Angsterzeugung, insbesondere seitens
der Boulevardpresse, zu berücksichtigen ist. Auch ohne nähere Eingrenzung der
Delikte bleibt stets der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
verbindlich, dem zufolge die Gefahren durch Straftaten gegen die Belastungen und
Gefahren durch eine Videoüberwachung abzuwägen sind. In einem Rechtsstaat
kann es keine Kriminalprävention und Strafverfolgung „um jeden Preis,, geben.
Bei aller parteipolitischen Übereinstimmung sei deshalb festgehalten, dass bereits
die geplante Ausweitung der Überwachung auf alle Straftatbestände als sehr
weitreichend und „überwachungsfreundlich,, zu bewerten ist.


2. Deutliche Unterschiede weisen die weiteren Voraussetzungen auf, unter denen
nach geltendem Recht, nach dem Entwurf der Landesregierung und schließlich
nach dem Entwurf der CDU-Fraktion eine Videoüberwachung zulässig ist
beziehungsweise künftig sein soll.

a) Offenbar hat man die bisherige Fassung des § 15 a Abs. l PolG NRW in
einer Weise ausgelegt, die zu einem eigentümlichen Ergebnis führt. Gemäß
dieser noch geltenden Vorschrift kommt eine Videoüberwachung nur an
öffentlich zugänglichen Orten in Betracht, „an denen wiederholt Straftaten
begangen wurden,,. Weil nun der Bielefelder Modellversuch so erfolgreich
gewesen sei, so wird argumentiert, fehle es mit zunehmender Dauer des
Experiments an den vorausgesetzten Straftaten. Dementsprechend würde
die Überwachung mit wachsendem Erfolg schrittweise unzulässig. Nach der
gegenwärtigen Gesetzesfassung ist die Überwachung einer Örtlichkeit
darüber hinaus lediglich gestattet, „solange Tatsachen die Annahme
rechtfertigen, dass dort weitere Straftaten begangen werden,,. Analog der
genannten Argumentation könnte sich das Modell ferner über diese
Prognoseklausel mit steigender kriminalpräventiver Wirksamkeit selbst
unzulässig machen. Die Befürchtung künftiger Straftaten schwände mit
wachsendem Erfolg und entzöge solchermaßen diesem Erfolg wiederum
den Boden. Aus einer derartigen Sicht würde das (noch) geltende Gesetz
letztlich mitschuldig an der Kriminalität, die nach erzwungener
Abschaffung der Überwachung wiederum zu erwarten wäre. Es fällt kaum
schwer, die Logik der genannten Art als unsinnig zu bezeichnen. Aus
hiesiger Sicht ist eine dahingehende Interpretation des Gesetzestextes jedoch
keineswegs zwingend, sondern durchaus vermeidbar.

b) Schon de lege lata erscheint es möglich, eine erfolgreiche Überwachung
.auch kontinuierlich fortzusetzen. Ein entsprechendes Ergebnis kann erzielt
werden, indem man die geforderten rechtlichen Prüfungen unabhängig und
gedanklich losgelöst von der Überwachung, also der in Frage stehenden
Intervention, vornimmt. Das gilt nicht nur hinsichtlich der „wiederholten
Straftaten,, in der Vergangenheit, sondern auch für die vorausgesetzte
Kriminalprognose. Tatsachen müssten die Annahme rechtfertigen, dass ohne
Fortsetzung der Überwachung weitere Straftaten drohen. Freilich wird es im
Verlaufe relativ rascher regional-sozialer Veränderungen zunehmend
schwieriger, aktuelle Tatsachen zu benennen, die auf eine hypothetisch
drohende - durch Überwachung bislang unterbundene - Begehung von
Straftaten hindeuten.

c) Der Gedanke, die Zulässigkeit der Überwachung rechtlich einzuschränken,
verdient nachdrückliche Unterstützung, schon um den Gefahren ubiquitärer
oder flächendeckender Überwachung vorzubeugen. Solche Gefahren
werden bis heute gänzlich unterschätzt, was sich aber nach einem
Bewusstwerden der Missbrauchsmöglichkeiten (zur Problematik s. hinten
II.), schnell ändern könnte. Bei Korrekturen des geltenden Rechts muss stets
darauf geachtet werden, nicht neue Regelungen zu schaffen, die zu weiteren
nachfolgenden Abänderungen nötigen. Diese Gefahr sehe ich in der


zusätzlichen Voraussetzung, dass der öffentlich zugängliche Ort wegen
seiner „Beschaffenheit die Begehung von Straftaten begünstigt,, (§ 15 a PolG
Abs. l n. F. NRW). Im Falle von regionalen Kriminalitätsbelastungen
kommen bekanntlich verschiedene Momente zusammen, die indessen nicht
durchwegs als „Wesenszüge,, eines Ortes qualifizierbar sind (etwa die
temporäre Bevorzugung eines Platzes durch Nichtsesshafte oder durch
gewaltbereite Jugendliche). In einem weiteren Sinne lässt sich jeder
öffentliche Platz einer Innenstadt als Begünstigung von Straftaten begreifen,
weshalb durch eine entsprechende Einschränkung per Saldo kaum etwas
gewonnen wäre. Die knappere Version des CDU-Entwurfs vermeidet die
Formulierungsschwierigkeiten einer real fassbaren Grenzziehung. Er ebnet
zugleich, aber den Weg für eine ungebremste Überwachung, was auch die
Bezugnahme auf „einzelne öffentlich zugängliche Orte,, im Ergebnis nicht
verhindert. Denn es können ja viele einzelne Orte überwacht werden.
Dennoch sollte seitens der Landesregierung keine perfektionistische Lösung
angestrebt werden. Entscheidend erscheint die Verpflichtung zu einer
vergleichsorientierten Interventions-Prognose, welche die Annahme
stützten muss, durch eine Überwachung werde regionalen
Kriminalitätserscheinungen in erheblichem Umfang präventiv
entgegengewirkt, werde mithin ein präventiver Erfolg bewirkt. So bliebe,
anders als nach dem Entwurf der CDU-Fraktion, jede
Überwachungsmaßnahme dieser Art einer empirisch-rationalen Kontrolle
zugänglich. Demgegenüber genügte nach den Vorstellungen des CDU-
Entwurfs schlicht die - allein subjektiv fassbare - Absicht der
Polizeibehörde, Straftaten verhüten zu wollen. Damit entzöge man die
Überwachungsmaßnahmen nicht lediglich einer auf empirischen
Messungen beruhenden Kontrolle, sondern machte Videoüberwachungen
praktisch überall anwendbar, unabhängig vom regionalen
Deliktsaufkommen.

d) Die mit dem neuen Abs. 2 des § 15 a PolG NRW bezweckte Grenzziehung
zur (Bundes-) St PO („gefahr ab wehrende Bildaufzeichnung,,) leuchtet vom
Ansatz her ein. Zu diesem Punkt (Frage Nr. l des Fragenkatalogs) soll hier
nicht näher Stellung genommen werden. Angemerkt sei lediglich, dass der
„Es sei denn - Satz,, mit seiner Verschachtelung sprachlich misslungen
erscheint.

II. Videoüberwachung aus kriminologischer Sicht
1. Wie sensibel mitunter seitens der Bevölkerung auf Veränderungen der
Kriminalitätskontrolle reagiert wird, zeigt die Beobachtung, dass es in Bielefeld bei
der Implementation des Videoschutzes im Ravensberger Park nach den Angaben
von T. Eder 0uni 2001) bereits vor der Inbetriebnahme der Anlage (4 Kameras) zu
einem Deliktsrückgang von ca. 60% gekommen sei. Umgekehrt nutzen sich


Abschreckungseffekte, etwa an Bahnhöfen, die sämtlich überwacht werden, mit
der Zeit ab. Es müssen sowohl Wirkungen der Diskussion und der erklärten
kriminalpolitischen Zielsetzungen, regionale Vorwirkungen von geplanten
Maßnahmen, Wirkungen realisierter Maßnahmen, als eben auch Abnutzungs- und
Verdrängungserscheinungen sowie sonstige Nebenwirkungen in den Blick
genommen werden. Eine Studie, die dem gerecht wird, ist bislang nicht bekannt
geworden.

2. Die meisten Erfahrungen hat man in England gesammelt (CCTV: Ciosed Circuit
Television seit 1985, Rechtsgrundlage für die Gemeinden ist der Criminal Justice
and Public Order Act, Sect.163, zusf. Darstellungen von J.-M. Jehle/M. Gras
(Hrsg.): Öffentliche Videoüberwachung; sowie von A. Kohl: Videoüberwachung
im öffentlichen Raum, 1997). Einerseits wird von einem deutlich
kriminalitätsreduzierenden Einfluss der in den meisten Städten installierten
Anlagen ausgegangen, andererseits ist man der Meinung, dass es sich lediglich um
eine ergänzende Maßnahme handeln kann, im Rahmen einer weiter gefassten
Gesamtstrategie. Die Bedeutung wird vor allem in Folgendem erblickt:

Abschreckung potentieller Straftäter und Störer (durch sichtbare Geräte und
zusätzliche Warntafeln)
Stärkung des Sicherheitsgefühls der Bürger (durch die Präsenz der Geräte
und durch entsprechende Erfolgsmeldungen)
Unterstützung der Polizei bei der Ergreifung eines beobachteten Straftäters
Entsprechende Erhöhung der polizeilichen Aufklärungsquote
Systematische Beobachtung bestimmter krimineller Szenen (Kfz-Diebstahl,
Vandalismus, Terrorismusbekämpfung)
Suche von Delinquenten nach Art von „Aktenzeichen XY-Ungelöst„
Verwendung der Aufzeichnungen als gerichtliche Beweismittel
Der berichtete erhebliche Kriminalitätsrückgang in vielen englischen Städten zu
Beginn der 90er Jahre (teilw. bis zu 50%) ist auf den Einsatz der Anlagen
zurückgeführt worden. Die positive Einschätzung rührt auch aus Vergleichen mit
nicht überwachten Gebieten. Dort wurden aber ebenfalls Kriminalitätsrückgänge
gemeldet, weshalb insoweit keine Anhaltspunkte für Verlagerungen bestanden.
Jüngere Evaluationsstudien von neutralen Stellen beurteilen die Wirkungen der
Videoüberwachung anscheinend wesentlich zurückhaltender. Es gab hauptsächlich
Verringerungen im Bereich von Eigentumsdelikten und im Kontext von
Kräftfahrzeugdelikten, wenig beeinflusst wurden indessen Gewaltdelikte. Auch
konnten in der Folgezeit regionale Verdrängungseffekte aufgezeigt werden. Belege
dafür, dass die objektive Sicherheitslage durch Videoüberwachungen nachhaltig
verbessert worden wäre, fehlen (s.a. T. Weichert: Videoüberwachung im
öffentlichen Raum, 2000).

Kritiker artikulieren die Sorge, dass die Überwachungsinformationen nicht nur
gegen Straftäter verwendet werden (Gefahr des Überwachungsstaats, s. etwa
C.Norris/G. Armstrong i. Bürgerrechte und Polizei/Cilip 61; 3/98, s. berichten u.a.
von der verstärkten Kontrolle gegenüber Schwarzen). Der „englische Weg,, wird
von Insidern dahingehend beschrieben, dass am Anfang die Erkennung


kriminellen Verhaltens stünde, am Ende indessen die Kontrolle des gesamten
Sozialverhaltens ( s. H. Bäumler: Probleme der Videoaufzeichnung und -
Überwachung aus datenschutzrechtlicher Sicht, 1999). So sind etwa Bilder von
Selbstmördern bekannt geworden, die im Kontext der Überwachung fotografiert
worden waren. Die Akzeptanz in der englischen Bevölkerung wird dadurch
gesteigert, dass im öffentlichen Bereich die Polizei die Überwachungen vornimmt
und nicht private Sicherheitsdienste. Freilich ist der Verkauf oder die Vermietung
der Anlagen ein großes Geschäft, das durch öffentliche Gelder (Staat und
Kommunen) zusätzlich gefördert wird. Die Leistungsfähigkeit der Kameras hat
sich immer weiter verbessert. Es bestand in England insofern eine besondere
Situation, als durch den Nordirland-Konflikt die Gefahr von Bombenattentaten
gegeben war. Gerade hier aber konnten mit der Überwachungstechnik einige
spektakuläre Erfolge präsentiert werden. Die Videoüberwachung ist kein Projekt
nur der Konservativen, sie ist insbesondere vom Home-Office (Innenministerium)
unter der Labour-Regierung stark (weiter-)entwickelt worden.

3. Die zentrale Frage der örtlichen und phänomenologischen Kriminalitäts-
Verdrängung, die als immer noch weitgehend ungeklärt betrachtet werden muss,
stellt sich offenbar nicht für alle Delikte in gleicher Weise. Während es bis jetzt bei
bestimmten Formen des Diebstahls kaum entsprechende Belege gibt, sieht das bei
der Betäubungsmittelkriminalität anders aus, wie sich u.a. auch in Deutschland
gezeigt hat, und zwar in einem Leipziger Experiment ebenso wie in
Westerland/Sylt., Eine umfassende Würdigung der Überwachungsstrategien ist
derzeit (noch) nicht möglich. Es fehlen insbesondere Langzeituntersuchungen und
Informationen zum Missbrauch. Gegenwärtig dominieren die positiven
Einschätzungen, die neben spürbaren regionalen Deliktsverringerungen vor allem
eine Stärkung der Sicherheitsgefühle in der Bevölkerung betonen. Doch
unterscheiden Erhebungen, die das Sicherheitsgefühl messen, nicht zwischen
persönlichen Eindrücken und realen Fakten. Erfolgsmeldungen über bessere
Gefühle lassen teilweise sogar tatsächliche Verschlechterungen befürchten, soweit
nämlich nichtprofessionelle Hilfe von Mitmenschen angesichts der ja
allgegenwärtigen Überwachung unterbleibt (vgl. Weichert a.a.O.).

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