[Chaos-Knoten]12. Chaos Communication Congress '95


Email-Emanzipation
gegen Digitale Diskriminierung

von Kerstin Lenz [k.lenz@link-goe.zerberus.de]

In einem einleitenden Vortrag sprach Doris Kretzen mehrere aktuelle weltweite Entwicklungen an: Zunächst zunehmende Bestrebungen von seiten der Regierungen, die Kommunikation auf den elektronischen Datennetzen zu kontrollieren: der Clipperchip, mit dem die US-Regierung die Verschlüsselungscodes für das gesamte Gebiet der USA vorschreiben wollte, ein Versuch, der auch in Europa Parallelen hat; der Communication Decency Act, dessen Durchsetzung mit Hilfe von Scanprogrammen heftig kritisiert wird. So wurden bereits ernsthafte Diskussionen unterbrochen, weil sie ein Wort enthielten, das sich auf dem "Index" befindet (z.B. eine Diskussion über Brustkrebs: breast ist indiziert; ein Forum für Lesben wurde gestrichen, weil das Wort "girl" auf Kinderpornographie hinweise...).

Dann kam die Referentin auf die Darstellung der Datennetze in den Massenmedien zu sprechen, wo ein die Realität verzerrendes Bild gezeichnet wird, indem der Anteil von Pornographie am Datenverkehr und auch das Interesse daran stark übertrieben wird. Artikel wie im Time Magazine, die aufgrund von reißerisch angekündigten (und methodisch fragwürdigen) Studien von einem Anteil von bis zu 83% sprechen, sind ein Beispiel dafür.

Das aktuellste Problem in Deutschland ist allerdings der Entwurf für das neue Telekommunikationsgesetz (TKG), nach dem jeder Systembetreiber für den Inhalt der Dateien, die auf seinem System vorliegen, rechtlich verantwortlich ist. Die neugegründete AG EDV der bayrischen Polizei führt seit diesem Frühjahr regelmäßig Razzien bei Mailboxen durch, weil Verdacht auf Verbreitung von Raubkopien, pornographischen Daten und Werbung für indizierte Spiele bestehe. Trotz vieler solcher Aktionen ist jedoch noch fast keine Anklage erhoben worden. Eine Razzia bei CompuServe hat allerdings zur Schließung einiger betroffener Newsgroups geführt. Um nicht geschlossen zu werden, streichen deshalb viele Mailboxen schon vorsorglich entsprechende Bretter aus ihrem Programm. Diese Haltung wurde von einigen Teilnehmerinnen des Workshops heftig kritisiert: Damit werde eine grundsätzliche Stellungnahme zu Pornographie vermieden. Eine Sysopin dagegen: Die Würde der Frau steht in diesem Fall oft hinter der Angst vor Schließung zurück.

Die Teilnehmerinnen des Workshops standen der Frauenfeindlichkeit in den Datennetzen sehr ruhig gegenüber: Offener Sexismus und dumme Anmache per Mail ist extrem selten, im öffentlichen Bereich könne frau sie leicht ignorieren.

Die angebotenen Bilder sind gelegentlich nur harmlose Zeichnungen (einen erstaunten Lacher wert war die Bemerkung, daß pornographische Bilder offenbar oft auch einfach als internationales Zahlungsmittel für die Weitergabe von Programmen o.ä. dienten), Anmache ist oft nur ein Austesten der Grenzen und wird von den Frauen nicht ernstgenommen. Wo Frauen sich von Männern ungestört unterhalten wollen, ziehen sie sich einfach in Frauenmailboxen zurück - auch ein Grund für die vielbeklagte Abwesenheit der Frauen in der Netzöffentlichkeit. Das so aufgebaute Selbstvertrauen zeigt sich dann in der zunehmenden Zahl von Sysopinnen. Doch auch die Männer scheinen durch das Auftreten von Frauen in den Netzen langsam zu einer Verhaltensänderung bewegt zu werden.

Es bestand ein Konsens unter den Workshopteilnehmerinnen, daß Gesetze sich als stets unzureichend herausgestellt haben. Es gehe auch nicht um eine Entscheidung, ob Zensur ausgeübt werden sollte, sondern eher, wo sie wirklich notwendig sei. Beispielsweise könne frau von den pornographischen Dateien im Netz weitgehend unberührt beliben, da diese immerhin nicht unangefordert auf dem heimischen Computer landen. Besorgsniserregend sei dann schon eher das Vorhandensein von Newgroups, die ausschließlich Bilder verbreiten: Dies fördere eine Illusion von Käuflichkeit und eine nicht erstrebenswerte Konsumhaltung, die bei Foren, in denen auch diskutiert wird, nicht so leicht aufkommen könne.

Damit die anwesenden Frauen dieses Thema auch weiter diskutieren können und in Kontakt bleiben, wurden die e-mail-Adressen der Teilnehmerinnen zusammengestellt. Damit soll eine vor zwei Jahren entstandene Frauen-MailingList wiederbelebt werden, in der Frauen ungestört und dezentral ihre eigenen Themen diskutieren können.

Referentin: Doris Kretzen [dokriz@cube.net]


Michael Rademacher, 28.12.1995