DIE ZEIT Nr.50 - 9. Dezember 1994

Computer für den Frieden

Der Krieg zwischen Serben, Bosniern und Kroaten findet kein Ende. Es gibt Menschen, die trotzdem für ein besseres Danach arbeiten. Elektronische Kommunikation ist ihr wichtigstes Werkzeug.

Von Martin Virtel
Bild: Hollandse Hoogte

Fur Normalbürger ist die Stadt Sarajevo von der Welt abgeschnitten; Uno-Mitarbeiler und westliche Journalisten gehören zu den wenigen Privilegierten, die Kontakt halten. Im Internet-Sarajevo hingegen, Planet ZAMIR-SA, Sonnensystem ZTN, Galaxis ZER.DE, da sind alle so einfach oder so schwierig zu erreichen wie jeder andere Bewohner des globalen Dorfs. Denn in der belagerten bosnischen Hauptstadt hahen Hilfsorganisationen, Friedensaktivisten und Computerfreaks mittlerweile sichergestellt, daß sie zum Ortstarif Anschluß an die Welt bekommen. In ganz Bosnien trotzen mehr als 500 Bewohner des Computerweltraums nicht nur Granaten und Heckenschützen, sondern auch der serbischen Kommunikationssperre.

Das Netz, zu dem sie sich zusammengeschlossen haben, heißt "ZaMir". Es verfügt, drei Jahre nach den ersten Tests mit einem Laptop in Belgrad, über Computer und Telephonanschlüsse in allen Republiken des ehemaligen Jugoslawien.

In den Sprachen der Konfliktparteien, auf kroatisch, serbisch und bosnisch, heißt za mir "für den Frieden". Das Netz entstammt einer Initiative der internationalen Friedensbewegung und ist zu einem zuverlässigen Kommunikationsweg geworden, der den Frieden schon während des Krieges vorbereitet - so hoffen jedenfalls die Betreiber. Unterstützung bekommen sie in Form von Geld und Hardware aus Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden.

"Es ist nicht einfach, Grenzen zu ignorieren, um die Menschen Meter für Meter gekämpft haben. Aber wir schaffen es, gegen dieses Wenn du nicht für uns bist, bist du gegen uns' anzuarbeiten", berichtet einer der Friedensaktivisten aus dem zwischen Serben und Kroaten geteilten Stadtchen Pakrac, wo gerade die ersten ZaMir-Knoten geknüpft werden.

Man kann von Zagreb nicht mehr nach Belgrad und von Belgrad nicht mehr nach Sarajevo telephonieren; aber ein Compuernetz ist auf die direkte Verbindung nicht angewiesen. Mailboxrechner wählen automatisch, zu bestimmten Zeiten, einen anderen Rechner an; Textnachrichten werden so binnen Stunden von Knoten zu Knoten durchs ganze Netz gereicht.

Der zentrale Umschlagpunkt von ZaMir steht aus diesen Gründen in Ostweslfalen, in Bielefeld. Dort findet sich im Keller eines schmucklosen Wohnhauses aus den fünfziger Jahren jene Maschinerie, die in der nichtkommerziellen deutschen Mailboxszene seit Jahren als Bionic-Mailbox und Verwalter der Netz-Domain ZER.DE eine wichtige Rolle spielt: vierzehn lokal vernetzte Personalcomputer mit 2,6 Gigabyte an Texten. Sie rufen die digitalen Botschaften aus Zagreb, Sarajevo, Belgrad, Pristina und Ljubljana im Zweistundenrhythmus telephonisch ab; emsige Software sortiert die Post und überträgt sie beim nächsten Kontakt an die Empfängersysteme. Auch die automatische Umsetzung in ein Telefax ist möglich. (Die Betreiber von Bionic erreicht man unter der Telephonnummer 0521-17 52 54, die Mailbox selbst unter 0521-680 00.)

Das simple, aber billige und effektive Verfahren - bekannt als store and forward, speichern und weiterleiten - ist längst eine Selbstverständlichkeit für Bürgerrechtler und Umweltschützer weltweit. Das gilt auch für Deutschland, wo Mailboxen in der Presse ab und zu als gefährliche Hackerwerkzeuge zur Verbreitung von Computerviren, Raubkopien, Kinderpornos und nationalsozialistischem Gedankengut auftauchen. Das Nützliche ist vielleicht nicht so spektakulär.

Selbst wenn die Kriegsparteien die Verbindungen nicht gekappt hätten - die Kämpfe haben das alte jugoslawische Telephonnetz stark beschädigt, in Bosnien ist der Postdienst unterbrochen, die Presse wird überall gegängelt, und selbst dort, wo die Waffen gerade schweigen, wie zwischen Belgrad und Zagreb, steht der Wiederaufbau von Straßen und Telephonleitungen erst seil Anfang des Jahres zumindest offiziell auf der Tagesordnung. Unternommen wird einstweilen nichts, der Politik wegen.

Zwischen den kroatischen Städten Osijek und Sombor liegen nicht mehr bloß sechzig Autominuten, sondern die "sogenannte Serbische Republik Krajina", wie es im offiziellen kroatischen Sprachgebrauch heißt. Die einstigen Nachbarn sind unendlich weit voneinander entfernt. Als im Herbst dieses Jahres über einen Bildschirm in Sombor die erste ZaMir-Nachrichl aus Osijek lief, war es "wie Weihnachten", erinnert sich ein deutscher Friedenshelfer. "Bitte melde dich", im aufgeräumten Westeuropa gerade Stoff für eine Fernsehshow, ist im zerrissenen Jugoslawien bittere Notwendigkeit. Es funktioniert über ZaMir, das keine Serben, Kroaten oder Kosovo-Albaner kennt, sondern nur User - Menschen eben. Zum Beispiel junge Leute aus allen Balkanrepubliken, die sich diesen Som mer in einem internationalen Ferienlager in Ungarn getroffen haben, organisiert mit Hilfe von ZaMir.

"Die Medien sind benutzt worden, um die Leute gegeneinander aufzuhetzen. Wir bauen hier ein Medium auf, das die Leute zusammenbringt", sagt Eric Bachman, US-Amerikaner und Weltbürger. Er wird von der Stiftung des Wenpapierfursten George Soros für den Aufbau von ZaMir bezahlt. Zur Zeit arbeitet er daran, unabhängige Zeitungen ans Netz anzuschließen.

Um die auseinandergebombte Region zumindest ein wenig zusammenzuflicken, reichen zur Not auch die Maschinen von vorgestern. Bis März war es ein schwachbrüstiger PC mit 386er-Prozessor und geborgter Festplatte, der in Sarajevo tapfer die Verbindung zum Netz aufrechterhielt, über eine brüchige Telephonleitung.

In der bosnischen Hauptstadt, wo man Papier nur unter Schwierigkeiten kaufen kann, gibt es zu ZaMir keine Alternative. "Auch die Hilfsorganisationen brauchen unsere Information. Die treten sich doch jetzt schon auf den Füßen herum", sagt Wam Kal, holländischer Friedensarbeiter und E-Mail-Pionier in Zagreb. Sein englischsprachiges Tagebuch ist ein Lesetip innerhalb der Netzgemeinde; man findet es auch weltweil, etwa in der Konferenz soc.culture.croatia" des Usenet. Guter Wille ohne Information, so Wam Kats Erfahrung, läuft ins Leere: "lch kenne Leute, die im letzten Winter mit Kleiderspenden geheizt haben."

ZaMir ist auch ein ganz gewöhnliches Computernetz mit allen Begleiterscheinungen. Wenn ein notorischer Spielefreund die Nachricht sendet: "Bitte einmal Doom nach Sarajevo schicken", dann kommen prompt Daten für hundert Disketten zu ihm. Wer mit der Welt vernetzt ist, mag auch mitten im Krieg nicht ohne Doom leben, das berüchtigte Ballerspiel mit spritzendem Blut und Stereostöhnen über die Soundkarte.

Gewaltige 150Megabyte-Übertragungen wie "einmal Doom" zwingen die ZaMir-Infrastruktur in die Knie, aber sie bleiben doch Ausnahmen in dem Netz, das es vehement ablehnt, den Usern beim Austausch privater Daten auf die Finger zu schauen. Die verwendete Software, das Mailbox-Programm Zerberus, kommt aus Deutschland und ist dementsprechend penibel: Alle Texte, die nicht ausdrücklich öffentlich sind, werden verschlüsselt übertragen und gespeichert und sind nur für den Empfänger lesbar.

Ein Szeneliebling wie Doom macht eben vor Bosnien-Herzegowina, Serbien und Kroatien nicht halt, wieso auch? "Zagreb", schreibt Wam Kat in seinem Tagebuch vom 11. November, "ist sichtlich auf dem Weg, eine moderne westeuropäische Stadt zu werden. Ein untrügliches Zeichen ist das Auftauchen der ersten bolivianischen Folkloregruppe im Stadtzentrum."