Von Christiane Schulzki-Haddouti
Bielefeld - Der gläserne Mensch, überwacht von einem totalitären System: Dieses Schreckenszenario malte George Orwell vor gut 50 Jahren in seinem Science-Fiction-Klassiker "1984". Seine Visionen sind bislang zwar nicht Wirklichkeit geworden, aber Tendenzen in diese Richtung gibt es schon.
Diese werden mit dem berühmt-berüchtigten Big-Brother-Preis "geahndet", der im kommenden Jahr auch in Deutschland verliehen werden soll. Der Preis geht an Behörden, Personen und Organisationen, die in besonderer Weise die Sicherung der Privatsphäre aushöhlen und "uns eine Zukunft als gläserne Menschen bescheren wollen".
Erstmals wurde der Big-Brother-Preis vor einem Jahr von der britischen Bürgerrechtsorganisation Privacy International anlässlich des fünfzigsten Jahrestages von Orwells "1984" verliehen. Die Geehrten erhalten von Privacy International die sogenannte Winston-Statue, die einen Stiefel auf einem menschlichen Kopf zeigt. Winston ist in Orwells Roman die Person, die gegen den Überwachungsstaat aufbegehrt, jedoch erbarmungslos unterdrückt wird.
Der Preis für das "Lebenswerk" ging im vergangenen Jahr an die Betreiber der Überwachungsanlage Menwith Hill in Großbritannien, einer der Hauptstationen des weltweiten Abhörsystems Echelon. Echelon wird federführend von der National Security Agency (NSA) betrieben. Ein Jahr später ist das Überwachungssystem Echelon in aller Munde. Regierungsstellen hatten seine Existenz zuvor geleugnet. Inzwischen hat Australien sich dazu geäußert und im US-Kongress steht eine Untersuchung vor der Tür.
Mitte Oktober wurde der Preis nun zum zweiten Mal in Großbritannien vergeben. Simon Davies, Initiator des Preises und Leiter von Privacy International, berichtete auf der diesjährigen Veranstaltung, dass die Gewinner des letzten Jahres kaum auf die Auszeichnung reagiert hatten - höchstens mit dem Ausbau der PR-Abteilung.
Den Hauptpreis erhielt wie bereits im Vorjahr das britische Innenministerium: Diesmal für den "Interception of Communications Act", der die lückenlose gesetzliche Überwachung des Internet ermöglicht, sowie für den kontinuierlichen Aufbau von Überwachungskameras im öffentlichen Raum.
Als positive Gewinner wurden in diesem Jahr unter anderem der britische Journalist Duncan Campell für seine Arbeiten über das Überwachungssystem Echelon sowie Tony Bunyan für sein jahrelanges Engagement für die Bürgerrechtsgruppe "Statewatch" ausgezeichnet.
Zum ersten Mal wurde in diesem Jahr auch in Österreich der Big-Brother-Preis verliehen. Die österreichische Jury bestand aus mehreren Organisationen, die sich dem Schutz personenbezogener Daten verschrieben haben, wie etwa die Österreichische Gesellschaft für Datenschutz (www.ad.or.at/office) und der Verein zur Wiederherstellung der Bürgerrechte im Informationszeitalter (www.quintessenz.at).
Den Hauptpreis erhielt der österreichische Innenminister Karl Schlögl für sein "Lebenswerk." In der Kategorie Politik erhielten alle österreichischen Europaparlamentarier den Preis, die im Mai diesen Jahres für die Enfopol-Pläne gestimmt hatten. Diese sehen den grenzüberschreitenden Zugriff auf den Telekommunikations- und Internetverkehr vor.
In der Kategorie "Volkswahl" stimmte die Internet-Gemeinde für eine Auszeichnung von Microsoft Österreich. Der amerikanische Software-Hersteller wurde für eine Umfrage ausgezeichnet, die er bei der österreichischen Unternehmensberatung G3 in Auftrag gegeben hatte. Dabei hatte G3 massenhaft E-Mails an österreichische Linux-User geschickt, deren Adressen sie dem Linux-Counter (counter.li.org) entnommen hatte, der die Nutzung der Mailadressen für Massensendungen ausdrücklich verbietet.
Der Bielefelder Verein für sozialverträgliche Technikgestaltung FoeBuD (www.foebud.org) will nun im nächsten Frühjahr den Big-Brother-Preis auch nach Deutschland holen. Die in der deutschen Internet- und Mailboxszene bekannten Netzkünstler Padeluun und Rena Tangens kündigten für den Verein an, die Verleihung in Kooperation mit anderen Organisationen organisieren zu wollen.
Bislang wollte sich keiner der alternativen Informatik- und Datenschutzvereine wegen akuter Arbeitsbelastung die Organisation aufhalsen. Die Bielefelder Netzaktivisten zeigen sich jedoch jetzt entschlossen: "Wir machen das!". Thilo Weichert, Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Datenschutz DVD (www.datenschutzverein.de) sagte eine Beteiligung bereits zu. Eventuell werden sich auch das Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FifF) sowie der Chaos Computer Club (CCC) der Big-Brother-Aktion in Deutschland anschließen.
Berliner Morgenpost, 03. November 1999