Von Sigrun Müller-Gerbes
Die vor dem Haus geparkte Rostlaube bringt Ihnen einen Punktabzug. Ebenso die Tatsache, dass Sie jüngst drei Mal umgezogen sind. Immerhin ist aber noch nie einer Ihrer Kredite geplatzt. In Ihrer Nachbarschaft sind die Vorgärten gepflegt, der Ausländeranteil liegt niedrig - noch ein paar Punkte dazu. Allerdings sind Sie mit 32 Jahren noch recht jung, das spricht gegen Solidität. Alles in allem: Sagen wir 412 Punkte. Glück gehabt. Das reicht für den Ratenzahlungskredit.
Eine nackte Zahl, errechnet aus unzähligen Daten unterschiedlicher Quellen, entscheidet heutzutage über Kreditwürdigkeit, Versicherungsbeiträge oder Sondertarife beim Handy-Anbieter. "Score" heißt diese Kennziffer für Individuen, die Auskunfteien wie Schufa oder Informa ihren Auftraggebern vor allem aus der Finanzbranche mitteilen. Das "mathematisch-statistische Analyseverfahren" gibt laut Schufa-Eigenwerbung verlässlich Auskunft darüber, "wie hoch das Risiko ist, dass ein Kunde nicht vereinbarungsgemäß zahlt".
Datenschützer sehen dieses Verfahren kritisch. Thilo Weichert etwa, stellvertretender Leiter der Landesdatenschutzbehörde in Schleswig-Holstein, hält es für "hoch problematisch, dass ein rein statistischer Schätzwert über derart weit reichende persönliche Dinge entscheidet wie einen Versicherungsvertrag".
Mit der alten Schufa-Auskunft, die Banken über eidesstattliche Versicherungen, Mahnbescheide oder Gehaltspfändungen informiert, hat der Score - übersetzt: Punktestand - kaum noch zu tun. In ihn fließen Informationen ein, über die der Betroffene nur noch begrenzt Kontrolle hat. Bei Informa beispielsweise aus riesigen Datenbeständen über Häuser, zusammengetragen von Leuten, die im Auftrag der Firma durch Städte ziehen und akribisch den Zustand und das Umfeld einzelner Gebäude notieren. 19 Millionen Objekte wurden auf diese Weise bereits bewertet.
Herangezogen werden auch so genannte "Lifestyle-Daten", die bei Gewinnspielen abfallen: Wie stehts mit der Urlaubsplanung? Dem Einkaufsverhalten? Der Spendenbereitschaft? Wer sich an derartigen Umfragen nicht beteiligt, wird trotzdem "gescored" - genügend andere Mitbürger aus ähnlichem Milieu haben längst mitgemacht, die Daten werden schon passen.
Im Grunde vollautomatisch, so befürchtet Datenschützer Weichert, wird aus solchen Informationen ein Score errechnet, der ebenso automatisch über Geschäftsabschlüsse entscheidet. Das wäre ein klarer Verstoß gegen das Bundesdatenschutzgesetz, das "automatisierte Einzelentscheidungen" per Computer ausdrücklich verbietet, wenn sie für die Betroffenen zu Nachteilen führen könnten. Nur: "Wir haben Probleme, das im Einzelfall nachzuweisen". Denn Telekommunikationsfirmen, Assekuranz-Konzerne oder Versandhandelsketten versichern regelmäßig, der Scorewert sei schließlich nur ein Kriterium bei der Entscheidung, ob ein Kunde akzeptiert oder abgelehnt werde.
Weichert weiß von Fällen, die derartige Beteuerungen Lügen strafen. Da habe beispielsweise ein Versandhändler nur nach Vorauszahlung liefern wollen, weil der Kunde in der Nähe eines Gefängnisses wohnt, was den Scorewert drückte. Oder beim Online-Einkauf öffnen sich, sobald der Kunde seine Adresse einträgt, unterschiedliche Fenster mit Zahlungsoptionen. "Hamburg St. Georg nur per Nachnahme, ins feine Blankenese selbstverständlich auch auf Rechnung", wie Rena Tangens von der Bielefelder Datenschutzinitiative Foebud berichtet. Unter anderem solche Entdeckungen haben die Gruppe bewogen, ihren jährlichen Negativ-Preis für Datenmissbrauch, den "Big-Brother-Award", an Informa zu verleihen.
Dabei versichert Informa, mit ihren Scores könne derlei eigentlich nicht passieren: "Wir verpflichten unsere Kunden vertraglich, dass keinem Verbraucher nur aufgrund eines schlechten Scorewertes irgendein Vertrag verweigert oder gekündigt werden darf", lässt Geschäftsführer Wolfgang Hübner mitteilen. Ob das in der Praxis tatsächlich der Fall ist, entzieht sich jedoch der Kontrolle.
Ausgesprochen kritisch sieht auch der Bundesverband Verbraucherschutz das Scoring. Es sei eine "ganz ganz gefährliche Entwicklung", dass hier die Einzelfallprüfung immer weiter an Gewicht verliere, meint Finanzexperte Manfred Westphal. Immer wieder melden sich bei den Konsumentenschützern Menschen mit dem Verdacht, ein Kredit sei ihnen nur aufgrund des schlechten Scores versagt worden - beweisen lässt sich das aber kaum. Westphal greift vor allem die mangelnde Transparenz des Verfahrens an. Kein Betroffener wisse, welche Daten jeweils in den persönlichen Score einflößen, kritisiert er.
In der Tat halten sich die Auskunfteien hier außerordentlich bedeckt. Die Schufa hat Datenschützer in der Vergangenheit regelmäßig damit abgewimmelt, ihr Scoring-Verfahren ändere sich ohnehin ständig. Und Informa bittet um "Verständnis dafür, dass wir Ihnen aus Wettbewerbsgründen nicht die Daten nennen können, die in unseren Scoring-Verfahren eingesetzt werden".
Wer bei einer der Auskunfteien den eigenen Score-Wert erfragen will, hat ebenfalls schlechte Karten. Denn die Unternehmen berufen sich darauf, dass die Kennziffern keine persönlichen Daten, sondern lediglich statistische Näherungswerte seien, über die keine Auskunft erteilt werden müsse. Außerdem, so heißt es bei der Schufa, könne ein einmal errechneter Score "bereits am nächsten Tag überholt sein", und werde deshalb auch nicht gespeichert.
Folgen hat die Bitte um Selbstauskunft dennoch: Sie führt zumindest bei der Schufa zu Punktabzug beim persönlichen Score, so der Informationsstand der Datenschützer. Weichert hält das für eine "absolute Unverschämtheit" und kämpft gemeinsam mit seinen Kollegen aus anderen Bundesländern gegen diese Praxis. Bereits vor etwa einem Jahr habe die Schufa daraufhin versprochen, dieses Detail zu ändern - "darauf warten wir bis heute".
Weichert vermutet, dass sogar die Schufa selbst von der Rechtmäßigkeit des Scoring nicht völlig überzeugt ist. Das zumindest schließt er aus einem Anerkenntnisurteil, das Mitte des Jahres im Hamburg erging. Ein Verbraucher hatte dagegen geklagt, dass sein persönlicher Scorewert an eine Bank weitergegeben wurde. Noch bevor das Gericht darüber abschließend urteilen konnte, akzeptierte die Schufa den Anspruch des Klägers - um zu verhindern, dass das Verfahren grundsätzlich für rechtswidrig erklärt worden wäre, meint Weichert. [ document info ]
Frankfurter Rundschau, 21. November 2001