Datenschützer warnen davor, dass Handelskonzerne das Einkaufsverhalten ihrer Kunden erfassen und sie beim nächsten Einkauf mit gezielten Werbebotschaften manipulieren. Sie zeichneten daher den Metro-Konzern, der die dafür erforderliche Technik testet, mit dem Big-Brother-Award aus. Zu den preisgekrönten "Datenkraken" zählen auch die GEZ, die Post und diverse Regierungen.
VON TORSTEN KLEINZ
Bielefeld · 26. Oktober · Negativ-Preise nimmt niemand gerne entgegen. Das gilt auch für den Big-Brother-Award. Zwar waren Vertreter von vielen Bürgerrechts- und Datenschutz-Organisationen gekommen - die Preisträger glänzten am Freitag in Bielefeld jedoch komplett durch Abwesenheit. Der Berliner Innensenator Ehrhart Körting ließ sich entschuldigen, dass die Fahrt der klammen Landeskasse nicht zuzumuten sei. Selbst ein kostenloses Ticket erster Klasse konnte ihn nicht umstimmen. Stattdessen übernahm der Netzkünstler padeluun die Aufgabe, Dankesreden zu halten - im Stile eines Kabarettisten und daher garantiert nicht im Sinne der Ausgezeichneten. In der Rolle eines Berliner Gesetzeshüters verkündete er lautstark: "Worüber Sie heute jammern, das ist schon morgen Gesetz."
Körting hatte sich in den Augen der Jury den Preis verdient, weil er den Einsatz der so genannten "stillen SMS" in Berlin rechtfertigte, obwohl es dafür keine Rechtsgrundlage gibt. Mit dieser Überwachungstechnik kann jedes eingeschaltete Handy auf bis zu 50 Meter genau geortet werden. Ein so tiefer Eingriff in das Telekommunikationsgeheimnis braucht nach Auffassung der Datenschützer genaue gesetzliche Regelungen. Die Berliner Behörden störten sich nicht daran.
Berlin stand nicht alleine am Pranger: Gleich vier Landesregierungen mussten sich den Preis im Bereich "Politik" teilen. Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen sind nach Meinung der Datenschützer mit der Verschärfung ihrer Polizeigesetze zur Terrorismusbekämpfung weit über das Ziel hinausgeschossen. Thüringen hat bereits mit der präventiven Telekommunikations-Überwachung begonnen. Mit diesem Gesetz können nicht nur Verdächtige abgehört werden, sondern auch "vorverdächtige Personen", wie Laudator Rolf Gössner von der Internationalen Liga für Menschenrechte erklärte. Die richterliche Überwachung hält er für unzureichend: Schon jetzt gehört Deutschland zu den Spitzenreitern beim Abhören. Bayern testet Systeme zur automatischen Erfassung von Autos. Jeder Wagen werde registriert, die Daten abgeglichen. Die Technik soll nicht nur eingesetzt werden, um gestohlene Autos zu finden. Bayern plane so auch, bekannte "Störer" von Demonstrationen fern zu halten. Solche Maßnahmen greifen nach Meinung der Jury tief in die rechtsstaatlichen Errungenschaften ein: Die Unschuldsvermutung werde faktisch abgeschafft.
In der Kategorie Verbraucherschutz bekam die Metro den Preis für ihr Projekt "Future Store". Der Handelskonzern hat einen Supermarkt in Rheinsberg bei Duisburg mit der neusten Technik ausgestattet, um den Kunden das Einkaufserlebnis von morgen zu vermitteln. Doch die vielen "Einkaufshilfen" sind für Datenschützer ein Albtraum. Besonders die RFID-Technik, die die Strichcodes auf den Verpackungen durch Chips ersetzt, weckt böse Ahnungen: Mit dieser Technik lassen sich Informationen über das Einkaufsverhalten von Kunden speichern und beim nächsten Besuch gezielt zu Werbezwecken einsetzen. Die Jury fürchtet eine neue Qualität von "Konsumterror". Die Laudatoren Rena Tangens und Frank Rosengart entwarfen eine Vision, die nur wenig mit den Werbeversprechen gemein hat. Wenn sich die Technik einmal durchgesetzt habe, könne sie ebenso gut zur Überwachung von Beschäftigten dienen oder auch zu höheren Preisen führen.
Mit der US-Regierung erhielt zum ersten Mal eine ausländische Institution den deutschen Big-Brother-Award. Grund ist der erzwungene Datentransfer von europäischen Fluglinien an die US-Behörden. Wenn eine Fluglinie den Zugriff auf Passagierdaten verweigert, bekommt sie in den USA keine Landeerlaubnis mehr. Die Jury bezeichnet dieses Vorgehen als "Nötigung" und Eingriff in die staatliche Souveränität.
Mit den Arbeitsverträgen einer Tochtergesellschaft hat sich die Deutsche Post als Datenkrake qualifiziert. Geringfügig Beschäftigte mussten sich darin verpflichten, ihren Arzt von der ärztlichen Schweigepflicht zu entbinden. Die Datenschützer halten das für "unverschämt und unangemessen". Das Ex-Schwesterunternehmen T-Online bekam auch sein Fett weg: Die Jury bemängelte, dass dort entgegen der geltenden Gesetze sämtliche Kundendaten über 80 Tage gespeichert werden.
Spontanen Applaus gab es, als die Rundfunkgebühren-Einzugszentrale GEZ für "ihr Lebenswerk" ausgezeichnet wurde: den "unermüdlichen Einsatz bei der bedingungslosen Ermittlung von Schwarzseherinnen und Schwarzhörern", wie Thilo Weichert von der Deutschen Vereinigung für Datenschutz ausführte.
Die GEZ beziehe Daten von fragwürdigen Quellen und spiegele den Bürgern falsche Tatsachen vor, um an ihre Daten zu kommen. Besonders übel stieß dem Datenschützer auf, dass sich die GEZ über das Medienprivileg einer umfassenden Kontrolle entzieht. Doch das Datensammeln habe rein gar nichts mit freier Berichterstattung zu tun, so Weichert.
Die Organisation des Big-Brother-Awards ruht auf schmalen Schultern. Zwar beteiligen sich viele Vereine und Bürgerrechtsgruppen an der Kür, doch ihre Mittel sind beschränkt. Immerhin, die Heinrich-Böll-Stiftung konnte als Sponsorin gewonnen werden. Doch die finanzielle Unterstützung reicht gerade für die Preisverleihungs- Zeremonie. Die langwierige Arbeit der Jury ist ehrenamtlich. Organisatorin Rena Tangens suchte auch staatliche Hilfe. Fehlanzeige: Wirtschaftsministerium, Verbraucherministerium und die Bundeszentrale für politische Bildung sagten ab. Kein Wunder: Staatliche Stellen gehören seit jeher zu den neugierigsten Datenkraken ? und bekommen dafür fast jedes Jahr den Big-Brother-Award.
Frankfurter Rundschau, 2003
Original: http://www.frankfurterrundschau.de/ressorts/wissen/netzwerk/?cnt=328607