Mit Sicherheit kein gutes Gefühl

Anonymität im Internet - Schutz der Daten: Die deutschen Big Brother Awards 2003 wurden vergeben. Die Preise werden für gravierende Eingriffe in den Datenschutz an Politik und Wirtschaft verliehen.

Es kommt nicht alle Tage vor, dass Preisredner in ihrer Laudatio die Ausgezeichneten für ihr Verhalten rügen. Am 24. Oktober 2003 war es wieder so weit. In Bielefeld wurden die vierten deutschen Big Brother Awards verliehen. Eine unabhängige Jury aus Datenschutz- und Bürgerrechtsverbänden zeichnete Politiker und Wirtschaftsunternehmen in insgesamt sieben Preiskategorien für gravierende Eingriffe in den Datenschutz aus.

In der Kategorie _Politik_ wurden die Regierungen und Innenminister der Bundesländer Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen mit dem Big Brother Award bedacht. Ihr Vorhaben, den Telekommunikationsverkehr ihrer Bürger ohne begründeten Anfangsverdacht zu überwachen, habe drastische Einschnitte in elementare Grund- und Freiheitsrechte zur Folge. Bedroht seien insbesondere das Brief- und Fernmeldegeheimnis, aber auch die Pressefreiheit und das informelle Selbstbestimmungsrecht der Bürger. Die präventive Überwachung des Telefon- und E-Mailverkehrs schließe dabei die Speicherung der Verbindungsdaten mit ein. In seiner Laudatio bezeichnete Dr. Rolf Gössner von der Internationalen Liga für Menschenrechte das Maßnahmenpaket der Länder als _unverhältnismäßig, uferlos und kaum kontrollierbar._

Das Verhältnis von vollziehender und gesetzgebender Gewalt beschäftigte die Juroren auch im Fall des Innensenators des Landes Berlin, Dr. Ehrhart Körting. Dieser hatte den Einsatz von _stillen SMS_ durch die Berliner Polizei auf besonders fragwürdige Weise legitimiert. Das sogenannte _Pingen_ ermöglicht die Ortung von Verdächtigen durch die Verschickung von SMS. Ob ein solches Vorgehen durch geltendes Recht abgesichert ist, stellen die Datenschützer in Frage. Nach gängiger Lesart schütze das Grundgesetz nicht nur die unmittelbare Kommunikation, sondern auch die Kommunikationsbereitschaft. Diese aber sei durch das Vorgehen der Berliner Polizei verletzt worden.

Dass Datenschutz und Bürgerrechte seit den terroristischen Anschlägen des 11. Septembers unter Anrufung sicherheitspolitischer Gefahren beschnitten werden, darauf haben Experten und Datenschützer wiederholt hingewiesen. Die umstrittene Verschärfung der Landespolizeigesetze in Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen etwa erfolge _im Windschatten der Terrorismusbekämpfung_, wie Dr. Rolf Gössner in seiner Laudatio bemerkte. Gefährdet scheint dieser Tage daher auch die Sicherheit des Datenschutzes. Das ganze Ausmaß einer solchen _Bedrohung durch Sicherheit_ tritt offen zu Tage, wenn der Internet-Service-Provider _T-Online_ das neue Sicherheitsparadigma heranziehen kann, um die datenschutzwidrige Vorratsspeicherung von Verbindungsdaten mit der Verfolgung möglicher Mißbrauchsfälle durch Hacker und die Streuung von Internetviren zu legitimieren.

Mit der rechtswidrigen Speicherung von IP-Adressen verdiente sich _T-Online_ den Big Brother Award in der Kategorie _Kommunikation_. Als rechtlich prekär erweise sich hierbei, dass die Polizei und andere staatliche Bedarfsträger zum Zwecke der Verbrechensbekämpfung auf die gespeicherten Daten von _T-Online_ zurückgreiffen konnten. _T-Online_ habe die Datenschützer wissen lassen, dass die zuständige Datenschutzbehörde, das Regierungspräsidium Darmstadt, der unzulässigen Datenspeicherung ihren behördlichen Segen erteilt habe.

Die Speicherung personenbezogener Daten, das wird an diesem Abend deutlich, zwingt den Datenschutz zum Rückzug. Bei der Gebühreneinzugszentrale (GEZ), dem Preisträger in der Kategorie _Lifetime Award_, habe die umstrittene Vorratsdatenspeicherung nach Einschätzung von Dr. Thilo Weichert, dem Vorsitzenden der Deutschen Vereinigung für Datenschutz e.V., _praktisch zur Errichtung eines zentralen Bundesmelderegisters_ geführt. Auch in diesem Fall werde gegen den verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitgrundsatz verstoßen. Weichert prangerte zudem an, dass sich die GEZ systematisch Daten aus mitunter fragwürdigen Quellen beschaffe und sich einer umfassenden und unabhängigen Datenschutzkontrolle, wie sie von der Europäischen Datenschutzrichtlinie vorgeschrieben wird, entziehe.

Dass in Deutschland ein Big Brother Award für gravierende Datenschutzverletzungen verliehen werden müsse, gesteht Dr. Thilo Weichert, habe er bis vor wenigen Jahren selbst nicht geglaubt. In den wenigen Jahren, in denen er seine Beurteilung der datenrechtlichen Lage in Deutschland überdachte, ist der Verfall des Datenschutzes und des Fernmeldegesetzes soweit vorangeschritten, dass der ehemalige Verfassungsrichter Jürgen Kühling im _Grundrechte-Report 2003_ bereits den _Totalverlust_ des Brief- und Fernmeldegeheimnisses beklagte.

Der Big Brother Award will dazu beitragen, gravierende Datenschutzverletzungen öffentlich zu machen und die Verbraucher zu einem sorgsamen Umgang mit vertraulichen Daten anzuhalten. Dies gilt insbesondere für die Nutzung des Internet. Das vorherrschende Thema der diesjährigen Big Brother Awards, die Problematik einer Langzeitspeicherung personenbezogener Daten, wird die Datenschützer über den Winter hinaus begleiten. Experten rechnen damit, dass die Novellierung des Telekommunikationsgesetzes, die für das Frühjahr 2004 erwartet wird, unter anderem die Einführung der Vorratsdatenspeicherung vorsieht. Die elektronischen Spuren, die Internet- und Mobilfunknutzer unfreiwillig hinterlassen, würden dann noch umfangreicher nutztbar.

Ausgezeichnet wurden mit dem Big Brother Award 2003 zudem die Regierung der USA, die _Metro AG_ und _ wie bereits im Vorjahr _ die _Deutsche Post AG. Die Preisträger des Big Brother Awards 2003 im Überblick:
Kategorie _Arbeitswelt_: Die _Deutsche Post-Shop GmbH_
Kategorie _Politik_: Bundesländer Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Thüringen
Kategorie _Verbraucherschutz_: _Future Store Initiative, Metro AG_
Kategorie _Lifetime-Award_: Gebühreneinzugszentrale (GEZ)
Kategorie _Regional_: Der Innensenator von Berlin, Dr. Erhart Körting
Kategorie _Behörden_: Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika
Kategorie _Kommunikation_: _T-Online AG_

Politik Digital, 29. Oktober 2003
Original: http://www.politik-digital.de/econsumer/datenschutz/bigbrother03.shtml