Von Fiete Stegers
Bundesinnenminister Otto Schily bekam von Datenschützern und Bürgerrechtlern den Hauptpreis der "Big Brother Awards" verliehen - für seine "Verdienste" beim "Abbau von Bürgerrechten" unter dem "Deckmantel der Terrorismusbekämpfung".
Die Big Brother Awards, benannt nach der übermächtigen Überwacher-Figur in George Orwells düsterer Vision des Überwachungsstaats ("1984"), werden an Firmen, Institutionen und Organisationen verliehen, die die Privatsphäre von Menschen nachhaltig beeinträchtigen. Das sei dem Bundesinnenminister auf ganzer Linie gelungen, befand die Jury: "Unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung treten Sie für den Abbau von Bürgerrechten, Datenschutz und Informationeller Selbstbestimmung ein."
Schily diffamiere Datenschutz als Täterschutz und weite die Befugnisse der Ermittlungsbehörden ohne Rücksicht auf Bürgerrechte aus, begründete die Jury ihre Entscheidung weiter. Dabei war für die Jury nicht erst die Maßnahmen des "Otto-Katalogs" nach dem 11. September ausschlaggebend. "Schily hatte sich schon vorher überqualifiziert", sagt Netzkünstlerin Rena Tangens, die den Bielefelder FoeBud e. V. in der Jury vertrat. "Die augenblickliche Situation zeigt: Es ist notwendiger denn je, auf Datenschutzfragen aufmerksam zu machen."
Dass die warnenden Big Brother Awards untergingen, weil derzeit Antiterrormaßnahmen gefragt seien, fürchtet Rena Tangens nicht: "Ich bin froh, dass die Preisverleihung nicht am 12. September oder in der Woche danach war. Aber jetzt kommt der Big Brother Award zum optimalen Zeitpunkt. Bürgerrechte dürfen nicht nur bei Schönwetter hochgehalten werden." Der Big Brother Award in der Kategorie "Telekommunikation" ging an Schilys Kabinettskollegen Werner Müller (parteilos). Das von ihm geleitete Bundeswirtschaftsministerium sei maßgeblich am Entwurf der neuen Telekommunikations-Überwachungsverordnung (TKÜV) beteiligt gewesen, begründete die Jury ihre Entscheidung.
Die in der vergangenen Woche vom Bundeskabinett beschlossene TKÜV erlaubt Sicherheitsbehörden das Mitlesen von E-Mail- und SMS-Kommunikation. Provider und Netzbetreiber müssen mit den Behörden zusammenarbeiten und entsprechende Daten speichern.
Neben den prominenten Preisträgern aus der Politik wurden drei Unternehmen mit der Negativ-Trophäe ausgezeichnet. ProtectCom stellt ein Programm her, mit der etwa Betreiber von Firmennetzwerken die Computernutzung ihrer Mitarbeiter komplett überwachen können. Damit können nicht nur E-Mails gelesen und Seitenabrufe im Internet nachvollzogen werden, sondern sogar sämtliche Tastatureingaben auf verdächtige Buchstabenkombinationen überwacht werden. Rena Tangens: "Dann kann auch beim Stichwort 'Betriebsrat' die Alarmglocke läuten." Diese Kommunikationsüberwachung sei schlichtweg illegal, urteilte die Jury.
RealNetworks vertreibt den Internet-Musikspieler "RealPlayer". Die Software ist für Kunden kostenlos. Dafür protokolliert sie jedoch Nutzungsverhalten und Vorlieben der Nutzer und leitet die Daten an den Hersteller weiter.
Das undurchsichtige Sammeln von Kundendaten durch die Informa-Unternehmensberatung war für die Jury ebenfalls preiswürdig. Mit ihrem so genannten Scoring-Verfahren erstellt das Unternehmen Profile von Verbrauchern und stellt diese beispielsweise Webshops zur Verfügung, die damit die Kreditwürdigkeit von Kunden beurteilen: Wer in einem schlechten Viertel wohnt, darf nur per Nachnahme zahlen. Für die Verbraucher sei das Scoring jedoch vollkommen undurchsichtig, kritisierte das Big-Brother-Awards-Gremium.
Zur Preisverleihung in Bielefeld erschien am Freitag keiner der Preisträger. Trotz lockender Trophäe: eine mit Bleiband gefesselte Figur, die von einer Glasscheibe durchtrennt wird, auf der in hexadezimalem Code eine Passage aus Aldous Huxleys "Schöne Neue Welt" zu lesen ist.
Dennoch glaubt der Veranstalterkreis aus FoeBud e. V., dem Chaos-Computer-Club, der Deutsche Vereinigung für Datenschutz, dem Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung und dem Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft an die Wirkung an die Wirkung des Preises.
Einer der im vergangenen Jahr erstmals verliehen deutschen Big Brother Awards ging an die Firma Loyalty Partners, Betreiber des Rabatt-Kartensystems "Payback". Deren Umgang mit Kundendaten sei anschließend intensiv in den Medien diskutiert worden, verbucht Rena Tangens als Erfolg der Preisverleihung: "Die Firmenleitung hat uns zu einem Gespräch eingeladen, bei dem wir unsere Kritik deutlich gemacht haben."
Nachdem ein Münchener Gericht die Geschäftsordnung des Unternehmens für unzulässig erklärt habe, sei diese inzwischen geändert worden. Allerdings räumt Jury-Mitglied Tangens auch ein, dass andere Preisträger wie die Deutsche Bahn (Video-Überwachung auf Bahnhöfen) und der Freemail-Betreiber GMX (Sicherheitslücken) den Preis offenbar schlicht ignoriert hätten.
Die aus Großbritannien stammenden Big Brother Awards werden auch in Österreich, den Vereinigten Staaten und der Schweiz verliehen. Initiativen in Spanien, Frankreich, Ungarn, Dänemark und Ungarn wollen folgen. Auch über eine Preisverleihung auf europäischer Ebene würden bereits Gespräche geführt, so Rena Tangens.
Spiegel Online, 29. Oktober 2001