Abgebaut

Gestern tat sich so einiges. Während draußen auf dem Weimarer Goetheplatz per Feuerwehrleiter die Überwachungskameras heruntergeholt wurden, diskutierten drinnen im Kulturzentrum "mon ami" Bürger der Stadt die Konsequenzen des ominösen Pilotversuches. Unterdessen bekam der Thüringer Innenminister in Bielefeld einen peinlichen Preis zugedacht.

Die Feuerwehr in Rositz erhielt gestern endlich Geld für ihr Gerätehaus. Der Innenminister von der CDU höchstselbst war ins Altenburger Land gefahren, um den Scheck zu übergeben.

Deshalb, so hart ist das Politikerleben, konnte Andreas Trautvetter gestern nicht im "mon ami" sitzen und die Weimarer an seinen Ansichten zur Diskussion über "Big Brother in Weimar? Videoüberwachung zwischen Sicherheitsbedürfnis und Grundrechtsverletzung" teilhaben lassen.

Gleichsam stellvertretend fuhr dafür pünktlich zu Beginn des Forums der "Thüringer Allgemeine" vor dem Haus eine Feuerwehr-Leiter aus, auf der ein paar Männer nach oben kletterten und die Kamera abmontierten. Das Innenministerium verbreitete parallel dazu eine Erklärung, wonach alle fünf Videogeräte - auf dem Goetheplatz und auf dem Theaterplatz - abgebaut würden. Um 16 Uhr, gut vier Tage nach seiner Eröffnung, war das seit über einem Jahr vorbereitete Thüringer Pilotprojekt zur Videoüberwachung öffentlicher Plätze beendet.

Dabei hatte der Minister noch tags zuvor im Innenausschuss gesagt, dass erst nach einer Prüfung, die bis nächste Woche dauere, die Kameras abgeschaltet werden könnten - und dann ausdrücklich nur auf dem Goetheplatz. Damit bot der gestrige Tag gleich zwei interessante Einblicke: zum einen in das Verständnis des Andreas Trautvetter vom Respekt gegenüber einem Verfassungsorgan, zum anderen in die Funktionsweise jenes Ministeriums, das für die Sicherheit dieses Landes verantwortlich ist.

Weimars Bürgermeister Stefan Wolf (SPD) saß denn auch ein wenig sprachlos im Konferenzsaal des "mon ami". Er sei nicht informiert worden, sagte er. "Aber", fügte er hinzu, "das ist eigentlich auch nichts Neues." Wolf erzählte, dass die Stadt vor einiger Zeit schon Interesse an einer Videoüberwachung gezeigt habe, auch deshalb, weil der Theaterplatz damals von Rechtsradikalen frequentiert wurde. Aber nach einer "sehr groben Information" durch das Ministerium sei man nicht weiter befragt worden. Der Sitzungsleiter des Stadtrates, Horst Hasselmann (CDU), sekundiert: "Wir waren für eine Überwachung, aber dass so unsensibel damit umgegangen wird, dass wussten wir nicht."

Damit ist die Stadt nicht allein. Auch die Redaktionen der "Thüringer Allgemeine" und der TLZ, die sich beide am Goetheplatz befinden, wurden nicht verständigt. Und ihn habe ebenfalls niemand konsultiert, sagte Andreas Schramek, der Vorsitzende des Weimarer Anwaltsvereins. Dabei habe sich eine Kanzlei direkt in Sichtweite der Kameras befunden.

Für den Juristen Schramek handelt es sich vor allem über eine Abwägung zwischen den Gütern Sicherheit und Freiheit. Eine Abwägung, die für ihn eindeutig ausgeht: "Wenn irgendwo ein paar Flaschen zu Bruch gehen, rechtfertigt das nicht, dass man alles überwacht." Zumal einen Platz, bei dem die Berufsfreiheit von Anwälten und Ärzten und die Pressefreiheit zweier unabhängiger Zeitungen bedroht seien.

Man hätte aber das alles zumindest ahnen können, erwiderte der Weimarer Architekt Peter Mittmann. "Sobald Details klar waren, haben wir reagiert", sagte TA-Chefredakteur Sergej Lochthofen. Und dann war es in Thüringen nicht mehr zu übersehen.

Lochthofen thematisierte auch die Begründung für den Pilotversuch. Ob denn die Weimarer besonders kriminell seien, dass sie so überwacht werden müssten, fragte er den Bürgermeister. "Gewiss nicht", antwortete Wolf. Auch die Anschläge des 11. September, nach denen die Sicherheitsgesetze verschärft wurde, "haben mit Weimar absolut nichts zu tun", beteuerte er.

Der PDS-Landtagsabgeordnete Roland Hahnemann verwies darauf, dass die Kriminalitätsrate auf beiden Plätzen in den letzten beiden Jahren gesunken sei, ganz ohne Kameras. Er vermute vielmehr, sagte er, dass die Regierung ihr neues, härteres Polizeiaufgabengesetz einfach mal ausprobieren wollte.

Der Chef des "mon ami", Helfried Schmidt, sagte, er habe aus seinem Büro auf dem Goetheplatz "nicht unproblematische Vorgänge" und Rangeleien beobachtet. Allerdings nützten Kameras da überhaupt nichts: "Die Jugendlichen, die dort Alkohol trinken, müssen aufgefangen werden - und nicht gefilmt." Die Stadt aber habe kein Geld für Streetworker. Leider. Das Pilotprojekt Videoüberwachung schien ihr da ein guter Ausweg: Alle Kosten dafür trägt das Land.

Der parteilose Stadtrat Michael Hasenbeck wunderte sich laut, wie es zu so einem "dilettantischen und unsensiblen" Vorgehen habe kommen können. Eine Antwort bekam er nicht - der Stuhl des eingeladenen Innenministers war leer.

Leer blieb zur gleichen Stunde auch ein Trautvetter zugedachter Stuhl in Bielefeld. Dort vergab eine Jury aus Datenschützern, Computerclubs und Informatikern den "Big-Brother-Award 2003" im Bereich Politik an den Thüringer Innenminister und seine Kollegen in Bayern, Niedersachsen und Rheinland Pfalz für "drastische Einschnitte der Grundrechte".

Am Abend, als in Weimar die Kameras abgebaut waren, fragte der Stadtrat Hasenbeck stellvertretend für viele, wie es nun weitergehen solle in Weimar. Sicherheit und Freiheit, sagte er, müsse es doch irgendwie gleichzeitig geben können. Nur: "Was wir dazu nicht brauchen, sind beleidigte Leberwürste."

Von Eberhardt PFEIFFER und Martin DEBES

Thüringer Allgemeine, 25. Oktober 2003
Original: http://www.thueringer-allgemeine.de/ta/ta.thueringen.volltext.php?id=881930&zulieferer=ta&kategorie=THU&rubrik=Thueringen®ion=National