Privat und unter Kontrolle

Eine Fülle von Gesetzen erlaubt es dem Staat und auch privaten Unternehmen, den Datenverkehr im Internet immer besser zu überwachen. Aber kaum noch jemand hat Angst vor dem Großen Bruder

von DIETMAR KAMMERER

Ist es wirklich schon so weit? Alle lieben Big Brother? Auf dem Kongress "Save Privacy - Grenzverschiebungen im digitalen Zeitalter", veranstaltet von der Heinrich-Böll-Stiftung am vergangenen Wochenende in Berlin, suchten die Diskussionsteilnehmer gemeinsam Auswege aus der Kontrollgesellschaft. Getroffen hatten sich Datenschutzbeauftragte, Rechtsexperten, Informatiker, Hacker und Bürgerrechtler, um gemeinsam über die Sicherung der Privatsphäre in der digitalen Informationsgesellschaft zu beraten. Von der Gegenseite kamen, trotz mehrerer Anfragen an private Sicherheitsbeauftragte und Vertreter der Überwachungsindustrie, nur der Polizeidirektor von Mannheim und ein Jurist des "Fachverbandes Sicherheitssysteme".

So blieb man unter sich, um die dringenden Fragen zu klären: Sind wir schon im Überwachungsstaat? Wie sieht er denn aus? Warum wehrt sich keiner? Was kann man überhaupt dagegen tun? Warum ist das eigentlich schützenswert, das Private? Und: Wer ist eigentlich schuld an einer vor wenigen Jahren noch völlig undenkbaren Flut von Überwachungsmaßnahmen? Simon Davies von "Privacy International" überreichte den schwarzen Peter umstandslos den Politikern, die sich auf ein absolut risikofreies Handeln eingeschworen hätten, anstatt die Bürgerrechte zu verteidigen. Der Bündnisgrüne Wolfgang Wieland, Exjustizsenator Berlins und der einzige Politiker, der sich in Wahlkampfzeiten auf den Überwachungskongress einladen ließ, reichte ihn sofort weiter an die Wähler, die den Überwachungsstaat "geradezu fordern" würden, und vermisste "den Aufschrei der Bespitzelten".

Von dort nahm ihn die Künstlerin und Bürgerrechtlerin Rena Tangens wieder auf, die den Politiker an seine Möglichkeit, ja seinen Auftrag erinnerte, "gestalterisch wirksam zu werden", mit, ohne oder auch gegen öffentlichen Druck. Polizeidirektor Thomas Köber, Herr über acht schwenk- und zoombare Kameras in der Mannheimer Fußgängerzone, musste sich sogar gegen seine Stadträte stellen, die am liebsten ein Vielfaches an Überwachungskameras im öffentlichen Raum errichten wollten.

Lauscher am Handy

Zur Ehrenrettung der Politiker eilte schließlich Industrievertreter Hans Martin Fischer, der eine Studie zitierte, wonach 79 Prozent der Bevölkerung die Videoüberwachung von Kriminalitätsschwerpunkten "grundsätzlich positiv" sehen: Also ist es doch der verschreckte Bürger, der bereitwillig seine Freiheitsrechte einem unklar definierten "subjektiven Sicherheitsempfinden" opfert, aus Angst vor Terrorismus, organisierter Kriminalität und unsicheren Straßen?

Aber "Sicherheit" ist nicht der einzige Tauschwert gegen "informationelle Selbstbestimmung": Auch Unternehmen haben längst den Wert des Privaten entdeckt und sind fieberhaft auf der Jagd nach Kundenprofilen. Im Internet entsteht der gläserne Konsument, und der Staat baut in rasantem Tempo frühere Hemmschwellen ab: Zum Stichwort "Überwachungsstaat" gab es auf dem Kongress eine ellenlange Liste geheimnisvoll klingender Fachbegriffe: CCTV, Biometrik, Enfopol, ETSI, Echelon, IMSI-Catcher, neben den Klassikern Schily-Paket, Lauschangriff, Videoüberwachung. Der IMSI-Catcher etwa ermöglicht das Abhören von Mobiltelefonen, mit dem Nebeneffekt, dass sämtliche, also auch nicht verdächtige Handys im Umkreis von 100 Metern mit belauscht werden.

Im Bundestag ging vergangene Woche in aller Stille das Gesetz bereits durch, das zukünftig den Einsatz dieser Wundertechnik legalisieren soll - die schon jahrelang ohne rechtliche Grundlage eingesetzt wurde. Gleichfalls auf den Weg gebracht wurde Ende Mai eine EU-Richtlinie, wonach die Anbieter von Internetzugängen und Telekommunikation sich verpflichten, die Zugangsdaten ihrer Kunden pauschal zu speichern und auf Bedarf den Ermittlern zur Verfügung zu stellen.

Noch laufen Datenschützer aller Länder Sturm gegen das Gesetz, das jeden Klick im Internet, jede E-Mail und jede SMS für Polizei und Geheimdienste zur freien Einsicht protokollieren würde. Die Technik dafür ist einfach: Sie ist bereits in jede Telekommunikationsschnittstelle als Hardware eingebaut. Schwieriger ist es, sich gegen solche Bespitzelungen zu wehren: Wer versteht schon die Sicherheitseinstellungen seines Browsers?

Statt gezielten Vorgehens gegen Verdächtige der Pauschalverdacht gegen alle: das ist das eigentlich Verkehrte eines Überwachungsstaats, der die "feine Kulturleistung" (Nils Leopold) Privatsphäre zerstört und dessen nächste Stufe die Kontrollgesellschaft ist. "Schon aus strategischen Gründen müssen liberale Staaten ein Interesse an selbstbestimmten Bürgern haben", so die Philosophin Beate Rössler. "Privatheit ist funktional zu verstehen in Bezug auf Autonomie."

Sinnlose Normenflut

Gesetzliche Regelungen zum Schutz vor Angriffen auf die Privatsphäre sind unerlässlich; auf den Rechtsweg allein mögen sich die Experten jedoch nicht mehr verlassen. Für den Juristen Nils Leopold ebnet das bestehende Datenschutzrecht den "legalen Weg in den Präventionsstaat. Das Schutzrecht schützt nicht." Auch Alexander Roßnagel, Rechtswissenschaftler an der Universität Kassel, beklagt die bestehenden Rechtsvorschriften als "ineffektiv, widersprüchlich, unübersichtlich und inadäquat". Kein Wunder: gibt es doch in Bund und Ländern mittlerweile über 1.000 bereichsspezifische Gesetze mit Datenschutzregelungen, die den allgemeinen Gesetzen vorangehen. Die Ausnahmen erschlagen die Regel.

Ein Umdenken und eine radikale Reform fordern deshalb Roßnagel und seine zwei Koautoren in der vergangenes Jahr veröffentlichten Studie "Modernisierung des Datenschutzrechtes": Statt eines generellen Verbots der Datenverarbeitung, das von einer Normenflut von Ausnahmen ausgehöhlt wird, soll das allgemeine Gesetz wieder den spezifischen Regelungen vorangehen. Das bedeutet jedoch auch, dass der Gesetzgeber fürderhin darauf verzichtet, für jeden denkbaren Konfliktfall eine rechtliche Regelung anzubieten. Entsprechend der realistischen Einsicht, dass ein Datenschutzgesetz nur so gut ist wie die Gesellschaft, die es anwendet, sehen die Autoren der Studie deshalb eine Fülle von flankierenden Maßnahmen vor. So soll etwa die "gesellschaftliche Kontrolle" gestärkt und sollen Zertifikate für datenschutzgerechte und -fördernde Produkte eingeführt werden. Unternehmen, die den Schutz und den vertrauensvollen Umgang mit ihren Kundendaten nicht länger als hinderlich ansehen, gewännen Wettbewerbsvorteile. Technik und Organisation von Datenerhebung sollen bereits datenschutzfreundlich angelegt werden. Vor allem jedoch soll die "informationelle Selbstbestimmung" des Bürgers ernst genommen werden: Wir alle sollten selbst die Mittel an die Hand bekommen, unsere Privatsphäre so weit zu schützen, wie es uns beliebt - das heißt eben auch, freiwillig und teilweise auf deren Schutz verzichten zu können.

Darauf konnten sich die Teilnehmer der zahlreichen Panels einigen: Mit rechtlichen Regelungen allein ist es nicht getan. Technische Maßnahmen und wirtschaftliche Anreize müssen dem gesetzlichen Datenschutz beiseite stehen. Die Berufung auf ökonomische Gründe ist laut Simon Davies ein viel wirksameres Mittel als der Hinweis auf Bürgerrechte: So kann man zum Beispiel den Handel für verstärkte Sicherheitsanstrengungen gewinnen, wenn man ihm vorrechnet, wie viele Milliarden Dollar Umsatz er verlieren könnte, weil das Vertrauens in die Sicherheit von E- Commerce fehlt.

Wie eine technische Lösung für den Datenschutz im Internet aussehen könnte, beschrieb Rigo Wenning vom World Wide Web Consortium (W3C): Ein spezielles Übertragungsprotokoll vergleicht automatisch die persönlichen Präferenzen mit den vom Händler angebotenen Datenschutzerklärungen. Ausgerechnet Technik und Wirtschaft, die alten Erzfeinde der Privatsphäre, scheinen uns gegen Big Brother helfen zu wollen.

Tageszeitung, 13. Juni 2002
Original: http://www.taz.de/pt/2002/06/13/a0216.nf/text