"Frontalangriff auf elementare Freiheitsrechte"

Erfurt/Bielefeld. (tlz) Es gibt Preise, über die man sich nicht so richtig freuen kann. Sie werden aber verliehen, um den Finger in gesellschaftliche Wunden zu legen. Ein solcher Preis ist der "Big Brother Award". Der "Negativ-Preis für Datenkranke" geht an Personen, Unternehmen und Behörden, die erheblich die Privatsphäre von Bürgern verletzt haben. Diesmal kommt die Landesregierung von Thüringen gemeinsam mit Bayern, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen in den zweifelhaften Genuss, diese "Auszeichnung" zu erhalten - und das, ohne dass der Video-Überwachungsskandal von Weimar bereits bekannt war. Im Windschatten der Terrorismusbekämpfung hätten sie ihre Polizeigesetze drastisch verschärft, so die Jury. In der Begründung heißt es dann wörtlich unter anderem:

"In allen genannten Bundesländern soll die präventive Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) durch die Polizei legalisiert werden - also das vorsorgliche Abhören von Telefonen und Handys sowie das vorsorgliche Mitlesen von Faxen, SMS und Emails, ohne dass eine Straftat oder ein Anfangsverdacht vorliegen muss.

Mit einer solchen Befugnis, wie sie bislang nur in Thüringen legalisiert ist, kann die Polizei die Telekommunikation von "vorverdächtigten" Personen im weiten Vorfeld eines Anfangsverdachts vorsorglich überwachen - selbst wenn rein zufällige und unverdächtige Kommunikationspartner wie Verwandte, Nachbarn, Arbeitskollegen und sonstige Bekannten von den Lauschaktionen betroffen werden. Zum Teil soll sogar die Kommunikation mit unverdächtigen Kontakt- und Vertrauenspersonen wie Rechtsanwälten, Abgeordneten, Ärzten, Journalisten, Psychotherapeuten oder Seelsorgern überwacht werden können - und zwar ungeachtet der besonderen Schweigepflichten, denen solche Personen unterliegen. Auf diese Weise wird das gesetzlich verankerte Zeugnisverweigerungsrecht von Berufsgeheimnisträgern ausgehebelt, ebenso wie wesentliche Elemente der Pressefreiheit: nämlich der Schutz von Informanten und das Redaktionsgeheimnis. Unabhängige Recherchen wären so nicht mehr zu gewährleisten.

Dass die Maßnahme von einem Amtsrichter angeordnet werden muss, ist kein ausreichender Schutz. Denn es gibt bis heute keine Ermittlungskompetenz des Richters und keine gerichtliche Verlaufs- und Erfolgskontrolle solcher Überwachungsmaßnahmen... Auch die Standortfeststellung von Telekommunikationsteilnehmern mit Hilfe so genannten IMSI-Catcher ist geplant. Einerseits können die individuellen Kennungen und Geräte-Nummern von Handys ausgeforscht werden. Aufgrund dieser Identifikation kann die Polizei dann Verbindungsdaten der Mobilfunkteilnehmer beim jeweiligen Telekommunikationsunternehmen abfragen. Andererseits können zur genauen Standortbestimmung Handys elektronisch geortet werden, auch wenn diese nur Standby geschaltet sind. Dadurch wird der Polizei die Möglichkeit eröffnet, Bewegungsbilder ihrer Besitzer und Nutzer zu erstellen - nicht etwa zur Verfolgung von Straftätern, nein: zur Verfolgung von Personen, denen künftig Straftaten zugetraut werden.

In Rheinland-Pfalz ist der Einsatz von elektronischen Wanzen und Video-Kameras zum präventiven Großen Lausch- und Spähangriff in und aus Wohnungen geplant, wie er bereits in Thüringen (und Baden-Württemberg) legalisiert worden ist. Zur Installation der Lausch- und Spähwanzen soll die Polizei die auszuforschende Wohnung unerkannt betreten können.

Die neuen Instrumente machen einem präventiven Überwachungsstaat alle Ehre - einem Sicherheitsstaat, in dem Rechtssicherheit und Vertrauen allmählich verloren gehen, Verunsicherung und Verängstigung gedeihen. Im CDU-regierten Thüringen ist der Frontalangriff auf elementare Freiheitsrechte bereits im Juni 2002 umgesetzt worden. Insofern erhält die Thüringer Landesregierung den Big Brother Award für eine vollendete Tat. Diesem Pilotprojekt wollen nun Bayern (CSU), Niedersachsen (CDU/FDP) und Rheinland-Pfalz (SPD/FDP) folgen. Deshalb erhalten die dafür Verantwortlichen den Preis präventiv."

Thüringische Landeszeitung, 25. Oktober 2003
Original: http://www.tlz.de/tlz/tlz.politik.volltext.php?id=880830&zulieferer=tlz&rubrik=Thueringen&kategorie=THU®ion=Nationalhttp://www.tlz.de/tlz/tlz.politik.volltext.php?id=880830&zulieferer=tlz&rubrik=Thueringen&kategorie=THU®ion=National