Big-Brother-Preis geht an Bundesinnenminister Otto Schily

Christiane Schulzki-Haddouti   26.10.2001

Weitere Big-Brother-Preisträger in Deutschland sind Wirtschaftsminister Werner Müller, Informa, Spector, RealNetworks und die School-Card

Der 26. Oktober ist kein Tag wie jeder anderer. Vor einigen Jahren verabschiedete das Europäische Parlament aus Sicht einiger britischer Datenschützer ein bürgerrechtsfeindliches Papier. Damals, 1998, vergab "Privacy International" als Kontrapunkt den ersten  Big-Brother-Preis [0]. Österreich folgte mit dem Preis ein Jahr später, wie auch die Schweiz und Deutschland wiederum ein Jahr später. Auch in diesem Jahr verleihen die drei Länder ihren Big-Brother-Preis am 26. Oktober. Für Simon Davies, der den britischen Big-Brother-Preis initiierte, wird "der 26. Oktober zweifellos ein ernüchternder Tag für viele Eindringlinge in die Privatsphäre und gleichzeitig ein wunderbarer Festtag für Freunde der Privatsphäre werden."

Während die Preisträger in der  Schweiz [1] und in  Österreich [2] ( Terror und Überwachung sind Geschwister [3]) schon seit einigen Tagen feststehen, werden sie in  Deutschland [4] erst heute bekannt gegeben. Die Preise werden wie auch im letzten Jahr in Bielefeld verliehen. Organisator ist der Bielefelder Verein  Foebud [5], in der Jury saßen Rena Tangens & padeluun vom Foebud, Thilo Weichert von der Deutschen Vereinigung für Datenschutz (  DVD [6]), Jens Ohlig vom Chaos Computer Club (  CCC [7]), Patrick Goltzsch von  FITUG [8], Ute Bernhardt und Ingo Ruhmann vom  FIfF [9] sowie Rechtsanwalt und Bürgerrechtler  Rolf Gössner [10], der Jahrzehnte vom Verfassungsschutz überwacht wurde.

They that can give up essential liberty to obtain a little temporary safety deserve neither liberty nor safety.
Benjamin Franklin, Historical Review of Pennsylvania, 1759

Datenschutz als Täterschutz?

Zufällig wird heute, am 26. Oktober, auch Rolf Heißler aus der Haft entlassen. Er war der einzige Terrorist, der jemals mit Hilfe der Rasterfahndung verhaftet wurde. Damals, 1979 wurde er jedoch bei der Verhaftung mit einem Kopfschuss lebensgefährlich verletzt. Rasterfahndung, innere Sicherheit - das sind auch heute wieder die beherrschenden innenpolitischen Themen.

Wen wundert es, wenn der Urheber des Anti-Terror-Pakets, Bundesinnenminister  Otto Schily [11], den diesjährigen Hauptpreis verliehen bekommt? Denn er, so die Big-Brother-Jury, tritt "unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung für den Abbau von Bürgerrechten, Datenschutz und informationeller Selbstbestimmung ein".

Er erhielt "mit Abstand die meisten Nominierungen", weil er "sich dauerhaft, und seit dem 11. September 2001 nochmals verstärkt, für neue Ermittlungsbefugnisse für die Polizei und Geheimdienste einsetzt, ohne die verfassungsmäßig garantierten Bürgerrechte zu berücksichtigen", weil er "Datenschutz als Täterschutz diffamierte" und weil er "das Recht auf informationelle Selbstbestimmung insbesondere von ausländischen Bürgerinnen und Bürgern missachtet". Schily stellte die Frage, ob der Datenschutz nicht oft "übertrieben" worden sei.

"Schilys Vorschläge ignorieren", so kritisiert die Jury, "dass die bestehenden Regelungen bereits ein umfassendes Instrumentarium zur effektiven Bekämpfung terroristischer Straftaten zur Verfügung stellen". Sie lenkten zudem "von Vollzugsdefiziten bei den Sicherheitsbehörden, von irrigen Lagebeurteilungen und von der Tatsache ab, dass es keinen sicheren Schutz vor Terrorismus geben kann, schon gar nicht vor Selbstmord-Attentaten." Bis heute sei das Bundesinnenministerium den Nachweis schuldig geblieben, dass "der Datenschutz" die Kriminalitäts- oder Terrorismusbekämpfung behindert hätte. Das Bundesinnenministerium wollte telepolis zur Preisverleihung keine Stellungnahme abgeben.

TKÜV

Auch sein Ministerkollege Werner Müller vom  Bundeswirtschaftsministerium [12] bleibt nicht verschont. Er erhält in der Kategorie "Kommunikation" die Trophäe für die am 24. Oktober erlassene Telekommunikationsüberwachungsverordnung (TKÜV). Denn mit ihr "würde eine technische Infrastruktur geschaffen, die durch fest installierte Geräte bei Telekommunikationsanbietern eine Überwachung quasi per Knopfdruck ermöglicht", auch sei eine "Handyortung und Erstellung von Bewegungsprofilen erlaubt".

Als kritisch empfindet die Jury, dass im Falle von Verschlüsselung seitens des Netzbetreibers dieser entweder eine unverschlüsselte Schnittstelle oder einen "Nachschlüssel" haben muss. Die Jury: "Dies ist in der Praxis unsicher und unterminiert das Vertrauen von Bürgerinnen und Bürgern in die Telekommunikation." Eine Sprecherin des Ministeriums zeigte sich überrascht und empört zugleich: Mit der TKÜV würden die Voraussetzungen geschaffen, um bei schweren Straftaten abhören zu können. "Daraus eine Verletzung des Datenschutzes zu konstruieren, ist abstrus."

Scoring

In der Kategorie "Business und Finanzen" wurde die Pforzheimer  Informa Unternehmensberatung [13] für ihr  Scoring-Verfahren [14] nominiert. Bei dem Joint Venture von Fair, Isaac International, der Schober Information Group und der InFoScore Management AG handelt es sich nach Eigeneinschätzung um "einen international führenden Anbieter von prozeßintegrierten Lösungen im Akquisitions- und Kundenmanagement".

Ursprünglich wurde das Scoring für den Versandhandel entwickelt und ermittelt für jede Anschrift in Deutschland ein Score zwischen 350 (sehr unattraktiver Kunde) und 750 (sehr attraktiver Kunde). Bei Informa handelt es sich um "ein analytisches Prognose- und Punktebewertungsverfahren, das die Wahrscheinlichkeit berechnet, mit der jeder einzelne Kunde ein bestimmtes von Ihnen gewünschtes Verhalten zeigen wird: Ihre Produkte kauft, Ihre Dienstleistungen nutzt, Ihren Kredit tilgt, seine bestellte Ware nicht retourniert, ein dauerhafter Kunde wird, im Mahnfalle bezahlt und so weiter."

Informa verarbeitet dafür interne und externe Daten und Datenderivate. Rena Tangens zitiert dafür Informa-Geschäftsführer Paul Triggs: "Wir können für jeden Bürger einen Score ermitteln. Selbst wenn es über die Einzelperson einmal keine Daten gibt, hilft uns hier die Beurteilung des Nachbarn rechts oder links." Dabei handelt es sich um soziodemographische Daten, Regional- und Statistikdaten, Markt- und Konsumdaten, Gebäudedaten der Schober Einzelhausbewertung, und Daten der Versandhäuser über ihre Kunden und deren Kaufverhalten, Daten von externen Informationsanbietern, die als Auskunftei- oder als Marketingdaten angeboten werden sowie sogenannte Lifestyle-Daten. Manche Informa-Kunden setzen mehr als 100 Scoretabellen ein, um das Kundengeschäft zu steuern.

Informa greift auch auf das "Schober Consumer Masterfile" zurück, das Zugriff auf 50 Millionen Privatadressen mit 2,2 Milliarden Zusatzdaten mit vielfältigen Selektionsmöglichkeiten bietet. Es gibt Kooperationen mit Quelle, Neckermann und der InfoScore Consumer Data GmbH.

Den Preis erhielt Informa, da das Scoring-Verfahren auf Verbraucher angewandt wird und von Web-Shops beispielsweise sogar automatisiert benutzt wird. Außerdem würden die Daten aus den unterschiedlichsten Quellen zusammengeführt, ohne darüber die Verbraucher jedoch ausreichend zu informieren. Auch der österreichische Big-Brother-Preis bezieht sich auf diese Geschäftspolitik. Er nominierte die österreichische Post AG, die beim Adresshändler Schober sowohl Großhändler, also auch Großkunde ist.

Spyware

In der Kategorie "Arbeitswelt" erhielt "Spector" den Preis, da er eine umfassende "Überwachung der elektronischen Kommunikation am Arbeitsplatz" möglich macht. Seit 2001 wird die Software in Deutschland angeboten und von ProtectCom intensiv beworben. "Spector" erstellt in kurzen Abständen Screenshots und speichert sie für die Auswertung. Die Software protokolliert jeden Tastaturanschlag, egal, ob es sich um Passworte oder andere Eingaben handelt. Der Überwacher wird per Alarmfunktion auf bestimmte Aktivitäten am überwachten PC in Echtzeit aufmerksam gemacht. Hier ist egal, ob es um das Aufrufen einer Internetadresse, oder das Eintippen eines gesuchten Wortes geht. Chats im Internet und E-Mails werden natürlich vollständig protokolliert. Ausspionierte Benutzer können Spector nicht aufspüren.

Die Jurymitglieder Ingo Ruhmann und Ute Bernhard betonten, dass sich Spector dabei nicht als die übliche Filtersoftware versteht: "Spector ist konzipiert für die Kontrolle durch das menschliche Auge: den Vorgesetzten oder den Firmenchef. Spector als Mittel zur betrieblichen Überwachung wird damit beworben - und macht dann erst Sinn - wenn der Überwacher seine Überwachungsergebnisse gegen die Mitarbeiter anwendet, ihnen also "verbotene" Mailinhalte vorhält." Ihrer Ansicht macht sich der Arbeitgeber aber genau an diesem Punkt strafbar: "Es ist illegal, es ist ein Fall für den Staatsanwalt."

Der gläserne Hörer

Den Negativ-Preis in der Kategorie "Technik" erhielt in diesem Jahr  RealNetworks [15]. Die Firma nimmt zum einen mit kostenlosen Abspielprogrammen für Musik und Video, wie RealPlayer, eine führende Rolle im Bereich Streaming Media ein. Zum anderen verraten jedoch die Standardeinstellungen "viel mehr über Seh- und Hörgewohnheiten, als ihm (dem User) lieb sein kann". Dabei werde der Nutzer über die Spyware-Einstellung sogar eindeutig identifiziert. Die Jury: "Ein Geschenk, bei dem man die Bedrohung für die Privatsphäre erst mit viel Mühe selbst abstellen muss." Da haben RealNetworks offensichtlich auch die regelmäßig aktualisierten  Datenschutz-Erklärungen [16] nicht vor dem Big-Brother-Preis geschützt.

School-Card

Auch ein Regionalpreis wurde an das Bielefelder Hans-Ehrenberg-Gymnasium verliehen für eine School-Card mit Fingerabdruck. Die Jury: "Nicht nur, dass die durchaus umstrittene Authentifizierung mittels Biometrie als sicherste aller möglichen Methoden angepriesen wird und eine eindeutig zuzuordnende Bezahlung dem weitaus anonymeren Bargeld vorgezogen wird - diese Anpassung an den Trend zum Abbau der Privatheit wird zusätzlich im Unterricht als Wissen vermittelt." Abbau der Privatsphäre unter dem Deckmantel der Innovation sollte aber nach Auffassung der Jury eben "nicht Schule machen".

Rückblick

Ob dieses Jahr die Preisträger den durchaus ästhetisch gestalteten Preis abholen werden? Letztes Jahr [17], so die Organisatoren Rena Tangens und padeluun, traute sich keiner der Preisgewinner, die Auszeichnung persönlich entgegenzunehmen, "doch suchten fast alle nach der Verleihung das Gespräch mit uns". Padeluun: "Begeistert war keiner der Gewinner, auch wenn vom Berliner Innensenator Werthebach berichtet wurde, er habe sich selten so amüsiert wie, als er von seinem Preisgewinn erfuhr."

Die Firma Loyalty Partner GmbH, die Herausgeberin der Payback-Kundenbindungs- und Rabattkarte, suchte damals das Gespräch mit der Jury und gelobte mehr Transparenz. Sie verzichtete auf die angekündigte Erstellung elektronischer Kunden-Konsumprofile, musste aber in einem Gerichtsverfahren eine Niederlage einstecken. Nach Ansicht der Jury kann jedoch auch heute noch nicht von einer "vorbildlichen Privacy Policy" gesprochen werden. Noch immer entsprächen nicht alle Angebote den gesetzlichen vorgesehenen Datenschutzrechten der Kunden. Auch die zuständige Datenschutzaufsicht, das Münchner Regierungspräsidium und das Bayerische Innenministerium, gaben keine Fehlentscheidung zu. In der Kategorie Politik erhielt 2000 der Berliner Innensenator Werthebach den Preis für die geplante Beschaffung von IMSI-Catchern. Nach der Preisverleihung verzichtete Berlin auf die Beschaffung. Inzwischen stellt jedoch der Bund seine Geräte auch den Ländern in Amtshilfe zur Verfügung.

Die Organisatoren setzen auch künftig vor allem auf die Öffentlichkeitswirkung des Preises: "Nicht, dass wir sämtliche angeprangerten Schweinereien hätten abstellen können. Aber wir fanden das Ohr der Öffentlichkeit und konnten feststellen: Datenschutz ist nicht nur die Angelegenheit von ein paar viel zu kleinen machtlosen Behörden und einer noch kleineren Zahl von idealistischen BürgerrechtlerInnen, sondern Datenschutz hat einen Markt und findet Aufmerksamkeit, Interesse und Bestätigung. Die Verteidigung der Privatheit lebt von der öffentlichen Debatte und genau diese Stärkung hatten wir mit dem Award erreicht."

Links

telepolis, 26. Oktober 2001