Ist die Privatsphäre noch zu retten?

Philosophen, Aktivisten, Politiker und Techniker diskutierten auf dem Kongress "Save Privacy" über Grenzverschiebungen im digitalen Zeitalter

Stefan Krempl    10.06.2002

Die Diagnose von Simon Davies, Gründer der Initiative Privacy International, ist nicht gerade optimistisch: "Der Schutz der Privatsphäre ist in der gesamten Welt in die Krise geraten", warnt der britische Rufer in der Datenwüste, der 1998 den Big Brother Award ins Leben gerufen hat. Die Gründe für die Misere arbeitete Davies auf dem Kongress Safe Privacy, zu dem die grüne Heinrich Böll Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Neue Medien und zahlreichen weiteren Netzorganisationen am Wochenende nach Berlin lud, klar herausgearbeitet. Die Wurzel allen Übels liegt seiner Ansicht nach bei "faulen, uninspirierten und gelangweilten Politikern", die keine Risiken mehr auf sich nehmen. "Sie stimmen alle überein, dass die Bürgerrechte eingetauscht werden können." Zum Beispiel gegen ein falsches Gefühl von Sicherheit nach dem 11. September.

Davies wittert hinter der "Risk-free Society" einen neuen "sozialen Vertrag": Während es bei Rousseau noch darum ging, dass die Bürger die Interpretation ihrer grundsätzlichen gesellschaftlichen Rechte vertrauensvoll in die Hände einer wohlwollenden Regierung legten, würden sie nun unter dem neuen Paradigma ihre Daten dem Staat oder Unternehmen überlassen. "Ihr könnt alles mit meinen Informationen machen", beschreibt Davies die Haltung vieler Zeitgenossen, "solange ihr mein Vertrauen nicht missbraucht." Politiker wie der britische Regierungschef Tony Blair untermauern diesen sanften Übergang in den Überwachungsstaat gerne mit dem Standardmotto, wonach Rechte nur zugleich mit "Verantwortlichkeiten" wahrgenommen werden könnten. Die Einschränkung der Freiheitsrechte geschehe damit immer im so genannten öffentlichen Interesse.

Wichtig sei aber auch zu erkennen, dass sich Datenschützer mit einem systemischen Problem konfrontiert sehen. Viele Vorstöße zu mehr Überwachung sind laut Davies ökonomischer Natur. "Wir kämpfen gegen eine Multi-Milliarden-Dollar-Industrie", sagt der Privacy-Advokat. Beim Einsatz von Techniken wie der Biometrie etwa habe man es daher mit einer gut geschmierten Lobbymaschinerie zu tun. Dazu tritt die "Überwachung per Design", der verstärkte Einbau von Kontroll- und Abhörtechniken in den Kern der Kommunikationstechniken selbst. Bestes Beispiel ist für Davies hier das European Technology Standards Institute (ETSI), das seit Jahren Überwachungsprotokolle und -schnittstellen selbst schon für Technologien wie UMTS definiert, die noch gar nicht auf dem Markt sind (ENFOPOL: EU-Abhörstandards für die Telekommunikationsnetze). Die Misere rund um die Privatheit werde weiterhin verschärft durch nationale und internationale Gesetze und Verträge wie die neue, einer Vorratsdatenspeicherung Tür und Tor öffnenden EU-"Datenschutz"-Richtlinie oder das umstrittene Cybercrime-Abkommen des Europarats (Europarat verabschiedet Cybercrime-Abkommen).

Den Blick, den Davies in die Zukunft wirft, ist daher überaus düster. Da sieht er zum einen das "Verlangen nach einer perfekten Identifizierung" durch die Biometrie und zum anderen die sich mit Mobiltelefonen und Straßen-Mautsystemen schon abzeichnende "totale Transparenz des Aufenthaltsorts". Eine besondere Gefahr könne die Nanotechnologie darstellen, dank der fürs menschliche Auge nicht mehr sichtbare Mini-Chips mit dem Körper interagieren und Informationen an Empfangsapparaturen senden könnten. Die Hoffnung auf Datenschutzgesetze hat Davies längst aufgegeben. Auch das Setzen auf den Markt, der es mit dem elektronischen "Trust-Business" ja doch einmal Ernst nehmen und den Datenschutz als Wettbewerbsfaktor entdecken könnte.

Es wird blutig

Keine rosigen Zeiten für das Private prognostiziert auch Andreas Pfitzmann, Informatikprofessor an der TU-Dresden. Am Beispiel eines normalen Handys demonstriert er, dass die Technik schon heute dermaßen kompliziert ist, dass niemand mehr weiß, ob ein ausgeschaltetes Gerät nicht wieder aus der Ferne angestellt und zur Wanze umfunktioniert werden kann. Die schöne neue Welt solle nun darin bestehen, dass "wir in zehn Jahren Chips in Kleidung haben werden". Dann bleibe für vertrauensvolle Gespräche nur noch die "gemischte Sauna". Wieder zehn Jahre später sollen die Chips unter die Haut der Menschen wandern. "Dann wird es blutig", sagt Pfitzmann, wenn die Vertraulichkeit gewahrt werden solle.

Sein Plädoyer ist daher, mit Hilfe ernsthafter Forschung IT-Systeme so zu strukturieren, "dass klar ist, was man mit ihnen machen kann." Bis dahin greife jede Debatte über den Umgang mit bereits erfassten Daten zu kurz. Denn seien die Informationen erst gespeichert, wisse man nicht mehr, was mit ihnen tatsächlich geschehe. In einer "Welt unheiliger Allianzen" müsse man extrem darauf achten, welche Techniken gebaut und wie sie verwendet würden.

Das glaubt auch Rena Tangens, Organisatorin des deutschen Big Brother Awards. "Es gibt keine unwichtigen Daten mehr", erklärt die Aktivistin. Selbst die Speicherung eines scheinbar banalen Einkaufs wie dem von Rindfleisch könnte brisant werden, wenn der Shopper von Versicherungen damit in Zukunft als potenzieller BSE-Risikoträger identifiziert werde. Deswegen zählt das Payback- Rabattsystem zu den Preisträgern der Auszeichnung für die schlimmsten Datenschutzverletzer. Denn bei solchen und ähnlichen Aktionen versuchen Firmen häufig über sehr allgemein gehaltene Klauseln eine "grenzenlose Datennutzung" zu ermöglichen, erläutert Helke Heidemann-Peuser vom Bundesverband der Verbraucherzentralen. Allen Ehrenkodizes und Selbstregulierungsbemühungen von Institutionen wie dem Deutschen Direktmarketing Verband zum Trotz haben die Verbraucherschützer so alle Hände voll zu tun, die Datensammelwut im kommerziellen Sektor mit Abmahnungen zu stoppen.

Happyveillannce

Doch gibt es in einer Gesellschaft, die Big Brother zum Überwachungs-Reality-TV degradiert, freiwillig aufgrund einiger Promotions zur Payback-Karte greift und in Bars wie der New Yorker Remote Lounge mit Hilfe von überall angebrachten Kameras die Anmache distanzierter und damit ohne Angst vor dem Korb praktiziert, nicht eine gewisse Lust an der Überwachung, die gar nicht nur mit der sonst gern ins Feld geführten Verbrechensbekämpfung zu tun hat? "Happyveillance" nennt Thomas Levin, Medienästhetiker an der Princeton University und Kurator der Ausstellung Ctrl [Space] in Karlsruhe, in Anklang an die vor allem staatlich vorangetriebene "Surveillance" diesen Trend. Den habe auch die Werbung schon entdeckt, wenn ein Telefonanbieter etwa mit dem "persönlichen Tarifsystem" winke, dass natürlich nur nach der vollständigen Analyse des Fernkommunikationsverhaltens der Kunden erstellt werden könne.

Die "panoptische Gesellschaft", die in den Vorstellungen Benthams und den Schriften Foucaults wurzelt, dringt so "immer tiefer in das Dasein der Menschen ein", sagt Beate Rössler, Professorin für Philosophie an der Universität Amsterdam. Problematisch daran sei, dass "man ständig beobachtet und identifiziert werden kann". Dabei gelte es aber auch in der "Spaßgesellschaft" zu unterscheiden zwischen Phänomenen wie der Show Big Brother, wo sich die "Schauspieler" in voller Harmonie mit ihrem Wissen und ihren Wünschen für eine bestimmte Zeit observierbar machen, und einer staatlichen oder privaten Video-Überwachung. Denn bei diesen Fällen wüssten die Betroffenen entweder gar nicht, dass sie gefilmt werden, oder befänden sich zumindest in "voluntativer Asymmetrie" mit der Kameraaufzeichnung.

Das Gefährliche an beiden Überwachungsformen sieht Rössler im latenten Zwang, "authentisches Verhalten als weniger zentral und konstruktiv für das Selbstverständnis" zu definieren. Doch darin liege zum Großteil die individuelle Freiheit und die Autonomie von Personen begründet, die die Philosophin als die wichtigsten Werte des Schutzkonzepts Privatheit betrachtet. Damit verbunden sieht Rössler die Kontrolle über menschliche Selbstdarstellungsmöglichkeiten, also darüber, wie man in welchen Kontexten verstanden werden und handeln will. Diese private Autonomie sei auch ein wichtiger Bestandteil des liberalen Staates, wie es auch das Bundesverfassungsgericht in seinem berühmten Volkszählungsurteil von 1983 darstellte. Denn der Rechtsstaat könne nur von Individuen leben, "die selbst Selbstbestimmung haben und leben." Dass sich der liberale Staat immer mehr als einer generiert, der immer und überall Zugriff auf die Daten seiner Bürger haben will, kommt für Rössler damit einem Art Selbstmord gleich.

Welche Argumente lassen sich dem schleichenden und systemischen Verfall der Privatheit entgegensetzen, von dessen Konzept sich die Bürger laut Rössler keineswegs generell verabschiedet haben? Die Philosophin baut darauf, dass der Bezug auf den Rahmen der in zahlreichen Konventionen garantierten Menschen- und Bürgerrechte nach wie vor der beste Weg ist. Wenn man das Recht schon auf seiner Seite habe, könne die Kritik dadurch nur gewinnen. Simon Davies hat sich schweren Herzens von diesem Ansatz allerdings verabschiedet: "Menschenrechte? Das ist etwas für staubige akademische Umgebungen." Die Politik könne man damit schon lange nicht mehr beeindrucken. Für einzig erfolgsversprechend hält er die Verschränkung mit dem ökonomischen System: Nur mit dem Aufzeigen der Kosten, die Überwachung generiere, könne diese manchmal noch gestoppt werden.

Telepolis, 10. Juni 2002
Original: http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/konf/12694/1.html