Der 17. Hackerkongress

Zwischen Überwachungsängsten und Paranoia
"Big Brother Award" für die bösartigsten Angriffe auf den Datenschutz

Kurt Sagatz

Der eigentliche Titel des Chaos Communication Congresses, der von Mittwoch bis zum heutigen Freitag rund 2500 Mitglieder der Hackerszene in Berlin zusammenführte, lautet "Explicit Lyrics". Dabei wäre ein anderer Titel zumindest ebenso passend gewesen, denn das 17. Familientreffen der Computerfreaks kehrte zumindest in einigen Teilbereichen zurück zu seinen Anfängen im Jahr 1984, als das Thema Datenschutz durch die Volkszählungsdebatte in Deutschland ganz oben auf der Tagesordnung stand. "Zurück zu den Wurzeln" also war am Eröffnungstag zumindest das Motto einer Veranstaltung, in der es um die "Big Brother Awards 2000" ging.

Mit dem gleichnamigen Fernsehformat haben diese Preise allerdings wenig gemein. Gekürt wurden vielmehr staatliche Organisationen, private Unternehmen und Personen des öffentlichen Lebens, die mit ihrer Arbeit "nachhaltig, planvoll und besonders bösartig" den von George Orwell in seinem Buch "1984" propagierten Überwachungsstaat vorbereiten. Der erste Big Brother Award wurde bereits vor zwei Jahren in Großbritannien verliehen, also lange bevor "Big Brother" die Fernsehschirme der Europäer heimsuchte. In diesem Jahr wurde der Preis neben Großbritannien auch in Österreich, hier sogar bereits zum zweiten Mal, sowie in der Schweiz und in Deutschland ausgelobt, wie der Bielefelder Internet-Künstler und Mitorganisator des deutschen Wettbewerbes, Padeluun, sagte.

Der größte Unterschied zwischen 1984 und dem Jahr 2000 besteht nach Padeluuns Ansicht darin, dass die Angaben zur damaligen Volkszählung gegenüber dem, was Internet-Nutzer heute jeden Tag bei der Teilnahme an diversen Online-Wettbewerben an Daten preisgeben, eigentlich nur Peanuts seien. Und die Begründung für die Vergabe des ersten Preises des Big Brother Awards 2000 in Deutschland scheint diese Ansicht zu bestätigen. Der ging an die Loyalty Gesellschaft für Kundenbindungssysteme, besser bekannt durch ihr Produkt "Payback".

Die gute Seite dabei: Das Unternehmen, an dem unter anderem die Lufthansa, Metro sowie Roland Berger beteiligt sind, hat das Rabattmarken-System auf das Internet übertragen. Wer mit der virtuellen "Payback"-Karte online shoppen geht, erhält Wertpunkte, die wiederum bares Geld bringen. Doch dahinter verbirgt sich nach Ansicht der Award-Jury eine zweite, bei weitem bedenklichere Seite, die vor den Kunden des Systems überdies sorgsam verborgen gehalten wird. Bereits bei der Anmeldung zu "Payback" wird von dem Kunden eine Vielzahl von Daten abverlangt, die für das Rabattsystem nicht benötigt würden. Schlimmer noch, so die Veranstalter des Wettbewerbs. Bei jedem Kauf, der mit "Payback" erfolgt, werden weitere Daten erhoben, die sich dann Puzzleteil-artig zu einem Gesamtbild, dem Kundenprofil, zusammenfügen. Und da an "Payback" die verschiedensten Firmen beteiligt seien, lasse sich das tägliche Leben perfekt nachvollziehen, zumal die beteiligten Shopping-Firmen das Recht haben, auf die über "Payback" erhobenen Daten zuzugreifen.

Auch wenn bei allem, was Hackern herausfinden oder herauszufinden glauben, immer auch ein Stück Paranoia im Spiel ist, bleiben die Ängste vor der schleichenden Überwachung nicht unbegründet. Bedenklich bleibt es schließlich allemal, wenn beispielsweise die Firma Saturn in Österreich von allen Kunden, die mit einer EC-Karte bezahlen, mit der PIN-Nummer zugleich das Einverständnis abfordern, dass ihre Daten später zu Marketing-Zwecken verwendet werden können. Oder wenn in der Schweiz die Pharmafirma La Roche von allen Lehrlingen im Rhythmus von drei Monaten Urinproben verlangt, um etwaige Drogenabhängigkeiten behandeln zu lassen. Auch der Einkauf von diversen Überwachungskameras im Lampendesign durch die Deutsche Bahn lässt nicht nur bei den Datenschützern die Alarmglocken schrillen.

Vor der vollständigen Überwachung kommt freilich die vollständige Vernetzung. Und zumindest darin sind die Organisatoren des Chaos Communication Congresses Meister. Auch wenn keineswegs unterstellt werden soll, die unzähligen Datenleitungen, die überall im Haus am Köllnischen Park von den Decken hängen, dienen der Überwachung der Veranstaltungsteilnehmer, so probte der Kongress doch die totale Vernetzung - angefangen im Hackcenter mit seinen zwei Etagen über den Eingangsbereich bis hoch zum Frauen-Refugium des Haecksen-Centers. Und damit in diesem Jahr nun wirklich kein Bereich frei von Internet-Vernetzung blieb, wurde überdies ein Funknetz durch das Tagungszentrum gelegt, damit von jedem Laptop mit Funkkarte aus der Zugang zum World Wide Web möglich war.

Bei soviel Gemeinsamkeit im Kampf gegen professionelle Ausspähorganisationen und soviel Verbundenheit über das Datennetz gab es jedoch längst nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen. Vor allem die Dauerfehde zwischen den Vertretern der Linux-Fraktion und jenen Hackern, die sich zumindest darüber Gedanken machen, dass immerhin 95 Prozent der privat betriebenen Computer unter Windows laufen, sorgten für die ein oder anderen Spitze auf dem Kongress. So zum Beispiel bei einem Vortrag, der sich ursprünglich mit dem Thema "Kryptographie" beschäftigte.

Das Bundeswirtschaftsministerium hatte in diesem Jahr einen mit 275 000 Mark gefüllten Fördertopf vergeben, um ein Computerprogramm für die einfache, aber sichere E-Mail-Verschlüsselung mithilfe freier, also nicht lizensierungspflichtiger Software zu erhalten. So lange dabei alles unter Linux läuft, war für die Besucher dieser Veranstaltung die Welt offensichtlich in Ordnung. Als nun aber der private Softwareentwickler Timo zugab, dass er es gewagt hat, ein Programm für Windows zu schreiben, das genau dieses Ziel verfolgt, befand er sich schon in ziemlichen Erklärungsnöten. In jedem zweiten Satz mußte er erklären, dass er natürlich auch wisse, das Linux ja eigentlich das einzig wahre System sei.

Als am Ende der Veranstaltung auch noch die Kritik aufkam, die Verzögerung bei dem Projekt des Wirtschaftsministeriums hätten vor allem damit zu tun, dass die Hackergemeinde überhaupt nicht daran interessiert sei, für Windows und damit die Mehrheit der Menschen etwas zu entwickeln, war es ganz aus mit der Harmonie. Denn nichts erschüttert das Weltbild eines Hackers offensichtlich mehr als ein anderes Mitglied des CCC, das Bill Gates und Microsoft nicht genauso verachtet als er selbst.

Mehr zum Kongress im Web
www.ccc.de

Der Tagesspiegel, 29. Dezember 2000