Der Mensch im Fadenkreuz

Anwalt Rolf Gössner warnt vor Risiken der modernen Informationsgesellschaft

Von unserem Redakteur Krischan Förster

Rolf Goessner Bremen. Vor über 50 Jahren schrieb George Orwell sein vielbeachtetes Buch "1984". Geschildert wird der totalitäre Uberwachungsstaat, dessen elektronische Augen jeden Schritt seiner Bürger kontrolliert: "Big Brother is watching you" (Der Große Bruder beobachtet Dich). Das war 1949. Heute, im Jahr 2000, wirken Orwells Visionen überholt. "Ist Big Brother nicht längst Alltag? " , fragt der Bremer Rechtsanwalt und Publizist Rolf Gössner, Autor eines brandneuen Buches. Dabei meint er nicht das Leben im Fernseh-Container sondern die Risiken der modernen Informationsgesellschaft. Laut Gössner geht es nicht mehr allein um den Überwachungsstaat wie bei Orwell, den totalitären schon gar nicht. Aufgrund der technologischen Entwicklung gibt es auch im kommerziellen Bereich heute unzählige Uberwachungssysteme, viele "Little Brothers" (kleine Brüder) . Gössner sieht eine Entwicklung "von der repressiven Disziplinar- zur präventiven Kontrollgesellschaft" .Die computerisiserte und vernetzte Welt habe viele positive Seiten. Doch ihre Risiken seien entweder nicht bekannt oder sie würden verdrängt. "Da ist Aufklärung nötig." Sein Buch "Big Brother & Co." soll einen Beitrag dazu leisten.

Das Problem: "In der Informationsgese1lschaft merken die Menschen oft gar nicht, was hinter ihrem Rücken alles passiert, wer Welche Daten erfasst, wie sie zusammengeführt werden und welche ÜberwachungsmÖglichkeiten existieren." Gössner präsentiert das ganze Spektrum und wie auch unbescholtene Bürger ins Fadenkreuz von staatlichen und kommerziellen Datenschnüfflern geraten können. Etwa durch Videoüberwachung in Kaufhäusern, Tankstellen, Innenstädten und am Arbeitsplatz, bei Lauschangriffen auf Wohnungen, verdachtsunabhängigen Straßenkontrollen, Sicherheitsüberprüfungen in Behörden und Firmen; durch die Überwachung von Telefongesprächen und beim Surfen im Internet. "Wir hinterlassen im Alltag - bewusst oder nicht - pausenlos Datenspuren. Eine Kundenkarte oder das Einkaufen per Computer kann Informationen über das Konsumverhalten liefern. Peilsignale von Handys, über 48 Stunden bei den Telefongesellschaften gespeichert, ergeben ein perfektes Bewegungsbild des Nutzers. Videobilder aus einer von 500000 Kameras bundesweit dokumentieren das Sozialverhalten von Tausenden von Passanten. "Deshalb mÜssen wir bei Behörden und kommerziellen Anbietern hinter die Fassade schauen. Wenn der Einzelne nicht weiß, was mit seinen Daten geschieht, ist das ein Verstoß gegen seine informationelle Selbstbestimmung". Denn nur Inaktivität oder Verzicht schütze letztlich vor einer Erfassung. Bei vielen potenziellen Opfern der Überwachung,so Gössner, gebe es die Tendenz zu sagen "Ich habe doch nichts zu verbergen". Das zeige, wie wenig sensibel mit diesem Thema Datenschutz noch umgegangen wird. "Dabei gibt jeder ein großes Stück seiner Freiheit preis," Und die Entwicklung zum "gläsernen Menschen" gehe weiter.

Daher seien Regelungen nötig, die Missbrauch verhindern. "Die Probleme des Datenschutzes müssen politisch immer wieder auf den Tisch", fordert Gössner. Bisher sei nicht einmal die EU-Richtlinie zum Datenschutz in nationales Recht umgesetzt.

Rolf Gössner, "Big Brother & CO.", Konkret Literatur Verlag, 32 Mark

Preis für Schnüffler

Bielefeld (kf). Erstmals in Deutschland ist gestern der "Big-Brother-Award" verliehen worden. Die Negativ-Auszeichung eines Bielefelder Computerclubs geht jährlich an Firmen, Behörden und Organisationen, die eklatant die Privatsphäre von Menschen verletzen.

Die Preisträger 2000:

Mit dem gleichnamigen TV -Format hat der "Big-Brother-Award" übrigens nichts zu tun. "Die Sendung hätten wir natürlich auch prämieren können, aber das war uns zu plakativ", sagt Jury-Mitglied Rolf Gössner.

Weserkurier, 28. Oktober 2000