Janet Binder
Die Finger rasen über die Tastatur seines Computers. Maschinenschreiben hat er nie gelernt, die Übung macht's. "Hallo Janolus!" steht auf dem Bildschirm. Die Unterhaltung mit Jancilus kann für Julian beginnen.
Julian Schwarze hat mit elf Jahren angefangen, am Computer seines
Vaters zu spielen. Heute ist er 14 und damit einer der jüngsten
Mailboxbenutzer in Deutschland. Bis zu drei Stunden am Tag sitzt er
vor dem Bildschirm und kommuniziert mit Usern, das heißt mit anderen
Mailboxnutzern. Wie Janolus zum Beispiel, den er gerade über die
Mailbox kennengelernt hat.
Die wenigsten treten in der Mailbox, dem elektronischen Briefkasten,
mit ihrem richtigen Namen auf. Kurz klickt Julian die Infoleiste
an. Hier hat Janolus seine Identität preisgeben. Auch seinen Wohnort:
Halle genau wie Julian. "Bei 3,5 Millionen Online-Benutzern ist das
ein absoluter Zufall. Klasse, da wird er ihn gleich mal anrufen. Am
Wochenende sitzt Julian auch schon mal einen ganzen Tag am
Computer. Seine Eltern finden das nicht so toll. Zumal die
Telefonrechnung deshalb rund 250 Mark im Monat beträgt. Denn am
Computer ist ein Modern angeschlossen und der wiederum an die
Telefonleitung. Nur so funktioniert der Austausch von Nachrichten
oder das Abfragen von Informationen per Mailbox. Doch Julian wiegt
sich in Sicherheit: "Verbieten können meine Eltern mir das Mailen
nicht, denn dann würde ich meinem Vater auch nicht mehr seine
Programme oder das Kopieren von Disketten erklären." Er hofft,
demnächst einen eigenen Rechner zu bekommen, um dann selbst eine
Mailbox zu betreiben. Dann können andere User sich bei ihm einloggen,
das heißt über seine Mailbox mit anderen Usern Nachrichten austauschen
oder Informationen abfragen.
Geld verdienen will er damit nicht.
Aber ernster will er genommen werden. Er gibt in der Mailbox sein
Alter schon gar nicht mehr an. Manchmal allerdings kommt es doch heraus.
Faszinierend findet Julian, daß er mit Hilfe des Computers mit
Menschen in der ganzen Welt sprechen kann, die er noch nie gesehen
hat. Geredet wird natürlich vor allem über Computer. "Nur eine andere
Art von Kommunikation", meint Sven Kornmern, wissenschaftlicher
Mitarbeiter an der Uni Bielefeld, Bereich Medienpädagogik. Er versteht
nicht, warum sich hartnäckig das Gerücht hält, Kids am Computer würden
sozial vereinsamen. Auf sogenannten Brettern werden hunderte von
Themen in der Mailbox angeboten, zu denen sich die User äußern
können. Andreas aus Oldenburg und Daniel aus Karlsruhe unterhalten
sich über das Geschehen in der Lindenstraße. "Ham se wieder einen
abgemurkst" schreibt Daniel, und weiter: "Kommt Ollie wieder der in
den Knast?" Er gibt zu, wie er zur Lindenstraße steht: "Also, im
Moment bin ich jedenfalls voll süchtig."
Der 17jährige Dennis König
aus Bünde verfolgt ab und zu die Diskussionen um die Lindenstraße,
auch wenn er selbst die Sendung kaum kennt. Seit zwei Jahren besitzt
er ein Modern zu seinem Computer. Für ihn ist die Mailbox eine
"Rieseninformationsquelle". "Das ist wie Zeitung lesen, nur
interaktiv", glaubt er. Dennis ist User der Bielefelder Mailbox
Bionic. Hier kann er zum Beispiel Informationen über Parteien und
Organisationen abrufen. Seit 1987 gibt es Bionic - die einzige Mailbox
in Bielefeld, die schon so lange besteht. Zehn bis 15 Mark kostet die
Nutzung von Bionic. Und das ist auch für Schüler wie Dennis
finanzierbar.
Derweil hat Julian bei Janolus angerufen und ihm
verraten, daß er erst 14 ist. Die Hoffnung, daß Janolus das gleiche
Alter hat, bestätigte sich nicht. Er ist um die 20 und beim nächsten
mal Online muß Julian feststellen, daß auch Janolus ihn plötzlich
nicht mehr ernst nimmt. Für Julian steht fest: Sein Alter verrät er so
schnell niemanden mehr. Und wenn er erst mal seine eigene Mailbox
betreibt, wird sowieso alles besser.
Neue Westfälische, 10. November 1995