"Iltis erschoß Kreisrat." So lautete einst die Überschrift in einer Boulevardzeitung, über die man sich heute noch schimmelig lachen kann. "Todkranker Polizist starb 76 Tage zu früh" ist auch nicht übel. Es gibt Leute, die sammeln solch krude Blüten deutscher Tagesschriftstellerei, Nachblättern kann man sie in einer Art Computerzeitung.
Unabdingbare Voraussetzung dafür ist der Besitz eines Modems (ein Gerät, das die elektrischen Signale des Computers in Töne verwandelt, die über das Telefon übertragen werden können). Hat man solch ein Teil, das wie ein Radiowecker aussieht, und einen PC, steht dem Eindringen ins Mailbox-System "Bionic" nichts mehr im Wege.
Vater und Mutter der Bielefelder Mailbox ist das quirlig-agile, vor Ideen berstende Künstlerpärchen Padeluun und Rena Tangens. Die beiden haben in ihrer Galerie "Art d'Ameublement" nie Bilder zum Verkauf an die Wand gehängt, sondern sich stets als Koordinations- und Brainstorming-Zentrum begriffen. Vor sieben Jahren zum Beispiel veranstalteten sie eine 18-Stunden-Session mit den "Vexations" von Satie. Zwei Pianisten wechselten sich damals ab, während das Publikum flanierte, weiße Speisen aß und über Gott und die Welt nachgrübelte. Padeluun erinnert sich gern an die Muße jener von Klavierklängen erfüllten Satie-Zeit.
Seit fünf Jahren sind die beiden nun in Sachen Mailbox und Computerkommunikation unterwegs. In Kanada, auf der CeBIT-Messe in Köln, bei der ars elektronica in Linz und in Kürze auf dem Chaos-Computer-Kongreß in Hamburg, für den sie das Handbuch verfassen. "Managementhektik" ergreift die zwei.
Da sie die Hüter des "Zerberus-Programms" sind, müssen sie jeden Tag Kleinarbeit am Terminal verrichten. Sie nehmen Anrufe per Computer entgegen und sorgen dafür, daß alle Datenpakete in die richtigen Fächer gelangen und das Gespräch mit anderen Mailboxen in Gang bleibt. Insgesamt gibt es davon 200 und etwa 30 000 Menschen, die sich an dieser elektronischen Viel-WegeKommunikation in Deutschland beteiligen.
"Mailbox Ist eine Leserbriefzeitung ohne Altpapier." Eine Zeitung mit 420 Ressorts. In der Computersprache heißen sie "Bretter". Das Brett mit BildzeltungsüberschrIften ist eines der lustigsten. Es werden auch seriöse Beiträge über, Philosophie, Kunst, Chaostheorie eingespeichert. Platz auf den Festplatten finden genauso erste Dichtversuche, aktuelle Kommentare zur Politik oder total dämliche Trabi-Witze.
Man kann einem anderen Menschen einen "Brief" schicken, der so
raffiniert verschlüsselt wird, daß kein Dritter In der Lage ist, ihn aufzurufen. Umweltschützer legten eine Datenbank mit Schadstoffwerten an. Ein Pfarrer aus Lünen sammelte lange vor der Vereinigung sämtliche Vorwahlnummern aus der DDR. Ein Schatz, an dem die Post starkes Interesse zeigt. Rena Tangens führte drei Monate lang mit einem Menschen aus Hamburg per Bits und Bytes einen Dialog über Datenschutzprobleme. Jenen Herrn traf es vor kurzem wie der Blitz: "Ach, Sie sind eine Frau". Bei der Mailbox-Kommunikation kommt es zum Gedankenaustausch, bei dem Geschlecht, Aussehen, Alter keine Rolle spielen.
Computer dienen nur der Rationalisierung oder der Geschäftaabwicklung von Großkonzeren, denkt Otto Normalverbraucher. Aber das "Mailbox"-System zeigt: Es existiert eine von kommerziellen Interessen unabhängige elektronisch betriebene Kommunikation, die keine Zensur kennt und in Teilbereichen durchaus mit Kreativität und Phantasie zu tun hat.
Dieser freie Informatlonsaustausch ist nicht nur eine Zufallserfindung von Computerfreaks. Bei Padeluun und Rena Tangens steckt eine Utopie dahinter, Die Vorstellung einer humaneren Welt, in der ganz viele Menschen über die technische Bildung verfügen, um an den Errungenschaften der Zeit aktiv Anteil zu nehmen.
Da wir uns In Deutschland befinden, sind die Bielefelder
MailboxFreunde in einem Verein organisiert: "FoeBuD e. V." (Verein zur
Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs). Wer
mitmachen oder sich informieren möchte, ist jeden ersten Sonntag Im
Monat ab 15 Uhr zum "Public Domain" genannten Treffen im Bunker
Ulmenwall eingeladen. Oder man kann bei Padeiuun und Rena Tangens In
der Galerie anrufen - ganz altmodisch per Telefon: (0521)
175254.
Alexandra Jacobson
Die Galerie "Art dAmeublement" in der Bielefelder Marktstraße 18 sieht aus wie ein Geschäftsbüro. Aber die Vorstellung von Padeluun und Rena Tangens Über Kunst fällt auch recht unkonventionell aus. Die zwei haben dafür gesorgt, daß Bielefeld an der "Mailbox"-Bewegung
Neue Westfälische, 13. November 1990