Berichte über Rechtsradikale und Kinderpornographie im Netz sind enorm aufgeblasen

Ein Gespräch mit Rena Tangens über "Apokalyptische Reiter", Internet-Hype und Schwarze Netz-Bretter

Bielefeld mag nicht zu den aufregendsten Städten in Deutschland zählen, doch was Computernetze anbelangt, ist es das ge wiß. Denn die "Bionic"-Mailbox und der "Verein zur Förderung des bewegten und unbewegten Datenverkehrs" (FoeBuD) haben hier ihren Sitz. Der FoeBuD engagiert sich für Datennetze und ist - mit dem Hamburger "Chaos Computer Club" - wohl der bekannteste Verein in diesem Bereich. Mit einer der Gründerinnen, der ComputerKünstlerin Rena Tangens, sprach CHANCE Reporter Olaf Kaestner.

CHANCE: Es wird viel übers Internet geschrieben. Ist das schon ein Netz-Hype?
R. Tangens: Ja. Der Internet-Hype, eine riesige Medien-Luftblase, ist zwar erst 1994 richtig losgegangen. Seitdem reden aber alle übers Internet, und viele denken, sie müßten da hinein. Das geschieht vor altem über Schulen und Universitäten. Das frei und archaisch strukturierte Internet wächst aber zu schnell, als daß die langjährigen User anderen vermitteln könnten, was die Umgangsformen sind.

CHANCE: Was meinst Du damit?
R. Tangens: Es geht nicht nur darum, etwas aus dem Netz zu saugen, sondern auch etwas hineinzugeben. Viele verstehen das Internet als Datenbank oder elektronisches Schlaraffenland, das nichts kostet, Sie begreifen nicht, wie genial das Netz ist. Es ist eben kein Fernseher mit unendlich vielen Kanälen, aus dem ich mir etwas aussuchen kann, sondern ich kann auch selbst senden. Dazu gehören auch die eigene Meinung und eigene Anliegen. Ich finde dort Leute, mit denen ich nicht nur gemeinsam schreiben, sondern auch etwas verändern kann.

CHANCE: Warum gehen "Bürgernetze" bei der Berichterstattung leer aus?
R. Tangens: Viele Journalisten bekommen bei den kommerziellen Anbietern einen kostenlosen Zugang - da wundert es nicht, daß sie gerade deren Angebote wahrnehmen...

CHANCE: Wie funktionieren Bürgernetze genau?
R. Tangens: Bürgernetze waren früher einzelne Maitboxen. Das sind nicht nur elektronische Briefkästen, sondern elektronische Zeitungen, die nach unterschiedlichen Rubriken eingeteilt werden. Es können alle schreiben und neue Themen anregen. Durch den Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 haben viele Menschen gemerkt, daß es nur wenige unabhängige Medien gibt. Damals war es kaum möglich, an aktuelle Strahlenwerte zu kommen. Es gab Institute, die diese Werte hatten, aber keine Zeitung fanden, die sie veröffentlichten. Da kam die Idee auf, ein unabhängiges Medium zu schaffen und die verstreuten Mailboxen zu einem Netz zusammenzufassen. Die User rufen jetzt nicht nur ihre Maitbox mit lokalen Informationen an, sondern die Mailboxen tauschen Informationen auch untereinander aus.

CHANCE: Welche Themen sind vertreten?
R. Tangens: Das reicht von Greenpeace, dem B.U.N.D., über die "Kritischen Aktionäre", Parteien, Gewerkschaften, die Frauennetze "FemNet" und "Woman" bis zu Unterhaltungsangeboten. Viele waren in den Bürgernetzen vertreten, bevor sie mit Seiten ins WWW gegangen sind.

CHANCE: Die meisten Nutzer kennen nur Angebote im World Wide Web. Wie unterscheiden sich die Themen in Bürgernetzen von den dortigen Netzen?
R. Tangens: Die Präsentation ist anders. Wenn etwa ein Unternehmen im Internet "präsent" ist, bedeutet dies oft nichts anderes, als daß dieses sich eine neue, aufwendigere Vistenkarte zugelegt hat. Aber in Newsgroups, den "Schwarzen Brettern" der Mailboxen, ist das anders.

WWW wird oft mit "Welt-Weit-Warten" übersetzt

Dort gibt es kein festes Programm, sondern einen regen Austausch. Ein wesentlicher Unterschied zwischen WWW-Seiten und Mailbox-Netzen besteht auch darin, daß ich bei den Web-Seiten die ganze Zeit online sein muß, auch wenn sich eine Verbindung aufbaut - und das wird mit der Zeit teuer. WWW wird deshalb oft mit "Welt Weit-Warten" übersetzt. Bei den Bürgernetzen dagegen sind Programme üblich, mit denen ich das bestelle, was mich wirklich interessiert. Das hole ich mir als Paket in den Computer, trenne die Verbindung und kann in. alter Ruhe lesen und antworten. Das spart Kosten, und das Netz wird nicht so belastet. Ein Beispiel ist Ex-Jugoslawien, wo sich die Friedensgruppen in den verschiedenen Landesteilen über solche Netze verbunden haben. Mit drei Leitungen können dort etwa tausend Leute bedient werden, das wäre sonst völlig unmöglich.

CHANCE: Viele Politiker fordern, die Netze unter Kontrolle zu stellen, um so etwas gegen Kinderpornographie, radikale Potit-Gruppen oder die bösen Hacker tun zu können. Wieweit ist das realistisch?
R. Tangens: Im Netz gibt es nichts, was es im sonstigen Leben nicht auch geben würde. Die Berichte darüber sind enorm aufgeblasen, weit dies die Skandalgeschichten sind, die etwas hergeben. Dann kommen Storys über die Mafia, Terroristen, Rechtsradikale und Kinderpornographie. Wir nennen das die "Vier apokatyptischen Reiter", weit die schon zu Mailbox-Zeiten immer wieder ausgegraben wurden. Wenn ich ein entsprechendes Angebot im Netz aufrufe, darf ich mich auch nicht wundern, wenn ich dann pornographische Abbildungen sehe.

INFO:
Weitere Infos zu Bürgernetzen gibt es jeden Montag bis Freitag beim FoeBuD unter Telefon 0521/175254 von 17 bis 19 Uhr. Dort kann man auch erfahren, wo es lokale Mailboxen gibt, und wie man sie erreichen kann.

Chance, Juni 1996