Neue Westfälische 26. März 1994
Von Stefan Hauptmeier
Bei vielen löst das Stichwort Computer eine Reihe von Assoziationen aus: langweilige Büroarbeit, komplizierte Technik ("Computerfreaks") oder die Vision einer überwachten Welt ("1984"). Daß die Computertechnologie eine völlig neue Art der Kommunikation möglich macht, ist bislang nahezu unbemerkt an der Öffentlichkeit vorübergegangen. Dabei ist nur sehr geringes technisches Wissen notwendig, um sich in die Netze einzuschalten. Und Bielefeld ist einer der Orte der Bundesrepublik, an dem die Diskussion über den kritischen Umgang mit dem neuen Medium am angeregtesten geführt wird.
Ein Beispiel: Als der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien ausbrach, wurden zwischen den verschiedenen Landesteilen die Telefonverbindungen gekappt - natürlich lag eine freie Kommunikation der Bürger nicht im Interesse der jeweiligen Machthaber. Mit Hilfe der Bielefelder Bionic-Mailbox wurde eine Verbindung wiederhergestellt: Computerbesitzer aus Serbien, Bosnien und Kroatien rufen bei internationalen Mailboxen an und können so Nachrichten austauschen. In einem dafür eingerichteten Brett führen ausländische Friedensarbeiter ein englischsprachiges Tagebuch über ihre Erlebnisse in Zagreb und Sarajevo, das in der ganzen Welt gelesen werden kann und eine Gegenöffentlichkeit zu den herkömmlichen Medien bilden will.
Rena Tangens von FoeBud (Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs mit Sitz in der Marktstraße) faßt die Vorteile dieser Kommunikationsart zusammen: "Da das Netz aus vielen Stationen besteht, kann sich der Informationsfluß auch an Hindernissen vorbei einen Weg bahnen. Eine Zentralinstanz (Sender, Verlag), die eine Kontrolle ausüben könnte, wird überflüssig." Viele erfuhren von den Mailbox-Netzen zum ersten Mal während des Golfkriegs: Als die Medien vom amerikanischen Informationsbüro gleichgeschaltet waren, gab es in den Brettern Berichte von irakischen und kuwaitischen Augenzeugen, die die Nachrichtensperre unterliefen.
"Jeder kann Rückfragen an die Informanten stellen und Kommentare dazuschreiben", erläutert Rena Tangens. "Während bei herkömmlichen Medien ein Redakteur eine Informationsauswahl vornimmt, bleibt den Mailbox-Lesern dieses selbst überlassen." Bericht und Leserkommentare stünden gleichberechtigt nebeneinander, auch einander widersprechende Artikel. "Das wäre in einer Zeitung undenkbar."
Den Bürgern komme so eine neue Mündigkeit in der Informationsauswahl zu. "Natürlich wird die Menge der verfügbaren Nachrichten stark anwachsen", sagt Rena Tangens. "Deshalb wird eine der wichtigsten Kulturtechniken zukünftig Kompetenz in der Auswahl von Information sein." Außerdem würde die Diskussionskultur - durch die bisherigen eingleisigen Medien zum Verkümmern gebracht - wiederbelebt. "Da jeder gleichberechtigt mitreden kann, diskutiert auch der Punk mit dem Schlipsträger, also Leute, die im realen Leben nie zusammen kommunizieren würden", sagt Padeluun, einer der FoeBud-Gründer. Auch wenn es zum Streit kommt: "Einen elektronischen Gummiknüppel hat man bislang noch nicht erfunden."
"Brechts Radiotheorie ist hierdurch praktisch verwirklicht", sagt Jens Ohlig, Pressesprecher von FoeBud. Brecht hatte in den zwanziger Jahren gefordert, daß jeder Empfänger des Radios zugleich die Möglichkeit zum Senden eigener Nachrichten besitzen solle. Die Mailboxen sind ein zweigleisiges Kommunikationsorgan -"damit besteht erstmalig die Möglichkeit zu Freiheit und Demokratie in der Medienlandschaft", glaubt Jens Ohlig. Die bisherige Konsumhaltung im Umgang mit Medien würde aufgebrochen - "jeder kann als aktiver Teilnehmer auch Nachrichtenproduzent werden". Daß dadurch auch eine große Menge an Unsinn oder Belanglosigkeiten ins Netz ausgeschüttet würden, sei eine Begleiterscheinung, die das Medium als solches nicht diskreditiere.
Padeluun sieht einen der Gründe für die gegenwärtige Politikverdrossenheit in der Tatsache, daß die Politiker unerreichbar für die Bürger in ihren Stuben sitzen. Padeluun: "Politiker sind auf einen gewissen Input an ungefilterter Information von den Bürgern angewiesen. Beispielsweise könnten sich Bürgerbewegungen in Gesetzesdiskussionen einschalten, etwa eine Nachricht schicken: Euer großes Problem haben wir auf lokaler Ebene folgendermaßen gelöst..." Keinesfalls soll die Netzkommunikation den direkten Umgang mit anderen Menschen ersetzen. Rena Tangens: "Leute, die viel über das Netz kommunizieren, vereinsamen nicht im realen Leben, im Gegenteil: Viele gewinnen darüber neue Freunde." Schreiben, "eine im Schwinden begriffene Kulturtechnik", würde wiederbelebt.
Dem Datenschutz kommt in den Netzen eine große Bedeutung zu, da elektronisch transportierte Mitteilungen anfällig sind für unerlaubten Zugriff. FoeBud propagiert deshalb eine konsequente Verschlüsselung, die vom Verfassungsschutz mißtrauisch beäugt wird. Mittlerweile haben auch Neonazis und Kriminelle eigene Netze aufgebaut und nutzen sie für ihre Zwecke. Jens Ohlig: "Natürlich besteht das Risiko des Mißbrauchs, doch darf das nicht als Vorwand dienen, die Freiheit aller anderen einzuschränken." Keinesfalls wolle man es zulassen, daß - wie in den USA - der Staat den Zentralcode für alle Verschlüsselungen besitzt.
Ziel von FoeBud ist der kritische und schöpferische Umgang mit neuester Technologie. Jens Ohlig: "Wir wollen emanzipatorisch wirken. Das eint unsere Mitglieder, die die unterschiedlichsten Weltanschauungen besitzen." Daß sich diese Kommunikationsart durchsetzen wird, ist für die FoeBud-Leute sicher: "In einigen Jahren wird der Umgang mit Mailboxen so alltäglich sein, wie es heute telefonieren oder fotokopieren ist."