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MORGEN? DAS WAR SCHON

VON GOLDRAUSCH IST DIE REDE. AUF DER CEBIT, DER GRÖSSTEN COMPUTERMESSE DER WELT, WIRD DAS INTERNET ALS BRANCHE DER ZUKUNFT GEFEIERT. PETER GLASER HAT DIE ZUKUNFT BEREITS HINTER SICH. ALS EINER DER ERSTEN GING ER ONLINE. DANN PASSIERTE IHM EINE DUMMHEIT.

VON CHRISTOPH AMEND

Es fällt ihm schwer, sich in der Welt da draußen zu bewegen. Seit zehn Jahren leidet er an Rheuma. Die Krankheit hat seine Gelenke befallen, die Knie machen nicht mehr mit. "Morgens nach dem Aufstehen", sagt er, "ist mein ganzer Körper eine Stunde lang steif." Bewegen kann sich der Schriftsteller Peter Glaser in dieser Welt nur noch mit Krücken. Außerhalb seiner Wohnung benötigt er einen Rollstuhl, der steht ein paar Meter entfernt.

Es war vor zwei Jahrzehnten. Peter Glaser war damals jung. 22 Jahre alt Ein Freund lud ihn zu sich nach Hause ein, um ihm "etwas" zu zeigen. .Auf dem Tisch stand ein Fernseher, davor eine Art Plastikschreibmaschine", erinnert sich Glaser. Der Freund schaltete den Fernseher ein, ein grünes Licht blinkte auf. Dann tippte Glaser fünf Buchstaben in die Schreibmaschine. "Und plötzlich stand auf dem Bildschirm Hallo! Ich hatte ein Wort ins Fernsehen geschrieben !"

Am Anfang also war ein Missverständnis. Der Fernseher war ein Computer-Bildschirm. Zur Erinnerung: 1980 war Deutschland noch eine computerfreie Zone. Nur ein paar Informatiker und Studenten wussten, wie so etwas aussieht: ein PC ein Personal Computer. Peter Glaser sollte von seinem Hallo-Erlebnis nicht mehr wegkommen. Er kaufte sich einen dieser Fernseher mit Plastikschreibmaschine. Von nun an gehörte er dazu.

Zwanzig Jahre später. Wenn es einen Vordenker gibt in Deutschland in Sachen Computer und Internet, dann ist es Peter Glaser. Er hat die Computer-Zeitschrift "Konrad" entwickelt und eine Kolumne im Magazin "Tempo" geschrieben, "Reporter im Internet. Bereits vor fünf Jahren erschien sein Internet-Buch 24 Stunden im 21. Jahrhundert", in dem er vorausgesagt hat, was inzwischen eingetreten ist: Die ganze Welt zappelt begeistert im Netz. Allein in Deutschland haben nach einer aktuellen Studie fast 20 Millionen Menschen Zugang, die Zahl hat sich allein im letzten halben Jahr verdoppelt Peter Glaser hat sogar seine Frau im Netz kennen gelernt Doch dazu später.

Wenn an diesem Wochenende auf dem Messegelände in Hannover Tausende von Besuchern an den "Cebit-Ständen nach den neuesten Trends im Geschäft der Kommunikation suchen, sitzt Peter Glaser in seiner Drei-Zimmer-Neubauwohnung in Hamburg. Erstmals sind auf der Cebit, der größten Computermesse der Welt, das Internet und seine Wirtschaftskraft Thema Nummer eins. Die Deutsche Bank kündigt eine Milliarden-Investition für ihren künftigen Internet-Auftritt An. jede Firma drängt es ins Netz, um teilzuhaben am so genannten E-Commerce, dem Handel im Internet. Von einem "Goldrausch" ist die Rede, aber auch davon, dass die Verweigerer unter den Unternehmen bald aus dem Markt gedrängt werden. "Jeder braucht das Internet", sagt Bundeskanzler Gerhard Schröder. "Ein Spiel nach neuen Regeln", schreibt der "Spiegel". Und wie ist das für Peter Glaser, den Mann, der schon seit zwanzig Jahren dort ist wo nun alle ankommen? Der bereits hinter sich hat was der Rest des Landes als Zukunft empfindet?

Der Kapitän ist so weit. Abflug

Seine Krücken lehnen an der Wand hinter ihm. In der Wohnung braucht er sie nicht Draußen ist es dunkel geworden, "ich arbeite und lebe am liebsten nachts". Langsam hat er sich vom Wohnzimmer ins Arbeitszimmer begeben, ein paar Schritte nur, aber anstrengend ist es trotzdem. Nun sitzt er vor seinen Apparaten wie ein Pilot im Cockpit Um ihn herum Technik. Telefon, Fax, Modem, Kopfhörer - "damit ich freihändig sprechen kann" -, vor ihm ein riesiger Monitor und natürlich die Tastatur. Er tippt sein Passwort ein, kontrolliert seine elektronische Post die Tasten machen klack, klack, klack Endlich angekommen in der Welt die sich hinter dem Bildschirm verbirgt Kapitän Glaser ist so weit Abflug.

Was er alles erlebt hat "Früher galten Online-Leute als Verrückte. Bei einer Cebit sind einige von uns mal der damaligen Ministerin Rita Süssmuth begegnet", sagt er. "Sie war ganz interessiert, aber ihre Berater haben sie weggezogen, nach dem Motto: Diese Internet-Leute sind eh nur versprengte Linke." Auch Hans-Olaf Henkel Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und früherer Europa-Chef des Computerherstellers IBM, erinnert sich bestimmt nicht gern an jenen Moment vor fünf Jahren, als er klagte: "Bisher kann ich nur Forschungsminister Rüttgers per Infonet erreichen." Henkel meinte das Internet Und heute? Heute vermittelt die Wirtschaft ganz selbstverständlich den Eindruck, das Internet sei schon immer ihr Zuhause gewesen.

Peter Claser sucht nach einem Bild, das die Entwicklung beschreibt: "Der Erfolg des Wirtschaftsphänomens Internet ist vergleichbar mit dem Siegeszug der Fußgängerzonen. Ob in Hamburg, Berlin oder Paris, sie sehen überall gleich aus. Von Gucci bis McDonald's finden Sie immer dieselben Ladenketten, und permanent werden Sie aufgefordert Ihr Geld auszugeben." Nur dass im Internet die Ketten Amazon.com heißen oder buecher.de. "Vielleicht", sagt Glaser, "werden die Menschen irgendwann wieder fragen: Wo, bitteschön, ist die Altstadt."

Die Altstadt und der Neubau. Das immer rasantere Tempo in der Entwicklung des Internets und das Nischendasein von gestern, das ist der Einschnitt der in den letzten Monaten vollzogen wurde. Ist Peter Glasers Sehnsucht nach seiner Altstadt nicht einfach nur der Gedanke aller Pioniere? Hätte ausgerechnet er sich das träumen lassen, dass er mal denken würde: Früher war es besser? Und: Ihr Neulinge habt doch keine Ahnung?

Einen beleidigten Eindruck macht dieser Mann nicht, geboren in Graz, "der zweitgrößten Provinzstadt Österreichs", wie er sagt Ein freundlicher Mensch, so wie er dasitzt dem Gast Pizzacracker anbietet einen Tee aufstellt und im gedehnten österreichischen Akzent Anekdoten erzählt Eine Melodie liegt unter seinen Geschichten. Eine etwas traurige Melodie, weil es für ihn wohl nie mehr so sein wird, wie es mal war.

Willkommen bei der NASA

Um zu verstehen, was Peter Glaser mit der Fußgängerzone meint muss man wissen, wie das Internet entstanden ist Anfang der sechziger Jahre wurde es als Datenübertragungs-Möglichkeit zwischen Militärstützpunkten in den USA erfunden. Die Universitäten übernahmen das System und starteten 1969 den Vorläufer des Internets. So schickten Professoren ihre Forschungsergebnisse hin und zurück. Zunächst erfuhr die Öffentlichkeit davon nichts.

Manche, die sich in den achtziger Jahren für Computer und ihre Sprache interessierten, fingen an zu experimentieren - und Gesetzesgrenzen zu übertreten. Sie drangen in fremde Computer ein, machten sich illegal in Datennetzen breit Sie nannten sich Hacker. In Deutschland gründeten sie 1995 einen Verein, den Chaos Computer Club. Verantwortlich für die Vereinszeitschrift: Peter Glaser. Freunde Glasers jedenfalls knackten 1987 einen ihnen unbekannten Rechner. Plötzlich stand auf dem Bildschirm: "Welcome to the NASA Headquarters". Sie waren im Computerzentrum der amerikanischen Raumfahrt gelandet Nicht nur das. Vor ihnen tat sich ein Netz aus 120 Rechnern auf - sie hatten das Internet entdeckt Wenn man so will, begann also alles mit einem kleinen Verbrechen.

"Das war eine unglaubliche Nachricht", erinnert sich Glaser. "Eine neue Welt tat sich vor unseren Augen auf." Und da das Internet kein Zentrum und keine Zentrale hat, sondern aus unzähligen Knoten besteht, die miteinander verbunden sind, begann die Zeit des Abenteuers. Es galt Neuland zu erkunden. "Wir fühlten uns wie Christopher Columbus." Von Geld verdienen war keine Rede, schließlich war der Zugang zum Netz immer noch kompliziert Glaser aber stürzte sich hinein, hüpfte durchs Netz, von Seite zu Seite, begeistert über all die Eindrücke: Jemand filmte live eine durchlaufende Kaffeemaschine irgendwo in Amerika! Der Sonnenuntergang in Cambridge! Und was hatten die Paläontologen an der University of California gerade herausgefunden?

Das Geschäft machten andere. Von 1991 an mit der Erfindung des World Wide Web. kurz WWW, einer Art Netz im Netz, war der Zugang kinderleicht Man musste kein Experte mehr sein, um ins Internet zu gelangen. Die Wirtschaft wurde neugierig.

Kurz bevor das World Wide Web erfunden wurde, bekam Peter Glaser ein dickes Knie. "Ich hab' mir nichts weiter dabei gedacht", sagt er. Erst als die Schwellung nicht mehr zurückging, fragte Glaser einen Arzt Diagnose: Rheuma. Hoffnung? "Meine Krankheit ist unheilbar." Rheuma kann so oder so verlaufen, bei Glaser lief es nicht gut Der körperliche Verfall vom dicken Knie zum steifen Körper, ist nicht zu stoppen, höchstens zu verlangsamen mit Gymnastik. Was Glaser tat? Nichts dergleichen. "Ich habe das erstmal verdrängt, noch mehr gearbeitet als vorher." Er schrieb Artikel, von der "Zeit" bis zum "Stern", jubelte über seine neue Welt "ich war ein Missionar". Man könnte auch sagen: Er flüchtete in die zweite Welt in der er sich weiter flink bewegen konnte. Die Verdrängung funktionierte lange gut erst vor einiger Zeit hat er begonnen, mit dem Rollstuhl kleine Touren durch Hamburg zu fahren, um seinen Körper zu trainieren -und sich der Wirklichkeit wieder zu stellen. Wenn er einem die Tür aufmacht, in stark gebückter Haltung, die Augen sehen einen von unten an, fällt ihm das gescheitelte Haar ins Gesicht Wenn er sich bewegt sieht sein Gesicht angestrengt aus. Erst wenn er sitzt, ist er in Position.

Die Magie der Worte

Wer ihm zuhört und in seinen Büchern liest merkt, dass Peter Glaser ein Glücksforscher ist, einer, der am liebsten alles um sich herum aufladen möchte mit Pathos und ein bisschen Kitsch. Den in der Dunkelheit leuchtenden Bildschirm nennt er "mein Lagerfeuer", ein Kapitel in "24 Stunden im 21.Jahrhundert" trägt den Titel: "Eine Maschine, die leuchtet". Das Licht, das Glück. Wird man nachts zum Esoteriker? "Nein", sagt er, "aber die Suche nach dem Glück ist schon mein Weg." Vielleicht schmerzt ihn deshalb der Weg, den sein Internet nun geht Denn den Schriftsteller Peter Glaser hat die Wirtschaftskraft nie interessiert, "für mich war das Internet meine weiße Wand". Eine Fläche, auf die er all seine Gedanken projizieren konnte. Eine Welt, deren Bewohner sich selbst "Netizens" nennen, eine Kombination aus "Net" und "Citizen". Und ein Ort, an dem sich einer wie Peter Glaser verlieben kann.

Seine Frau nannte sich "Rosa", sein Pseudonym hieß "Poetronic", und noch immer erzählt Glaser begeistert wie er "Rosa" kennen lernte: "Nur über die Magie der Worte". Für den Schriftsteller ging ein Traum in Erfüllung. "Ich fühlte mich, als ob ein Buch zu mir spricht" In seinem "24-Stunden"-Buch hat er das erste leibhaftige Treffen nach drei Monaten Online-Flirt beschrieben. "Wir küssten und umarmten einander schwerelos von dem schönsten Gefühl." Die Heirat folgte und acht Jahre Zusammenleben.

Heute ist die Ehe geschieden, "für beide war es eine Niederlage", und auch sonst lief nicht alles wie erhofft Das Rheuma wurde schlimmer, und Peter Glasers einzige Schwester erkrankte an Krebs. Kurz darauf starb sie. Und mitten hinein kam das, was er heute "meinen persönlichen Super-Gau" nennt. Für das Computermagazin "Konrad", ein Ableger des "Stern", schrieb er vor knapp zwei Jahren eine Reportage über die deutsche Hackerszene. Anlass: der Kinofilm "23", der eine wahre Geschichte aus den achtziger Jahren nacherzählt Damals hatten zwei Hacker aus Hannover ihr Wissen an den russischen Geheimdienst KGB verkauft Glaser schrieb, nannte die Hacker und ihre Freunde beim Namen. Keine Pseudonyme. "Konrad" veröffentlichte ihre wahre Identität. Die Szene tobte.

Freunde wenden sich ab

Ein Betroffener behauptete, er habe wegen des Artikels seinen Job verloren. Beweisen konnte er das nicht Ein Sprecher des Chaos Computer Clubs - Glasers alter Heimat - schimpfte in der "Süddeutschen Zeitung: "Wir hatten vereinbart, keine echten Namen. (...) Einige der gedruckten Geschichten sind sogar völlig falsch." Glaser erklärt das mit einem Fehler in der Produktion: "Ich hatte veranlasst. dass alle echten Namen ersetzt werden sollten. Und ich war zu schludrig, um das noch mal zu kontrollieren." Doch Zweifel blieben: Hatte Glaser seine alten Freunde verraten? Zehn Tage lang ging er auf Büßerreise, besuchte die Hacker in Berlin. "Überall kam mir eine Eiseskälte entgegen, als ob ich einen Kühlschrank betreten hätte." Am Ende habe man sich zwar vertragen, sagt Glaser. Aber es muss schrecklich gewesen sein für ihn. Ausgerechnet seine Freunde, mit denen er sich nachts im Netz verabredet hatte, drehten ihm den Rücken zu. Hört man sich heute in der Szene um, merkt man, dass der Name Glaser seitdem ein wenig an Glanz verloren hat.

Die Zeit der Zukunfts-Euphorie ist für ihn vorbei. Glaser möchte nun ein Buch schreiben, in dem er auf seine zwanzig Computer-Jahre zurückblickt Der Autor hatte immer schon ein zweites großes Hobby, die alten Ägypter. Und es sieht aus, als werde er auch in Sachen Internet zum Archäologen. "Naja", sagt er, "die Zukunft werde ich hoffentlich nicht ganz aus dem Blick verlieren." Wenn er den Boom von seiner Hamburger Hinterhof-Wohnung aus betrachtet wenn er von jungen Bastlern hört, die längst Millionäre sind, bedauert er es nie, nicht ins Geschäft eingestiegen zu sein? Er war doch am rechten Ort zur rechten Zeit. Immerhin, Andreas Schmidt ein ehemaliger Kollege Glasers, ist heute Chef von AOL Europa. "Wissen's", sagt er auf österreichisch und rutscht auf seinem Stuhl hin und her. "Ich werd's probierea Aktien von T-Online. die gehen bald an die Börse, an den. wie heißt's gleich noch?" An den Neuen Markt? "Richtig, richtig."

Im Netz ist der Goldrausch ausgebrochen. Und in Hamburg lebt ein Internet-Vordenker. der so ernüchtert ist wie seit zwanzig Jahren nicht mehr.



© WWW-Administration, 21 Jan 03