DIE ZEIT 19. Januar 1990
Von Klemens Polatschek
Der Kampf für eine bessere Welt gebiert ständig häßliche Wörter. Am Anfang war die "Betroffenheit". Die von der Zerstörung der Umwelt Bewegten sahen sich um und fanden, daß altes Technische schlecht sei. Jetzt aber sollen mit dem großen Ziel der .Vernetzung" die zersplitterten Kräfte sich sammeln, sollen auch die Engagierten vom "beschleunigten Informationsaustausch" profitieren, der die moderne Welt präge und den Konzernen und Obngkeiten alle Voneile verschaffe. Beschleunigung" und .Information" jedoch, so lautet die Rechnung, ist gleich Computer. 1984 parodierte der Hamburger Hacker-Verein Chaos Computer Club alte Science-fiction mit Worten, die jetzt wahr werden: .Hier ist ein Märchen von übermorgen. Man siedelt auf fernen Rechnern. Die Mailboxen sind als Wohnraum erschlossen."
Mailboxen sind inzwischen tatsächlich One, wo die Szene .daheim" ist. Mailboxen (also Postkästen) - das sind Computer mit einem speziellen Programm, das den Austausch elektronischer Post abwickelt, gedacht ursprünglich für die "papierlosen Büros" der Zukunft. Der Absender legt die elektronisch geschriebenen Briefe oder Notizen in eine An Postfach; der Empfänger, der es gemietet hat, ruft sie von dort ab. Die Homecomputer-Szene der Bundesrepublik begeisterte sich Anfang der achtziger Jahre für das neue Medium. Selbstgeschriebene Programme sorgten für die ersten Mailboxen; der Austausch ging und geht dabei nicht über die professionellen Leitungen, die hiezulande "Datex-P" heißen, sondern einfach übers Telephon: vom Computer in ein kleines Gerät namens "Modem", das die Informationen als Gepiepse in die Telephonleitung schicke, an deren anderem Ende die gleiche Gerätschaft aus dem Krach wieder Daten macht.
Der Mensch, der sich mit Hilfe seines Personalcomputers im Wohnzimmer der Tätigkeit des Kommunikationsknechtes widmet, bekommt dafür einen Verwaltungs-Ehrentitel: .System Operator", kurz "Sysop". "Die Telephongebühren meiner Mailbox kosten 200 Mark im Monat", sagt Peter Labudda aus Köln, im freiwilligen Dienst seit neun Jahren. Die angemeldeten Benutzer helfen mit Spenden. Die Arbeitszeit mißt der brave Sysop aber nicht. Was er verwaltet und was die Leute anzieht, sind vor allem die .Schwarzen Bretter": öffentliche Postfächer zu bestimmten Themen, tn die gleich mehrere oder alle Benutzer ihre Texte stecken dürfen.
Bei diesen elektronischen Diskussionsrunden jedoch zeigt das System Schwächen - inhaltliche. "Ich habe das Vergnügen, täglich zehn Meldungen im System zu haben, wo mich irgendwelche Computer-Kids fragen, welcher Rechner besser ist, Amiga oder Atari", klagt Phillip Esche, Sysop in München. Ein wahrer "Schrott an Nachrichten" - müde Scherze über die Technik und Billigangebote für alte Computer-Drucker - beherrschen die Schwarzen Bretter. Die FAZ schrieb: "Es fehlt buchstäblich an Umgangsformen, an kulturtechnischem Know-how für die elektronische Kommunikation. Eine gewisse Ratlosigkeit ist selbst bei Aktivisten unverkennbar." Umweltschutzgruppen mit ihrem sonst "wenig gedruckten Hintergrundmaterial" kämen da gerade recht.
Richtig, die Bewegung will sich ja "vernetzen". Für Mailboxen ist das ein leichtes: Wenn Sysops dasselbe Mailbox-Programm benützen, müssen sie nur ihre Rechner regelmäßig und vollautomatisch die Postbestände austauschen lassen. Das vervielfacht den Diskutantenkreis der Schwarzen Bretter und bringt elektronische Briefe billiger und bequemer zu fernen Adressaten. Kalifornische Freaks entwickelten ein Netz, das sie nach ihrem Hund Fido .Fidonet* nannten; heute ist es mit 5000 Rechnern rund um den Erdball der größte Hobby-Mailbox-Verbund. In der Bundesrepublik ist der Höllenhund "Zerberus" stärker - zumindest das heimische Programm dieses Namens. Mittlerweile gibt es gut achtzig Zerberus -Mailboxen. Politischer, demokratischer Anspruch ist durchaus inbegriffen: Beim letzten Studentenstreik verbreitete das Zerberus-Netz die Neuigkeiten ohne große Organisation; mindestens ein Computer-Kundiger fand sich in vielen Basisgruppen von selbst.
Die neuen Benutzer bleiben trotzdem von Texten besonderer An nicht verschont. Im Juni dieses Jahres setzte einer einen Notruf ab: "Also irgendwie werde ich in bezug. auf das Zerberus-Netz immer nachdenklicher. Da rummeln sich Rechtsradikale im Brett POLITIK und beschweren sich, wenn Nachrichten mit Hetzpropaganda ihrer Gesinnungsgenossen gelöscht werden." Vom Schwarzen Brett mit dem Titel SEX ganz zu schweigen. .Achtzig oder neunzig Prozent der Benutzer einer Zerberus-Box sind eben normale Computer-Kids", erklärt Udo Schacht-Wiegand, Zerberus-Sysop in Hannover.
Ein paar Leute setzen daher auf ein "Netz im Netz": .LINKSys" oder Linkes Internationales Netz- und Kommunikations-System, gestartet vom Münchner Sozialistischen Computer-Club, verbindet zehn Zerberus-Mailboxen. Gegen Neonazi-Texte schützt es sich mit "einer Art Zensur": Der Sysop liest Meldungen für Schwarze Bretter vorab und löscht sie im Fall des Falles. Und sonst? Natur schrieb über das Angebot: "Neben wenigen habhaften News findet sich unter den 40 Stich Wörtern von ‚Antifaschismus' bis ‚Umwelt' auch viel unausgegorener, zufällig zusammengetragener Info-Schrott." Gemeint sind zum Beispiel ein Jahr alte Zeitungsmeldungen, die als Neuigkeiten durch die Rechner gaukeln. Das neue Medium Mailbox erlebt wohl gerade seine Kindertage und zeigt sich schwer erziehbar. Ein Umweltaktivist hat es kürzlich einmal ausgezählt: Von 500 Meldungen blieben gerade 6 für ihn brauchbare übrig.
In der Szene herrscht ja trotz des Aufwandes das radikaldemokratische Prinzip, daß Information nichts kosten dürfe. Für Umweltarbeiter mit Ansprüchen bleibt daher oft nur der Anlaufpunkt im Ausland: "Greennet" heißt der Londoner Einstiegsknoten in ein weltweites Netz einiger politischer Mailboxen, professionell geführt, daher am besten über Datex-P-Leitungen zu erreichen und teurer. Zahlreiche Friedens- und Umweltgruppen bestücken die Schwarzen Bretter des Systems mit ihren Meldungen - aktuelle Daten zu atomar bewaffneten Schiffen zum Beispiel. Auch von Umweltgruppen, die sich den Anschluß nicht leisten, hört man oft, Greennet sei .im Moment das einzig wahre". Burkhard Luber, Herausgeber eines internationalen Friedensrundbriefs, sagt, er brauche Greennet "ein-, zweimal die Woche". Das Zerberus-Netz sei ihm zu lokal orientiert und zu umständlich zu bedienen. Er fragt sich, wozu man mit einem eigenen deutschen System .das Rad noch einmal erfinde".
Der Grund ist nicht der geheime Wunsch der Szene nach komplizierten Beziehungen. Die Entscheidung wurde wesentlich bestimmt von einer Einrichtung der Deutschen Bundespost - genannt .der Gilb", des Chaos Computer Clubs alter Gegner -, der schon immer "mittelalterliche Raubrittermethoden" vorgeworfen wurden. Daß die billigen .Modems aus Taiwan hier technisch nicht zugelassen sind, werden die Freaks der Post nie verzeihen. Daß sie außerdem die Datex-P-Leitungen teuer verkauft, vor allem für Nutzer außerhalb von Großstädten, hat die Szene eben mit dem bundesdeutschen Mailbox-System zu umgehen versucht: Viele kleine Mailboxen lassen jeden Benutzer zum Telephon-Ortstarif an seine elektronische Post kommen; zudem haben die Programmierer Zerberus auf Sparsamkeit beim Telephonieren dressiert.
Ende 1988 - beim Jahreskongreß des Chaos Computer Clubs, derj[ährlichen Leistungsschau alternativen Computergebrauchs - wurde ein Projekt namens "Compost" gestartet, das der leidigen Zersplitterung ein Ende machen soll: Es ist ein neues Netz im Zerberus-Netz und zugleich ein Netz über die Netze. Der Hannoveraner Informatiker Udo Schacht-Wiegand will 1990 alle technischen Hürden überwunden haben: Ein reibungsloser Übergang zwischen Greennet, Zerberus und Fidonet soll die Öko-Mailbox-Szenc endlich zusammenfinden lassen. Das Interesse von Bürgerinitiativen und Alternativgruppen sei "ganz enorm".
Professionelle Umweltschüizer sehen das Thema noch mit Skepsis. Die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen etwa macht sogar Datenbank-Recherchen mit dem Computer, aber für "den schnellen Austausch mit den 46 Beratungsstellen" genügt ihr durchaus der Bildschirmtext der Post. Dieter Viefhues, Fachhochschulprofessor in Bremen, verkoppelt dort mit dem Projekt "UBIS" fünf Umweltberatungsstellen, entwickelt Datenbanken und "Gutachten-Prozessoren" fortgeschrittenster An - Mailboxen hält er "derzeit für die Spielwiese von Hackern".
Horst Becker vom "Katalyse e.V.", dem bekannten Öko-Institut m Köln, hat am Compost-Gründungstreffen teilgenommen, denn das neue System sollte auch die rund achtzig bundesdeutschen Öko-Institute verbinden. Bislang sei es nicht dazu gekommen, sagt Becker, die Kommunikation der Institute funktioniere einfach anders: "Man ruft sich an, man kennt sich." Den Versuch, die eigenen Katalyse -Nachrichten in den Compost-Probebetrieb einzuspeisen, hat er bald aufgegeben. Mit den Informationen aus dem Netz konnte er "nicht viel anfangen", dagegen seien seine eigenen Meldungen für viele eine Attraktion gewesen. "Hart gesagt: Da wird Müll produziert und durch die ganze Bundesrepublik geschickt. Es ist schon eine Szene, die auch einfach konsumiert. Mailbox, das ist oft wie Fernsehen."
Entsprechend plötzlich kann man davon gefesselt werden. Beim Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) in Bonn war im Oktober noch Vorsicht angesagt, obwohl man sich bessere Kommunikation mit den rund 1700 Orts- und Kreisgruppen gewünscht hat. Jetzt installiert der BUND eine eigene .Zerberus-Mailbox. Dem Hort des alternativen Computer-Mißtrauens, den Grünen in Bonn, stellte Udo Schacht-Wiegand im Frühsommer 1989 den Compost-Plan vor. Die Pressestelle der Partei ist schon länger Kunde eines großen Mailbox-Unternehmens, das auch Telex-, Telefax- und Datenbank-Zugang anbietet. Und die Szene-Netze? "Wir nutzen sie kaum", hieß es immer.
Seit einigen Wochen aber besitzen die Grünen eine eigene Zerberus-Mailbox. Sie ist eine zusätzliche Publikationsmöglichkeit für Pressemitteilungen und internes Informationssystem. "Wir bieten es auch den Landesgeschäftsstellen an. Ich denke, daß sich das in den nächsten Monaten ausweitet", sagt Bundesgeschäftsführer Eberhard Walde, dem die rasche Einführung am Herzen lag: "Ich will einen Beitrag leisten, daß es die weltweite Vernetzung des ökologisch-alternativen Bereichs gibt."
Hoffentlich hat er den eigenen Haufen nicht überrumpelt. Die traditionelle Basis-Diskussion zu Computern und Mailboxen laufe noch. .Wir müssen eine Möglichkeit finden, die Datenschutzbedenken zu berücksichtigen. Mit Leuten, die das prinzipiell ablehnen, ist aber schwer zu diskutieren", sagt Walde - und prompt hatte ja auch ein Autor der uz protestiert: "Der Sog der Technokirche reißt auch die mit, die es eigentlich besser wissen müßten. Soziale Fortschrittskonzeptionen haben viel mehr an gesellschaftlicher Attraktivität verloren als technizistische Fortschrittsszenarien."
Etwas klarer, aber auch mit mehr Abstand kommentiert Wolfgang Schröder vom Hamburger Verein Mensch-Umwelt-Technik: Die Schwierigkeiten entstünden wohl, weil zwei Welten aufeinanderprallen. .Es gibt Leute, denen geht es um die Politik, und es gibt Leute, die sind eher fasziniert von der Technik." Schröder, der selbst kein Gegner der Netze ist, plant, die alternative Berichterstattung zur Den Haager Nordsee-Konferenz im März 1990 in alle verfügbaren Systeme zu schicken. Die Gegenöffentlichkeit soll womöglich schneller wachsen, als die Presseagenturen ihre Meldungen verbreiten.
Eine selbstkritische Frage läßt die Szene selten aus: "Machen wir mit all den Projekten nicht die Technik erst hoffähig?" Eigentlich liefere man der Post noch die Bedarfsargumente, mit denen sie das Integrierte Telephon- und Datennetz ISDN einführt - ein Prototyp "sozial unverträglicher Technik". Heiderose Wagner, Sprecherin des Instituts für Kommunikationsökologie (IKÖ) in Dortmund, einem 1988 entstandenen Sammelpunkt der Computer-Kritik, plädiert für Vorsicht; beim IKÖ-Gründungstreffen hätte das Thema Mailbox "generelles Unbehagen" ausgelöst. Vor der Anwendung solcher Systeme müsse klar sein, in wessen Interesse und für wen man das mache.
Das kleine Häuflein Szene-Techniker - das IKÖ galt manchen als "ziemlich nervige fundamentalistisch geprägte Vereinsmeierei" - versteht Anwürfe schwer: "Wir entwickeln Schritt für Schritt bedarfsorientiert auf der Basis bisher gemachter Erfahrungen", sagen sie, die für eine gute Sache löten und programmieren und doch so viel Undank ernten.
Vielleicht machen sie einen grundlegenden Fehler und haben eine falsche Verkaufsstrategie. Steffen Wernery etwa, Mitgründer des Chaos Computer Clubs, verkauft seinen Versuch "BtxNet" so: "In einer Zeit, in der schnelle Kommunikationssysteme unser aller Leben ,beschleunigen', brauchen auch die Bürger entsprechende Netze, um demokratisch auf das Weltgeschehen reagieren und eigene Ideen austauschen zu können." BtxNet ist in Wahrheit gut, aber einfach Technik. Es spart der Szene Geld und düpiert zugleich den alten Gegner: Der Bildschirmtext-Dienst der Post, kurz Btx, große Hoffnung und großer Flop des vergangenen Jahrzehnts, wird zum elektronischen Briefbeschwerer degradiert. Eigentlich sollte Btx der breiten Masse wunderbar farbige Bildschirmseiten - bevorzugt Versandhauskataloge - ins Haus zaubern, im ganzen Land zum Telephon-Ortstarif. BtxNet dagegen legt die elektronische Post komprimiert im Btx-System ab. Jede angeschlossene Mailbox kann dann konkurrenzlos billig ihren Datenbestand aktualisieren - alles völlig legal, aber sicherlich die letzte An von Btx-Benüt-zung, die die Post für sinnvoll oder nur möglich erachtete.
Seit Juni 1989 spürt die Szene dafür neuen Druck. Eine Novelle des Gesetzes zur Einschränkung von Artikel 10 des Grundgesetzes nämlich verschafft den bundesdeutschen Geheimdiensten auf dem liberalisierten Telekommunikationsmarkt scharfe Augen und Ohren. Neue Dienstleister müssen bei einer gerichtlich verfügten Überwachung helfen und alle persönlichen Nachrichten eines Benutzers aushändigen - wer sich weigert, muß mit Freiheitsstrafe rechnen. Das Postministerium wiegelt zwar ab: Diese Vorschriften seien auf Mailbox -Betreiber nicht anzuwenden. Aber wer traut .dem Gilb? Die Mailbox-Fans jedenfalls nicht. Einer warnte vor einigen Monaten per elektronischer Post davor, "daß Sysops mit kleinen Gesetzesübertretungen für Geheimdienste erpreßbar werden". Im Ernstfall sei das dann der Anlaß, .das Zerberus-Netz von heute auf morgen dichtzumachen, sobald es gewissen Leuten nicht mehr in den Kram paßt".
Bevor aber die Vernetzung wieder durch die alten Kulturtechniken Kassiber und Geheimtinte ersetzt werden muß, wird sie noch schnell grenzenlos. Im April 1 989 schloß das Öko-Institut Freiburg einen Vertrag mit dem staatlichen Maxim-Gorki-Institut in Moskau, der freien Grünen Bewegung der Sowjetunion und den bundesdeutschen Robin-Wood-Aktivisten, deren Vereinsmagazin dem Computereinsatz schon regelmäßig eine Seite widmet. Die sowjetischen Partner stellten zehn Leute für das Projekt ab, bekamen siebzehn Computer mit Zubehör und liefern per Mailbox Umweltdaten. Und man spricht über aktuelle Probleme: Aus Sibirien kam eine Anfrage zur Technik der Sondermüllverbrennungsanlage, die eine bundesdeutsche Firma bauen soll; die Umweltschützer hierzulande erhoffen sich Informationen über die Freilandversuche mit genmanipulierten Pflanzen, die hiesige Chemiefirmen der Gesetzeslage wegen in die Sowjetunion auslagern.
Die Zerberus-Mailbox des Freiburger öko- Instituts nützen auch bereits ein Sechstel der 300 bundesdeutschen "Energiewende-Komitees"; wenn eine Gruppe einen überregional brauchbaren Presseiert zur Bundestarifordnung schreibt, dann können andere Komitees ihn sich über die Mailbox besorgen und schnell ein eigenes Flugblatt damit anfertigen. Und wahrscheinlich werden aus Freiburg auch einmal bundesdeutsche Umweltdaten nach Moskau gepiepst werden - wenn ein echter High-Tech-Plan in Vollbetrieb geht.
Das "Meßrutz" - ein Projekt im Global Challenges Network (GCN) des Alternativnobelpreisträgers Hans-Peter Dürr - soll solide ökologische Daten für die gesamte Bundesrepublik den Angaben der Politiker gegenüberstellen. Geigerzähler werden ständig messen, Umweltschützer regelmäßig Werte zu Wasser, Luft und Nahrung in die Münchner GCN-Mailboxen senden. 1989 brachte man es zu zwei "Pilotanwendungen", aber Phillip Esche, der an der Meß-Software arbeitet, sagt: .Wir haben gemerkt, daß wir nicht so schnell realisieren können, was wir möchten." Einfache und zuverlässige Meßmethoden zu finden ist schwierig genug; ursprünglich wollte man 1990 für 50000 Teilnehmer bereit sein. Ein solch gigantisches Projekt löst fundamentalistischen Kritikern den Griffel: .Die digitale Vermessung des ausgepowerten Landes verspricht den Öko-Sheriffs Lebenssinn und der Computer-Industrie Zugang zu neuen Marktsegmenten." So stand es zu lesen.
Die lang ersehnte Öffnung im kaputten Osten beschleunigt den Antrieb der Umwelt-Hüter eher noch. Die Grünen in Bonn stellten eine Mailbox in Berlin auf; DDR-Umweltgruppen spielen damit ihre Texte ins Zerberus-System ein, um sich "authentisch verbreiten" zu können, wie Eberhard Walde sagt. Nur Geld-, Leitungs- und Motivationsprobleme hinderten den Chaos Computer Club Ende Dezember daran, den Jahreskongreß 1989 spontan in Ost-Berlin abzuhalten. Am gewohnten Ort Hamburg verlangten dann einige Hacker, Mailbox-Fans und Umweltschützer aus beiden Deutschlands die sofortige Elektronisierung der DDR-Szene: Die Opposition müsse, solange alles erlaubt oder machbar sei, ein Funk-Datennetz namens "Packet Radio" installieren - ein System, das aus frequenzrechtlichen Gründen kaum irgendwo ernsthaft erprobt worden ist; mit einigen Dutzend Vermittlungsrechnern, billig von bundesdeutschen Bastlern angeliefert, sei die Sache im wesentlichen geritzt. .Wir brauchen die Kommunikation jetzt", sagten Leute aus der DDR-Umweltbewegung, die noch kaum einen Computer besitzt, von funktionierenden Mailboxen ganz abgesehen, .um Daten auszutauschen und der Bevölkerung gewisse Sachen zugänglich zu machen".
Der Kongreß bewies Sinn für Realitäten und blieb indifferent. Die taz schneb von einem "bestechenden Konzept". Packet Radio sei ja .in der BRD verboten - "in ‚Notstandszeiten' kann die Linke durch einfaches Abklemmen vom Telephonnetz mundtot gemacht werden". Seit jeher plagt die Szene der Alptraum, daß im Ernstfall ein Vollzugsbeamter im "Gilb"-Hauptquartier einfach den Stöpsel mit der Aufschrift .Die Linke" zieht. Ein detailliertes Szenario dieses Polit-GAUs sind die Freaks allerdings bis heute schuldig geblieben.
Die Technik für den Tag danach haben sie immerhin vorführbereit. Auf dem Chaos-Kongreß moderierte der US-Hacker Captain Crunch von Hamburg aus eine weltweite "Videophon-Konferenz" über das .Verhalten von Hackern bei Naturkatastrophen. Das Videophon erlaubt es, in einer Schweigepause der Teilnehmer Bilder zu versenden. Der Absender zählt, so ist es Brauch, "3, 2, l - go", drückt einen Knopf, es pfeift, und dann baut sich Zeile für Zeile auf den angeschlossenen Monitoren ein grobes Schwarzweißbild auf. Die kalifornischen Hacker erzählten, nach dem Erdbeben 1989 hätten sie als erstes, da der Strom ausgefallen war, ihre Videophone an die Autobatterie angeschlossen und sich von weit entfernten Freunden erste Fernsehbilder der Katastrophe senden lassen. Das System habe soziale Zukunft, versicherten sie, Menschen würden es nach großen Umweltkatastrophen benützen und hätten sofort das wichtige Gefühl, nicht alleingelassen zu sein.
Hier ist wieder ein Märchen von übermorgen: Die Welt versinkt im Ökologischen Kollaps. Was tun? Kein Problem. Einer wird das Knöpfchen schon noch finden: 3, 2, l - go.