von Hans Georg Schröter
inige Verkehrsregeln für die Datenautobahnen haben die sieben führenden Industriestaaten (G-7) auf der Brüsseler Konferenz zur vielbeschworenen Informationsgesellschaft schon aufgestellt. Vorfahrt auf dem Weg dahin geben sie Markt und Wettbewerb. Und längst rangeln Konzerne rund um den Globus um das erwartete Megageschäft. Auf der Computer- und Telekommunikationsschau Cebit zeigen sie ihre Visionen und das, wäs technisch bereits möglich ist. Das Tempo, das Politik und Wirtschaft auf der Reise in die neue Ära vorlegen wollen, macht aber vielen Menschen Angst. Wer versteht schon, worum es geht bei Info-Schnellstraßen oder Multimedia? Arbeitsplätze drohen auf der Strecke zu bleiben, und die, denen es an Geld oder Wissen zum Mitfahren fehlt, könnten abgehängt werden.
»Sind Ihnen 26 Fernsehkanäle zuviel? Wird Ihr Arbeitsplatz in Zukunft eingeebnet, um Platz für die Datenautobahn zu schaffen? Ist Ihr Computer zwei Tage nach dem Kauf schon wieder vollkommen veraltet?« Setzen Sie sich erst mal hin, rät der Bielefelder Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs (Foebud) und lädt auf der Cebit in Hannover, die am Mittwoch beginnt, ins Mediencafe ein. Bestellen Sie auf dem »Rastplatz« an der Informationsrennstrecke einen Kaffee oder Tee und bewahren Sie einen klaren Kopf, schlägt der Künstler und Mitinitiator »padeluun« vor.
Der Verein setzt sich dafür ein, daß jeder Zugang zu öffentlichen Informationen über Mailbox-Netze hat. Eine Mailbox ist zunächst einmal ein ganz normaler Computer, der über ein Modem mit der Telefonleitung verbunden ist und 24 Stunden pro Tag am Draht hängt, um Anrufe von anderen Rechnern entgegenzunehmen. So entsteht eine Art elektronisches Postamt, in dem man sich ein Fach mieten sowie Nachrichten empfangen und verschicken kann. In dem Kaffeehaus in Halle 15, wo es unter dem Titel »Chancen 2000« einmal nicht um den größtmöglichen Profit mit Hard- und Software geht, wird Interessierten die Möglichkeit geboten, weltweite Kommunikation über Datennetze zu erleben. Experten erklären an mehreren Terminals, wie das geht, zum Beispiel etwas über die Sorgen von Frauen in Tansania zu erfahren. Das Projekt soll den Messebesuchern zudem Gelegenheit geben, sich nicht nur wegen, sondern auch trotz der neuen Technik persönlich zu treffen und den friedlichen, direkten Umgang miteinander zu üben. Mediencafes sollen in Bielefeld und später in vielen anderen Städten entstehen.
Szenenwechsel: In Halle 16 präsentiert die Deutsche Telekom unter demk Motto »Wir verwirklichen Visionen« ihre Vorstellungen vom künftigen Kommunikationsmarkt. Die »Terravision« beispielsweise bietet einen »interaktiven Zugang zu weltweit gesammelten Bildinformationen über den Zustand unseres Planeten« - auf einem »virtuellen Telespaziergang« versteht sich. In Halle 2 baut der US-Konzern Novell eine "Spiegelsäuleninstallation« auf. Geleitet durch seine Netzwerkprogramme kann man hier diverse Softwarewelten durchlaufen. Mit »Arbeitsplätzen der Zukunft« lockt Compaq Computer in Halle 11. Gleich in sieben Hallen zeigt der Branchenprimus IBM »solutions for a small planet«. Für Microsoft hat sich Bill Gates persönlich zur Messe angesagt. Der Milliardär und Chef des Programmierriesen will in einer Rede gleich bis ins Jahr 2005 blicken.
Schon heute freilich gehören Arbeiten, Lernen und Spielen am Personalcomputer (PC) für viele zum Alltag. Ebenso üblich ist es, Reisen über Rechner zu reservieren oder Bankgeschäfte mit ihm zu erledigen. Eine neue Dimension werde erst dadurch erreicht, erklärt Siemens-Nixdorf-Manager Horst Nasko, daß die Informationstechnik nicht nur in Wirtschaft, Verwaltung und vielleicht individuell in Privathaushalten genutzt wird, sondern daß sie »breiteste Schichten der Bevölkerung« erfaßt. Darin sieht er den »Quantensprung«, der in die Informationsgesellschaft führt.
Ihre Bausteine liegen nach Vorstellungen der Europäischen Union (EU) in Schichten übereinander. Basiselement sind die Netze (Telefon, Satellit, Kabel). Für die anvisierte Multimedia-Welt, in der Fernsprecher, Computer und Fernseher sowie die entsprechenden Branchen Telekommunikation, Informationstechnik, Unterhaltungselektronik und Medien verschmelzen, müssen sie besonders leistungsfahig sein. Denn es gilt, Sprache und Musik, Texte und Daten, bewegte und unbewegte Bilder zu übertragen. Für solche Netze prägte US-Vizepräsident Al Gore den Begriff des "Information Superhighway". Seitdem sind Datenautobahnen in aller Munde.
Als die für Multimedia erforderliche Technik wird die asynchrone Übertragung (ATM) angesehen. Sie kann die benötigte Leistung - von kleinen Bandbreiten für Telefongespräche bis zu großen für Bilder oder gar Videofilme - sozusagen automatisch bereitstellen. Diesem Thema gilt auf der Cebit eine Sonderschau, bei der es vor allem um die internationale Standardisierung geht. ATM ist nur ein Beispiel für die vielen technischen Hürden auf dem Weg in das neue Zeitalter. Denn noch können die Systeme unterschiedlicher Hersteller nicht reibungslos zusammenarbeiten.
Die zweite Schicht im Bauplan der Informationsgesellschaft sind Grunddienste wie elektronische Post oder Videokonferenzsysteme, mit deren Hilfe die Netze benutzt werden können. Darauf setzen dann die sogenannten Anwendungen auf, die dem Nutzer auf ihn abgestimmte Lösungen bieten sollen. Beispiele dafür sind Telearbeit, Fernlernen, Tele-Einkauf, Homebanking sowie Unterhaltungsdienste, die über einen PC oder einen Fernseher mit Zusatzbox ins Haus geliefert werden.
Bei der vierten Schicht geht es um die eigentlichen Inhalte. Hier werden flüchtige - etwa persönliche Mitteilungen und Geldbuchungen - von länger vorgehaltenen wie Spielfilmen und TV-Produktionen oder Fachinformationen in Datenbanken unterschieden. »Mit diesen Inhalten, ihrer Vollständigkeit, Aufbereitungsform und Qualität steht und fällt das gesamte System der Informationsgesellschaft«, meint Wolfgang Stock. Für den Experten des Ifo-Instituts entscheiden sie über Erfolg oder Mißerfolg. Er befürchtet angesichts der Betonung der Telekommunikation auf der G-7-Konferenz allerdings, daß nicht mehr herauskommt als »ein besseres Telefon«. Noch so schnelle Informationsübertragung bringe allein keinen gesellschaftlichen Wohlstand.
Auch in den Hard- und Software-Baukästen, die die Anbieter auf der Cebit auspacken, steckt vor allem Technik. So präsentieren die Hersteller Geräte, die die Nutzer auf die Infobahnen lenken sollen. Sie sind weit mehr als traditionelle Rechner und heißen Home Center, All in One, Infotainment-PC oder Maxtasy. Mit der zuletzt genannten Maschine etwa kann man per Infrarot-Fernbedienung auf dem Bildschirm eines der integrierten Geräte auswählen, egal ob Farb-TV, CD-Player, Telefon, Fax, Modem, Anrufbeantworter oder den eigentlichen Rechner.
Dem Schwerpunkt Multimedia, der Integration aller Formen der Informationsdarstellung und -vermittlung, stehen in Hannover diesmal gleich zwei Hallen zur Verfiigung, die Zahl der Aussteller steigt dort von 187 auf fast 300. Noch mehr Möglichkeiten für diese bunte Welt soll der neue Mikroprozessor P6 von Intel bieten. Ob der Nachfolger des Pentium-Chips an der Leine zu sehen sein wird, wollen die Amerikaner aber erst im letzten Moment entscheiden. Beim Microsoft-Konzern, der im Duett mit Intel bisher eindeutig bestimmte, wo es am PC-Weltmarkt langgeht, dreht sich alles um »Windows 95«. Das neue Betriebssystem wird in einer Vorversion erstmals einem breiten Publikum im praktischen Einsatz gezeigt. Diese Basissoftware soll zugleich eine »neue Ära der internationalen Kommunikation« einläuten. Denn das Konkurrenzprodukt zum OS/2 Warp-System von IBM verspricht wie dieses Zugriff auf elektronische Infodienste wie das Internet, das größte Netzgewebe weltweit, und das hauseigene Mierosoft Network. Dieses hält der deutsche Medienriese Bertelsmann für den wichtigsten Wettbewerber seines geplanten Online-Dienstes.
Elektronische Netzwerke werden schon bald fester Bestandteil des öffentlichen Lebens in der Informationsgesellschaft sein, ist sich auch Andy Müller-Maguhn vom Chaos Computer Club sicher. Mit der Entwicklung von Datenautobahnen durch Industrieunternehmen sei es aber nicht getan. Er verlangt die Förderung dezentraler Bürgernetze wie »Linksysteme/CL« und die Errichtung von »Daten-Bürgersteigen«. Öffentliche Stellen müßten über diesen niederschwelligen Zugang erreichbar sein, die Menschen könnten dabei Erfahrungen mit der neuen Technik sammeln. Uberhaupt sollte der Umgang mit dem PC als Verständigungsmittel zum Bildungsstandard gehören. »Wenn Kommunikationswege immer mehr zu einem Wirtschaftsgut werden und Information immer mehr zur Ware wird, kann sich nur noch derjenige umfassend informieren, der entsprechend dafür zahlen kann«, befürchtet das Mitglied der "galaktischen Gemeinschaft«.
Eine soziale Spaltung in »Infoeliten und Marginalisierte« sieht auch Frieder Wolf heraufziehen, wenn die Entfesselung der Marktkräfte vor öffentlichen Interessen rangiert. Dann würden Stadtbibliotheken ausgedünnt, hochwertige Information müßte teuer bei privaten Datenbankanbietern gekauft werden, sorgt sich der bündnisgrüne Europa-Abgeordnete. Würde das Brüsseler Marktmodell Wirklichkeit, stünden auf der einen Seite diejenigen mit genügend Bildung und Geld, um mit den neuen Technologien umzugehen sowie die Geräte und Dienste zu bezahlen. Ausgegrenzt würden jene, deren Portemonnaie ihnen weder die Anschaffung zum Beispiel von Multimedia-PC noch die Nutzung der Dienste erlaubt.
Das Sozialgefüge kräftig durcheinanderwirbeln werden auch "virtuelle Betriebe«, sagt Wolf voraus. Bei ihnen operieren Techniker, Schreibkräfte oder Außendienstmitarbeiter computergestützt und über Netze von unterwegs oder zu Hause statt an Arbeitsplätzen in Büros oder Fabriken. Die Geschäftsleitung habe nur noch die Telependler zu koordinieren und für neue Aufträge zu sorgen. Schon heute seien indische oder russische Softwareentwickler keine Seltenheit, die für Bruchteile westlicher Löhne über Datenleitungen direkt für in der EU ansässige Firmen arbeiten. Die globalen Netze machen es möglich.
Kein Wunder, daß sich auch die Gewerkschaften zu Wort melden. Veronika Altmeyer aus dem Hauptvorstand der Deutschen Postgewerkschaft (DPG) erwartet mehr Bildschirm- und Telearbeit. »Damit bei dieser Entwicklung die Sicherheit der Arbeitnehmer gewährleistet bleibt, müssen sozusagen ,soziale Leitplanken' für Informations-Highways errichtet werden«, schlägt sie vor. Die DPG erörtert daher Konzepte, um neue Formen der Telearbeit tarifverträglich in den Griff zu kriegen. Ihr Vorsitzender Kurt van Haaren schrieb den in Brüssel versammelten Politikern aus den USA, Kanada, Japan, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien ins Stammbuch, sie sollten gefälligst dafür sorgen, daß die Informationsgesellschaft nicht »ein großes Schlachtfeld von Ausgegrenzten, Abqualifizierten und angeblich Minderleistungsfahigen« hinterläßt.
Da die Minister in weiten Teilen den Empfehlungen der Industrie (die FR berichtete) folgten, bestehen die Sorgen um Arbeitsplätze weiter. So meint der DGB-Fachmann Rolf Schneider, die geforderte Befreiung des Telekommunikationsmarktes von den Fesseln der öffentlichen Monopole führe keineswegs dazu, daß eine neue Job-Maschine gestartet wird. Dies zeigten Erfahrungen aus den USA und Großbritannien. Hoffnungen auf bis zu zehn Millionen neue Stellen, die in Europa bis zum Jahr 2000 durch multimediale Anwendungen geschaffen werden sollen, stellt er das hohe Rationalisierungspotential der Informationstechnik gegenüber. Diese Möglichkeiten wollten insbesondere Banken, Versicherungen, der Versandhandel und Touristikunternehmen ausschöpfen. Der entsprechende Umbau von Konzernen mit Hilfe der über Netze verteilten Datenverarbeitung in sogenannten Client-Server-Systemen wird auf der Cebit wieder ein Top-Thema sein.
Ifo-Mann Stock erwartet, daß der Stellenabbau durch Automatisierung und die Schaffung neuer Dienstleistungsjobs sich in etwa ausgleichen könnten. Letztlich hangen die Beschäftigungswirkungen der Informationsgesellschaft nach Ansicht vieler Experten davon ab, ob es gelingt, der breiten Masse bezahlbare und sinnvolle Angebote zu machen. In einer Prognos-Studie werden die Chancen von Diensten wie Homeshopping, Video auf Abruf oder Sparten-TV aber eher verhalten eingeschätzt. Die große Unbekannte ist das Verbraucherverhalten.
Wie Gewerkschaften, Grünen und Bürgergruppen ist auch der Kundenlobby die bisherige Debatte über die neue Gesellschaft zu industrielastig. Die Konsumenten »müssen einfach alles gut finden«, beschreibt Theo Wolsing von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen die weitgehende Ausblendung von deren Interessen. Erst in allerjüngster Zeit beobachtet er eine zunehmende Bereitschaft der Anbieter, die potentiellen Nutzer einzubeziehen. Da diese bisher nicht so begeistert sind wie erhofft, wolle die Wirtschaft offenbar die Wünsche der Verbraucher auch mit Hilfe von deren Lobby erkunden. Doch da winkt Wolsing ab. »Markttests müssen die schon selber machen.«
Zu seinen Forderungen gehören ein zuverlässiger Datenschutz, damit das Verhalten der Kunden nicht gezielt für Werbung ausgenutzt werden kann, ein klarer rechtlicher Rahmen für Geldgeschäfte am Monitor und den Tele-Einkauf sowie eine schnelle Abrechnung möglichst zeitgleich auf dem Bildschirm, damit die Käufer den Überblick über ihre Finanzen nicht verlieren.
Ganz andere Sorgen haben da Menschen in den Entwicklungsländern, zum Beispiel in Afrika. Was die Kommunikation angeht, fehlt es allenthalben an Stromnetzen, Telefonleitungen und Computern. Dennoch kann man in Hannover Kontakte mit Afrikanern knüpfen. Im Mediencafe auf der Cebit baut die Initiative Private und öffentliche Mehrwegekommunikation (Poem) einen »globalen Dorfbrunnen« auf und zeigt, wie man sich mit Hilfe von Netzen über den Schwarzen Kontinent informieren und mit ihm kommunizieren kann.
Frankfurter Rundschau, 04. März 1995