FoeBuD e.V.  ·  Marktstraße 18  ·  D-33602 Bielefeld
http(s)://www.foebud.org  ·  foebud@bionic.zerberus.de

Viel Zulauf und wenig Innovation in Hannover

Rauchende Handies


Barbara Lange

Ihre zehnjährige Eigenständigkeit feierte die CeBIT mit 750 000 Besuchern, die sich vom 8. bis 15. März in Hannover über den aktuellen Stand der Kommunikations- und Informationstechnologie informierten. Trotz und wegen des großen Andrangs wird die kommende CeBIT um einen Tag kürzer und eventuell durch eine herbstliche Consumer-Messe ergänzt

Das waren noch Zeiten, als die Cowboys des Wilden Westens ihre Colts auf den Tisch des Saloons legten, als Zeichen der friedlichen Gesinnung und der Wachsamkeit. CeBIT-Helden aus dem Jahre 1995 benutzen statt dessen ihr zielsicheres Handy, das allgegenwärtige, piepsende Kommunikationsmittel in und zwischen den Hallen, unter Bäumen, in öffentlichen Verkehrsmitteln und anderen Örtchen, mit deren sprichwörtlicher Stille es endgültig aus ist.

Mobiltelefone haben den Massenmarkt und hannoversche Straßenbahnen für sich gewonnen. Welche weiteren Neuigkeiten aus der Branche konnten die 750000 Besucher bei der Betrachtung der Produkte von 6167 Ausstellern aus 59 Ländern während der diesjährigen CeBIT sehen? Da die technische Entwicklung mit einer sehr hohen Geschwindigkeit verläuft, waren revolutionäre Neuerungen schwer auszumachen. In den letzten Jahren gewachsene Technologien entwickeln sich schnell weiter, wie zum Beispiel das World Wide Web, vor einem Jahr noch ein Randthema, in diesem Jahr ein Highlight. Auch die Messe AG war in diesem Jahr über http://www.messe.de im Internet vertreten und hat ihren Server für die Industriemesse (3. bis 8. April) weiter genutzt, hoffentlich mit besseren Antwortzeiten beim Aufbau der Grafiken.

Messehit: Funktelefon und Multimedia

Produkte der Telekommunikation und Multimedia-Anwendungen werden erschwinglich für den Privatnutzer, Video-on-demand lockt den Zuschauer der Zukunft, CD-ROMs werden zur Pflichtübung, durch das multimediale Kommunikationsnetz 'CeBIT '95 MBone-Netz' konnten sich Zuschauer aus aller Welt das Messeprogramm im Fernsehen anschauen. Informations- und Kommunikationstechnologie wachsen zusammen. Solche Produkte waren denn auch nach Aussagen der Berufsverbände von besonderem Interesse, während Unternehmensvertreter schwerpunktmäßig nach integrierten und vemetzten Gesamtlösungen schauten.

'Wieviel Neues kann die Welt vertragen?' konterte ein CASE-Hersteller die Frage nach Innovationen. So ermöglichte auch Bewährtes, wie die Sonderschau 'Das sichere Rechenzentrum', eine gezielte Information über ein bestimmtes Thema, ergänzt durch 307 (Vorjahr: 228) Firmenvorträge, denen 20 500 Besucher (13 900) lauschten. Multimedia, objektorientierte Technologien und Telekommunikation standen dabei im Mittelpunkt des Interesses.

'Bloß nicht noch mehr' wünschte sich Jörn P. Stielow, Vorsitzender des CeBiT-Messeausschusses, für das nächste Jahr. Mit einer dreiviertel Million Besuchern und der doppelten Menge an Ellenbogen hatte keiner der Verantwortlichen gerechnet. Die Aussteller ziehen eine überwiegend positive Bilanz, sprechen von einer Trendwende und können umfangreiche Geschäftsabschlüsse verbuchen. Erst im Februar hatte der Messeausschuß auf Wunsch zahlreicher Aussteller beschlossen, die Dauer der CeBIT ab 1996 aus Kostengründen um einen Tag zu verkürzen, eine Entscheidung, die im nachhinein eventuell anders ausgesehen hätte. Der Zentralverband der Elektrotechnik- und Elektroindustrie (ZVEI) allerdings stellt fest, daß der Inlandsmarkt für Kommunikationstechnik trotz des guten Messeverlaufs auch 1995 weiterhin rückläufig sein werde. Daher sei die Reduzierung auf sieben Tage aus Kostengründen notwendig.

Gestiegene Besucherzahlen, eine erhöhte Kaufbereitschaft, aber auch die Gefahr eines Infarktes stellte Stielow als wesentliches Kennzeichen des diesjährigen Messespektakels fest. Maßnahmen für 1996 wie nur am Wochenende gültige Schüler- und Studentenkarten reichen nicht aus. Eine Differenzierung nach Zielgruppen soll die aktuelle Übernachfrage mindern, die nach Meinung des Vorstandsmitglieds der Deutschen Messe AG, Hubert-H. Lange, das Fachpublikum am Besuch der Stände hinderte. Der Messebeirat erwägt, ab dem kommenden Jahr eine Consumer-Messe zu veranstalten und rechnet mit etwa 200 000 Besuchern und 1000 Ausstellern - 600 bis 800 aus dem Reservoir der CeBIT und 300 zusätzlichen. Die Entscheidung wird bis Mitte Mai gefallen sein.

Infarktgefahr mindern

Für Entlastung sollen 1996 zusätzliche Ausstellungsflächen sorgen: Halle 4 wird in diesem Jahr umgestaltet, eine neue Halle 26 auf dem Freigelände soll mit 28 000 Quadratmetern nach der Halle l die zweitgrößte Ausstellungsfläche werden.

Nicht nur die Messe war infarktgefährdet. Reicht im WWW ein Mausklick zum Surfen rund um den Erdball, bleiben die wichtigsten Accessoires für einen realen Messebesuch: starke Nerven, ein widerstandsfähiger Kreislauf und Schuhe, die etwas aushaken. Reize aller Art wie Techno-Sound, Shows und Animationen, Multimedia, wärmende Scheinwerfer und kühlender hannoverscher Schnee stellten das Immunsystem auf eine harte Probe und warfen die Standbesetzung einiger Firmen auf das Krankenlager, bei IBM sollen es 120 Leute gewesen sein. Noch nie so viele Besucher, noch nie so viele Aussteller, noch nie so viel ... Zu viel?

Angestiegen ist auch die Kompetenz der Besucher: 481 000 Besucher sind 'beratend bis ausschlaggebend' in Einkaufsentscheidungen eingebunden (Vorjahr 426 000), davon kommen 246 000 (232 000) mit konkreten Investitionsvorhaben. Mehr als die Hälfte besuchen ausschließlich die CeBIT und keine andere Messe neben ihr. Innerhalb der Bundesrepublik Deutschland kam der größte Zuwachs aus Süddeutschland. Gezählt wurden 54000 Bayern, das sind 10 000 mehr als im Vorjahr. Aus den neuen Bundesländern reisten 84 000 Interessierte (72 000) an.

Klingelnde Kassen in Australien

Vorläufig zum letzten Mal setzten die CeBIT-Verantwortlichen die Idee des Partnerlandes um: Unter dem Motto 'InTelligent Australia' stellten 170 Unternehmen (25) aus der exportorientierten Informations- und Kommunikationsindustrie ihre Produkte auf 2900 (365) Quadratmetern aus; Dimensionen, die den fünften Kontinent zum fünftgrößten Ausstellerland machten: nach der Bundesrepublik Deutschland mit 3652 Ausstellern, den USA (478), Taiwan (289) und Großbritannien (266).

Mit einem Auftragsvolumen von 200 Millionen US-Dollar konnten die australischen Unternehmen zufrieden nach Hause fliegen, hatten sie doch einen großen Schritt zur Verwirklichung ihres Ziels getan, nämlich der Vervierfachung der Exporteinnahmen bis zum Jahre 2000. Geschäfte wurden mit Firmen aus allen Ländern gemacht, unter anderem mit Schweden, China, Frankreich, USA, und - Norddeutsche aufgepaßt - auch die Justizministerin Niedersachsens interessierte sich für die in Gefängnissen einsetzbare Fingerabtasttechnologie von Fujitsu Australien.

Obwohl der Hauptschwerpunkt der australischen Wirtschaft im asiatisch-pazifischen Raum liegt, war die CeBIT bedeutsam, weil immer mehr multinationale Konzerne Australien als Standort für Aktivitäten in Asien benutzen. In den letzten anderthalb Jahren haben, so John Button, Sonderbeauftragter der australischen Bundesregierung, über 100 Firmen regionale Niederlassungen in Australien gegründet. Aber auch der Tourismus kam nicht zu kurz: 2000 Besucher ließen sich direkt auf der Messe kostenlos ein australisches Visum ausstellen.

Diskussionen, Kunst und Gänse

Weniger um Geschäftsbeziehungen als vielmehr um eine kritische Auseinandersetzung mit Themen der Informationsgesellschaft ging es in Halle 15. 'Computer, Communication & Umwelt' war das Motto der Sonderveranstaltung Chancen 2000, für die sich 12 000 Besucher am Tag interessierten. 7000 Teilnehmer besuchten 48 Veranstaltungen und Streitgespräche, Zahlen, für die sicher auch Prominente wie Rita Süßmuth, Franz Alt, Frederic Vester oder Bundesminister Jürgen Rüttgers, unter http:www.dfn.de/bmbf im WWW zu erreichen, verantwortlich waren.

Hier war auch Platz für leise Töne und bunte Farbe. So malte die Münchner Künstlerin Lucia Dellefant gemeinsam mit Interessierten ein 'interARTives' Gesamtkunstwerk, bei dem die Leinwand zum Bildschirm wird. Ein optisches 'Anklicken' setzt Bilder der eigenen Phantasie frei. Ein Spiel entwickelt sich.

'Wiwiwi?' Ein Objekt der Raum-Klang-Installation 'fragt', fünf andere antworten beruhigend 'nangnangnang'. Bei diesem 'interbabylonischen Kommunikationsmoden', dem Experiment des Verhaltensforschers Konrad Lorenz zur Prägung von Graugänsen nachempfunden, ging es den Bielefelder Künstlern Rena Tangens und padeluun um 'Smalltalk auf höherer Ebene', um eine Illustration menschlicher und netztechnischer Kommunikationsstrukturen. So verstanden, kann ein Gespräch eine Möglichkeit für den Menschen sein, sich der eigenen Existenz und der Anwesenheit der anderen zu vergewissern. Im kommenden Jahr jedenfalls ist die verkürzte eBIT vom 14. bis 20. März wieder auf dem hannoverschen Messegelände zu finden. 'Wiwiwi?'



iX 5/1995

© WWW-Administration, 21 Jan 03