Frank Möcke
Fast 80 prominente Köpfe aus dem In- und Ausland wagten Mitte September im Rahmen einer 'expedition '92' genannten Veranstaltung in München den 'Aufbruch in neue Lernwelten'. Das zweitägige Spektakel über das Lernen des Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Forschung, FWU, ausgerichtet von Baumm und Partner Produktentwicklung, entpuppte sich selbst als Lernexperiment.
In sechs 'Expeditionen' entfaltete sich ein kleines Universum aus Wissenschaft, Technik. Philosophie und Computer unmöglich für einen einzelnen. auch nur einen repräsentativen Querschnitt der weit über 100 Termine wahrzunehmen. Im Mittelpunkt der Betrachtungen stand erwartunos-ernäß der Computer, sowohl als Hoft'nunosträaer hochgelobt als auch als Menetekel einer herzlosen Zeit in Zweifel gezogen.
Besteht die Aufgabe des Lernens und dalnit aller BildL111L1. darin, den Menschen in ein~ kristallklare Lind objektive Wirklichkeit hineinzuführen, also eine von allein Unsinn Lind aller Irrationalität befreite 'digi-Welt'? Oder kann der Mensch die Wirklichkeit gar nicht finden, sie allenfalls eiji~l~iell Lind muß sich mit der Realität von Bildern begnügen, die eine 'analoge' Weit erstehen lassen'.
Psychotherapeut und Kornmunikationsforscher Paul Watzlawick erklärt das Denken aus den Erkenntnissen der Hirnforschung: Die linke Hirnhälfte widmet sich weitgehend den digitalen Wirklichkeiten, die rechte zeigt sich eher den analogen Überlegungen aufgeschlossen. An dem 'Tennismatch' zwischen linker und rechter Gehirnhälfte verdeutlicht der 70jährige bekannte Buchautor Probleme der Wirklichkeitsanpassung Lind das psychiatrische Kriterium der Normalität.
Der Widerstreit zwischen den Aposteln der digitalen Zukunft und den Apologeten herkömmlicher 'analoger' Methoden verlieh der Mammutveranstaltung Farbe, Brisanz und Verve.
Die traditionelle Betrachtungsweise, nach der sich ein Lernender vom Konkreten hin zum Abstrakten bewegt, kehrt der Philosophieprofessor aus Berkeley, Hubert L. Dreyfus, um, wenn er die Phasen beschreibt die ein Erwachsener beim Erlernen einer neuen Fähikeit durchläuft:
In ein konkretes Beispiel gefaßt heißt dies: Ein Fahrschüler legt anfangs Sicherheitsabstände durch Berechnung fest, indem er die am Tachometer abgelesene Geschwindigkeit 'umrechnet'. Der fortgeschrittene Autofahrer schaltet bereits 'nach Gehör'. Kompetente Autofahrer wissen, wie weit sie vor einer Autobahnausfahrtje nach Witterung, Straßenführung und Geschwindigkeit Gas wegnehmen müssen. Erstklassige Fahrer schließlich sind sich intuitiv im klaren darüber, was in einer Situation goetan werden muß.
Der Lernprozeß beginnt so (esehen mit abstrakten Re2ein und endet im Beherrschen eines Repertoires konkreter Vorfälle Lind Erfahrungen. Daher besteht der einzig richtige Einsatz von Computern - so Dreyfus - in seiner Eigenschaft als strenger Ausbilder für Anfänger. Diese nämlich müssen richtiggehend gedrillt werden und hart arbeiten!
Versucht man, den Computer als Tutor über das Anfängerniveau hinaus einzusetzen, tritt ein gegenläufiger Aspekt auf: Der Rechner hält den Lernenden auf dem frühen Stadium der Analyse fest und unterbindet die natürliche Entwicklung eines Repertoires typischer Aspekte und typischer ganzer Situationsabläufe - der Intuition. Sobald man beginnt, eine Fähigkeit zu perfektionieren, findet man sich in der Rolle eines Anfängers wieder.
Und wo bleibt das Positive, Herr Dreyfus? Computer sind in der Lage, im Klassenzimmer schwierige oder unmögliche Simulationen aktiv und phantasievoll zu vermitteln: gefährliche chemische Prozesse, nukleare Reaktionen, den Gang der Evolution, durchs Innere eines Moleküls zu reisen oder mit Lichtgeschwindigkeit die Autobahn entlang zu rasen und Effekte der Relativitätstheorie Zu studieren.
Das letzte Beispiel stammt xon Joseph Weizenbaum, der den CompUtereinsatz in Schulen ebenfalls auf wenige Situationen beschränkt wissen möchte: 'Unsere Kultur wird dadurch am Leben erhalten, daß sie ininier von einer zur anderen Generation übergeben werden muß.' Das ist kein Informatioristransfer im Sinne einer Kopie einer Bit-Reihe - jedes Mitglied der nachkommenden Generation muß die Kultur auf's Neue reproduzieren.
"Zeigt den Kindern nicht am Monitor, wie aus einem Samenkorn schließlich eine große Pflanze entsteht, laßt sie selbst ein Körnchen aussäen und erfahren, wie es unter ihrer Pflege wächst und gedeiht." Zwar lassen sich beliebige Weiten im Computer herstellen, Weiten, in denen der Programmierer seine ganze Macht ausüben kann. Doch in jedem Klassenzimmer finden sich genügend Materialien zum Experimentieren und Erfahrungen sammeln - ohne Computer.
"Vergeßt die alten Herangehens weisen, die Bücher, nicht - bitte, bitte!" Joseph Weizenbaum wird nicht müde, der Allgegenwart des Computers Grenzen zu setzen. Weizenbaum kennzeichnet ein Drittel der US-Jugend als funktionale Analphabeten, die sich allenfalls noch Comics zu Gemüte führen können. Da hilft kein Computer, das liegt auch nicht an den Lehrenden oder den Methoden: 'Die Gesellschaft selbst ist kaputtt' Mailboxen Lesen und schreiben muß können, wer sich an den 'elektronischen Zeitungen unserer Tage' beteiligen möchte. in denen jeder ohne Zensur lesen. schreiben, kommentieren kann: den Mailboxen. Als 'Wiederentdeckung des Briefeschreibens' feiert der Oldenburger Informatikprofessor Peter Gorny diese Form der Kommunikation - in schönem Gegensatz zu einem Workshop des Bochumer Professors für Germanistik, Friedrich Kittler, der den 'Abschied von der Schrift' und 'Computeranalphabetismus* heraufdämmern sieht.
Indes, wie sich herausstellte. stammten die Themenformulierungen gar nicht von Kittler selbst, und mit den Mailboxen wird Kittler mitnichten auf Kriegsfuß stehen, denn er führt aus, 'wenn sich alle durch Grafik und Multimedia verführen ließen, verfielen sie denen, die noch lesen und schreiben können.' Gorny spricht gar von einer 'EMail-Kultur', wobei mir das Wort 'Kultur' einen kalten Schauer über den Rücken jagt, wenn ich an die formale Gestaltung vieler EMail-Beiträge denke. Vor einer 'Wiederentdeckung des Briefeschreibens' wäre erst einmal eine Wiederentdeckung der Rechtschreibung, Grammatik und des Stils angesagt'.
Frauen sind im EMail-Bereich unterrepräsentiert. Rena Tangens von der Bielefelder MailBox AG tritt an, dem weiblichen Element mehr Geltung zu verschaffen. Ihr Workshop-Angebot richtete sich vornehmlich an Frauen - nach einer Einführung sollten die Chancen, die das Netz den Frauen eröffnet, erkundet werden. Auf einer gedachten Zeitreise sollte von den Teilnehmerinnen gemeinsam eine Vision der menschlichen Kommunikation in einer wünschenwerten Zukunft entwickelt werden. Doch wieder waren es in der Hauptsache die Männer, die interessiert am Mailbox-Stand verharrten.
'Wir selbst kommen kaum auf die Idee, uns als niultiniediales Wesen zu bezeichnen, obwohl wir es sind', meint Edouart Bannwart, Lind zählt die multimedialen Eigenschaften des Menschen auf: 3-D-Realtime, Truecolor, Audio (Input, Output), hochgradig interaktiv, parallel verarbeitend und so weiter. Der technologische Sprung ins multii-nediale Zeitalter ist damit nur ein kleiner Schritt auf dem Weg, unsere eigenen Fähigkeiten zu imitieren. Der Berliner Architekturprofessor rechnet noch mit einem Zeitraum von fünf Jahren, bis Multimedia auch tatsächlichen Nutzerinteressen gerecht werden kann.
Ähnlich verhält es sich seiner Auffassung nach mit der virtuellen Realität. Es wird noch Weniger ist mehr Die Mühe der Veranstalter, ein solches Ereignis zu inszenieren, verdient hohe Anerkennung. Jedoch: auf die insgesamt rund 1200 Teilnehmer warteten bis zu 24 Veranstaltungen gleichzeitig. Da gab es natürlich Žrger, vor allem dann, wenn zu einzelnen Workshops nur 25 Personen zugelassen worden waren. Wer gut 800 DM Teilnahmegebühr gezahlt hatte (Studenten 120 DM) war enttäuscht, wenn er vor verschlossenen Türen stehen mußte. Dies galt um so mehr, als einige Veranstaltungen ausfallen oder verschoben werden mußten. Bazon Brock war erkrankt, Peter Sloterdijk raffte am zweiten Tag ein grippaler Infekt hinweg, Heiner Müller etwas dauern, bis 'das Unsichtbare sichtbar und das Stunmie vertont worden ist'. Licht und Akustik, aber auch Klima, Schadstoffe, Gravitation und andere Volumen, die nicht geometrisch erfaßbar sind, werden dadurch anschaulich.
'Wenn diese 'Neuen Welten' als virtuelle Realitäten interaktiv erlebt werden können, zum Beispiel der eigene Körper wirklich im Sinne einer Begehung erlebbar wird, wenn sich der Mensch als Teil eines ehemischen, biologischen und physikalischen Prozesses einmengen kann, wird ein Teil der virtuellen Realität real, die schon heute als Imagination viele virtuell fasziniert.' fand den Gasteig nicht, weil er den Veranstaltungsort mit dem Ortsteil 'Geiselgasteig' verwechselt hatte. Die große Videokonferenz Paris-Gasteig mit Paul Virilio wurde unfreiwillig ihrem Titel 'Mediales Koma' gerecht. Ihr Mißlingen band gleich sechs Referenten und brachte den Terminplan des Donnerstages gehörig durcheinander.
Mit solchen Turbulenzen muß eine Großveranstaltung leben können. Schade jedoch, daß sich die Teilnehmer schweren Herzens entscheiden mußten, denn wenn ein Dutzend hochkarätige Vorträge gleichzeitig stattfinden müssen, wird die Auswahl wirklich eine Qual. Ob da insgesamt weniger nicht doch mehr gewesen wäre? Bereits die Computer-Tomographie, mit deren Hilfe der Arzt äreidimensionale Modelle der Wirbelsäule erstellen kann, zei"t, wohin der Weg gehen kann: Zukünftig kann sich der Arzt via Handschuh in den Körper hinein\ersetzen und sich über die Brille cinen šberblick in die notwendigen Eingriffe verschaffen. 'Ich wäre in Zukunft vorsichtie', so Bannwart, 'wenn ich einer freundlichen jungen Dame mit Sonnenbrille und Handschuhen begegnen würde. Es könnte sich um eine Cyber-Touristin handeln, die sich mit halbverspiegeltem Eyephone gerade in einer anderen 'Welt' befindet und mit ihren Handbewegungen jemand oanz anderen meint.'
Weizenbaum ordnet die Adepten der virtuellen Realität einer wissenschaftlich nicht bcdeutenden Branche zu. Jede Simulation läßt ja die gesamte Weit außen vor - daß heute Donnerstag ist, die Sonne scheint, auf der Venus ein Vulkan ausbricht, das Kind im Nehenraum schreit: 'Stellen Sie sich vor, daß es hier ini Voitragsraum 'virtuelle Nacht' würde. Was wäre das" Alles andere, nur eben nicht Nacht.' Und augenzwinkernd fügt er an: ,Wissen Sie, was ich inirner wieder Coefraot Kiiiii Inan in Virtueller Realitat Sex inachen?' Sprach's und rief laut ins Mikrofon: 'Nein!' (t'Iii) 'So wird's gemacht!' Stets geduldig und freundlich führt
c't, November 1992