Kommunikation und Design = Kommunikationsdesign?

Stellen Sie sich ein liebenswertes Städtchen im Teutoburger Wald vor. Sein Name: Bielefeld. Hier finden Sie (Zitat) "der Welt beste und einzige Galerie für Modernste Kunst". Nach diesem dreifachen Superlativ soll auch der Name genannt werden: Art d'Ameublement. Zwei kreative Menschen, denen es eines Tages nicht genug Kunst gab. Deshalb organisierten Rena Tangens und padeluun 1985 das, was sie "Interregionale Mehrwert Vorstellung" nannten. In sechs Veranstaltungen wollten sie herausbekommen, was denn nun, da alles Kunst und jeder Mensch ein Künstler respektive eine Künstlerin ist, nun denn noch der Berufskünstler zu tun habe. Und sie luden ein: Einen Gärtner, eine Performancekünstlerin, einen Einbrecher, einen promovierten Getriebetechniker, eine (...) Musikgruppe und den Hamburger Chaos Computer Club - alles Menschen, deren Leben Kunst ist, deren Inhalt es aber nicht war, den Anschein zu erwecken, Kunst zu sein.

Ganz fremd und neu war die Kreativitäl der Hacker vom Chaos Computer Club. Weniger das Eindringen in fremde Rechner faszinierte, sondern das, was in diesen Rechnern getan wurde: šber sogenannte Chat- und Mailfunktionen unterhielten sich hier junge Computerfreaks aus aller Weit über dieselbe und die nähere und fernere Zukunft (und das Wetter in Honolulu oder Australien oder Bielefeld).

Da waren Menschen und kommunizierten. Sie verwendeten Hochtechnologie und gingen mit dieser um, als telefonierten sie nur oder würden mal eben eine Fotokopie machen. Und das mußte nicht nur in fremden Rechnern stattfinden. Längst wurde fleißig an eigenen Programmen zur Kommunikation programmiert, primitiv noch, auf zum Lächeln reizenden Rechnern. - Just in den jetzigen Zeiten haben sich diese Programme zur Marktreife entwickelt. Datennetze entstehen - allein im bundesdeutschen Zerberus-Netzwerk (auch Schweiz und ™sterreich) sind 1991 250 Computer in verschiedenen Släd-. ten miteinander vernetzt. Zirka 20000 potentielle Leserinnen sind daran angeschlossen. MailBox-Kommunikation heißt das schwierige Wort. Doch gehen wir versuchsweise der Reihe nach vor.

Was eine MailBox ist

Eine MailBox ist ein (meist) ganz normaler Computer, der über ein Modem mit der Telefonleitung verbunden ist und 24 Stunden am Tag am Telefon hängt und Anrufe von anderen völlig normalen Rechnern entgegennimmt. Er fungiert - wie das englische Wort "mailbox" schon nahelegt, als ein (elektronisches) Postfach. Hier können Nachrichten empfangen und versendet, für andere 1 eilnehmerInnen hinterlegt, weitergeleitet und archiviert werden. Und dies nicht nur innerhalb der eigenen MailBox (also dem Computer, wo ich selbst zum Telefonortstarif anrufe), sondern wenn die MailBox einem entsprechenden Netzwerk angeschlossen ist - auch überregional oder sogar international. Die einzelnen MailBoxen rufen sich nachts über das normale felefon vollautomatisch an und tausehen Mitteilungen untereinander aus. Auf diese Weise wird meine Nachricht weitergeleitet, bis sie die angegebene Empflinger-MailBox erreicht.

Neben der privaten Post gibt es die öffentlichen Nachrichten, die in sogenannten Brettern" (bulletin boards) abgelegt werden und dort allen Teil nehmerInnen zugänglich sind. Dieser Bereich einer MailBox entspricht einer überregionalen Tageszeitung mit Politik- und Wirtschaftsseite, Feuillefort, Regional- und Kleinanzeigenteil plus einem vielfältigen Fachzeit. schriftenangebot z. B. aus dem Bereich Umweltschutz oder Telekommunikation. Aus diesem Angebot kann sich jede/r seine/ihre WunschZeitung zusammenstellen; Seiten/ Themen, die nicht interessieren, brauchen nicht nur nicht gelesen, sondern gar nicht erst gekauft" werden. Eine MailBox ist eine leitung ohne Altpapier", bemerkte auch schon die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Der wichtigste Unterschied sowohl zur Zeitung als auch zu fast allen sogenannten Neuen Medien ist aber, daß MailBoxen echte Zweiwegkommunikation ermöglichen. Hier gibt es nicht den spärlich genutzten AlibiRückkanal (wie z. B. Zuschauertelefort beim TV oder das Publikumsgemurmel bei der Vernissage), sondern hier ist im Medium selbst die Trennung zwischen Konsumenten und Produzenten tatsächlich aufgehoben. In einer MailBox haben alle TeilnehmerInnen die Möglichkeit, jederzeit selbst zu veröffentlichen, zu berichten kommentieren. Und zwar nicht Zin einer Lese rbriefecke, sondern an der gleichen Stelle wie der ursprüngliche Artikel.

Weiterhin gibt es Konferenzsysterne, bei denen mehrere Telefonleitungen gleichzeitig zur Verfügung stehen, wo sich die Teilinehmerlinnen auch zum direkten Dialog online" treffen können. Ein MailBox-Netzwerk ist also gleichzeitig Treffpunkt, Informationssystem und Publikationsmediuin für alle, die Zugriff auf einen Computer (egal, was Für einen - über das Netz und ASCII sind alle kompatibel), ein Modern und ein Telefon haben. Daher die Forderung nach öffentlich zugänglichen Terminals. So kommt ein MailBox-Netzwerk dem "socially benificial information process", den Marianne Brun in dem Buch "Designing Society" beschreibt, schon recht nahe. Nur, daß es nicht ein maschinelles Superhirn gibt, sondern einen lebendigen Organismus, der aus einer Vielzahl autonomer menschlicher Einzelwesen besteht, die in ihrer Gesamtheit das kollektive Wissen und Bewußtsein des Netzwerkes - die Matrix bilden: Frag doch das Netz .

Cafehaus

Der Anruf bei einer guten MailBox läßt sich mit einem Cafehausbesuch vergleichen. Ich kann in Ruhe meine Post oder eine der vielen ausliegenden Zeitungen lesen, Geschäfte abschließen, mit Freunden und Freun. dinnen ein Schwätzchen halten, gleichzeitig selbst die Augen wandern lassen, ein wenig der lautstarken Diskussion am Nebentisch zuhören, mich auch mal woanders hinsetzen und mitreden, neue Leute kennenlernen, mich und meine Ideen präsentieren. Da gibt es natürlich auch welche, die nur hierherkommen, um über Rechner zu fachsimpeln, politi. sche Flugblätter zu verteilen oder schnell ein Veranstaltungsplakat aufzuhängen. Aber die brauche ich ja auch nicht zu lesen.

Und was macht die Kommunikationsgegnerin?

Was macht nun das Besondere eines guten Cafehauses aus? Im wesentlichen die Leute, die dort verkehren. Diese kommen, weil sie sich unter dem Cafthaus-Publikunt wohl fühlen. Aber was veranlaßt dieses wiederum, gerade ebendort hinzugeben? Bevor wir in eine endlose Schleife geraten, will ich den Versuch einer Erklärung machen: Neben offensichtlichen Faktoren wie gute Lage, Qualität im Angebot und freundlichem Service sind es passende Möblierung, eigener Stil und angenehme Atmosphäre. All dies zusammengenommen - ich nenne es "Rahmenbau" -, hat neben inspirierler (Innen-) Architektur vor allem mit der Präsenz der Menschen, die dort arbeiten, dem Cafehaus-Team, zu tun. Sie sollten - mit Freude und Interesse dabeisein, freundlich, kommunikativ, aber ohne Hang zum Alleinunterhalter, aufmerksam, ansprechbar, diskret, Gäste kennen, sich auch mal mit an den Tisch setzen, mitdenken, auf Wünsche eingehen, ohne aber den Charakter des Lokals umzukrempeln, stets den Überblick behalten, ... sein.

Das erfordert eine gewisse Form von elektronischem Design, Durch Mitgestaltung der Software, Beeinflussung der Netzstrukturen, schreiben des Netz-Knigges, kleinere (oder größere) Netzwerkprovokationen kann heute noch vieles an der Struktur geändert werden. Ist es an einer Autobahn immerhin noch möglich, wenigstens Graffiti an die Betonbrücke zu sprühen, so müssen die Harald Nägelis der Elektronik an die Struktur selbst herangehen: Die Datenautobahnen mitgestalten.

In wenigen Jahren wird die MailBox von weiten Kreisen in irgendeiner Form zur Kommunikation eingesetzt. Für die einen mag es der Heimatersatz sein, für den anderen das Niederlassen am Globalen Dorfbrunnen. Ich brauche für die Kommunikation in einer MailBox keine laute Stimme; ich kann meine Beiträge einem großen Publikum zugänglich machen, kann dabei in Ruhe formulieren und werde nicht unterbrochen (Frauen z. B. werden in öffentlichen Diskussionen häufiger übergangen oder unterbrochen). Ich kann mich jederzeit zu dem Beitrag eines/einer anderen äußern und kann mich entscheiden Z ob ich das öffentlich in einem Bret; oder privat als persönliche Mail tue.

Nach kurzer Einternzeit ist die Bedienung eines Terminal- bzw. MailBoxPrograinntes übrigens erheblich einfacher als etwa die einer feature-überladenen Textverarbeitung. Im Zerberus-MailBox-Programm kann ich mich beispielsweise mit den rünf Befehlen Brett, Inhalt, Lesen, Senden und Ende schon bestens verstandigen und dabei wesentlich mehr mitteilen als nur hello world"!.

Die Sprache

Dem Schreiben und der Sprache - ansonsten im Zusammenhang mit Computem/Neuen,Medien eher vernachlässigt - kommt in der MailBox wieder zentrale Bedeutung zu. In einer MailBox muß ich lernen, behutsam mit Sprache umzugehen. Dieselbe Bemerkung, die, direkt zu jemandem gesagt, amüsiert alifgenommen wir6, da die Situation klar ist und durch Mimik, Gestik und den Klang der Stimme interpretiert wird, kann als schriftliche Nachricht in einer MailBox eine heftige Fehde auslösen. Meist beruht dies auf einem Mißverständnis und dem Unwissen, wie viele Bedeutungen schon ein einfacher Aussagesatz mit sich tragen kann. Doch auch echte Differenzen können in der MailBox ohne Gewaltanwendung ausgetragen werden. Auch Streitkultur will gelernt werden. Kommunikative Fähigkeiten, aktives Zuhören und Nachfragen, Auf-andereeingehen-Können, Sich-hineinversetzen-Können etc. sind bei der Kommunikation übers Netz noch mehr als sonst gefordert. Diese Eigenschaften, die bisher traditionell eher bei Frauen gefördert worden sind, bekommen nun endlich gesellschaftliche Anerkennung.

Bei der Kommunikation ohne "Blickkontakt-Checksummen-Protokoll" sollte ich nämlich nie vergessen, daß auf der anderen Seite auch ein Mensch sitzt, der vielleicht gerade im Programmierstreß, frisch verliebt oder im Clinch mit seinem hauseigenen Zerberus (Hund, Vermieter, MailBox?!) ist.

In Ermangelung von Ton und Bild wird oft auf Comicsprache ausgewichen, um auf den Zeilen zwischen den Zeilen doch noch etwas mitzuteilen.

Beruf Systembetreuer

Die Systembetreuung der MailBox ist das Cafehausteam im elektronischen Caf8, Aufgaben und Anforderungen sind überaus vielfältig: technische Grundkenntnisse von Betriebssystem und Programm (selbst Programmieren zu können schadet natürlich auch nicht unbedingt, ist aber entbehrlich), kaufmännisches Grundwissen, Organisationstalent für die Verwaltungsarbeiten, journalistische Fertigkeiten (zur Recherche, für eigene Beiträge und zur Gestaltung des Archivs),Aufmerksamkeit und vielseitige Interessen, Hilfsbereitschaft und Geduld (jede Minute ist die erste Minute in der MailBox - für irgendeinen Teilnehmer oder Teilnehmerin) bis hin zur Seelsorge - vor allent aber die Fähigkeit, mit anderen zusammenzuarbeiten - mit den anderen im Team und den vielen Menschen innerhalb und außerhalb des Netzwerkes. Eine schwierige Aufgabe - rür Kommunikationsdesigner.

Zukunftsvisionen

Ganz allgemein werden das Sammeln, Aufbereiten und Vermitteln von Information zur wichtigsten Handelsware. Ein beträchtlicher Teil dieser Information wird ohne Zweifel sprachliche Information sein. Die Kompetenz von Frauen in diesem Bereich wird ihnen rür die Zukunft sehr viel bessere Chancen eröffnen als in einer Gesellschaft, die durch die Schwerindustrie geprägt wurde. Und dies ist gleichzeitig eine große Chance für die Gesellschaft.

MailBox-Nutzung wird in einigen Jahren für viele so einfach und selbstverständlich sein wie heute telefonieren oder fotokopieren. Die Vemetzung schreitet allerorten voran. Die MailBox ist im Moment ein Labor, in de experimentiert wird, ein Mikmkosinos, in dem sich eine neue Kultur entwickelt, neue Regeln und Umgangsforrnen erfunden und erprobt werden, die das Leben im Globalen Dorf bestimmen werden. Unsere Vorstellung vorn Dorfbrunnen: Ein elektronisches Caf6haus mit Anschluß an die elektronische Stadtbibliothek. Wobei real existierende Räume mit den o. a. Eigenschaften eines Cafes eine ideale Umgebung, der ideale Rahmen für das virtuelle Cafthaus sein könnten. Dies wird die Schnittstelle zwischen Mensch und Netz sein - ein Ort, wo Austausch und Orientierung zwischen Alltagserfahrung und Wissenschaft, Spezialistentum und Allgemeinbildung gefunden und gemeinsame Projekte entstehen können und wo ich mich vergewissern kann, daß die anderen Menschen noch real vorhanden und keine Simulation sind.

Rena Tangens & padeluun

Literaturliste

Die Andere, 04. September 1991