GLOBALER DORFBRUNNEN

Warum werden Zeitungen gekauft? Um Informationen oder Unterhaltung zu bekom men, um andere Meinungeri zu hören - all das und noch viel mehr. Was aber, wenn der Benutzer in die Gestaltung der Zeitung selbst eingreifen kann, Informationen hinzufügt, sie mit anderen Daten verbindet? Dann haben wir das, was die Bielefelder Medienfachfrau/Künstlerin Rena Tangens eine "Zeitung ohne Altpapier" nennt - eine Mallbox. Martin Willmann informierte sich.

Was ist überhaupt eine Mailbox? Rena Tangens und padeluun von der Künstlergruppe Art d'Ameublement betreiben nicht nur selbst eine Mailbox (//BIONIC), sie sind auch in dem Verein FoeBul) e.V. engagiert doch dazu später mehr. Ihre Definition für das Medium lautet:

"Eine MailBox ist erst einmal etwas sehr praktisches. Einmal ist es - wie der englische Name schon sagt - ein Briefkasten. Wenn wir davon ausgehen, daß eine Vielzahl heutiger Briefe bereits auf einem Computer getippt, ausgedruckt und dann per Post verschickt werden, ist es einleuchtend, daß wir diesen Brief viel einfacher direkt von Computer zu Computer schicken können. Dazu müßten die beiden Computer mit einem Kabel verbunden werden. Das geht, wenn beide Computer nahe beieinander stehen. Nicht aber, wenn zwischen ihnen viele Kilometer liegen. Dann verwenden wir das Telefon - die beiden Computer rufen sich einfach an. Damit sie sich verstehen können, wird noch eine Art Adapter zwischen Computer und Telefon geschaltet: Das Modem." (zitiert aus FoeBuD e.V. Information)

FoeBuD steht für "Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs". Neben einer wöchentlichen Gesprächsrunde (die auch Nicht-Mitgliedern offensteht) ist die wichtigste Veranstaltung des FoeBuD e.V. wohl der einmal im Monat stattfindende Computertreff Public Domain. " Ungefähr 20 Prozent der Besucher kommen bestimmt von außerhalb - teilweise von weit her," schätzt Rena Tangens.

"Aus Köln, Düsseldorf, Hamburg und Berlin."

"Das Konzeptfür ein Computertreffen hatten wir schon sehr früh," fährt sie fort. "Schon 1985 oder 86. Zu dieser Zeit gab es die Interregionale Mehrwert Vorstellung (von Art d'Ameublement, M.W.) - da war der Chaos Computer Club hier. Dann kam die Erkenntnis, daß es in der Richtung kreativ weitergeht. Zu der Zeit hatten wir ein Konzept, das wir 1987 realisiert haben. Neue Leute kamen in den Bunker Ulmenwall, den bekannten Jazz-Keller. Dort haben wir die erste Veranstaltung gemacht - wir besorgten zwei Rechner (einen * 64er und einen * tari); vor der Tür standen 100 Leute, die reinwollten und dachten, es wäre sowas wie eine Messe. "

"Computer brauchen konkrete Formen. Wir arbeiten mit ordentlichen Dingen." Im Bunker Ulmenwall findet Public Domain noch immer statt. Doch mittlerweile ist es erfolgreich gelungen, die Besucher selbst zu Aktivität und Initiative zu bringen. So gibt es ermäßigten Eintritt für Interessierte, die ihren Computer selbst mitbringen. Manche kommen auch "mit den Eltern an der Hand", andere besitzen überhaupt keinen Rechner, zählen aber trotzdem zu den "Stammgästen". Die Welt ist eben bunt, und viele Themen sind auch für NichtEDV-Fans spannend. "Zeitweise war es so voll, daß wir dachten, wir müßten die Räume wechseln." erzählt Rena. "Dann entwickelte es sich in der Richtung, daß wie wild kopiert wurde. Das ist zwar auch eine wichtige Art von Informationsaustausch, aber auch etwas langweilig. Diese Konsumentenhaltung haben wir dann von daher angegriffen, jede Public Domain unter ein Motto zu stellen und besondere Aktionen zu machen: Veranstaltungen über Mailboxen, Datenfernübertragung allgemein, Verschlüsselung. "

Mittlerweile ist es so, daß auch Besucher dabei sind, die sich nur für das jeweilige Vortragsthema interessieren, aber nicht vorwiegend mit Computern zu tun haben - Leute aus Umweltgruppen kommen zum Thema "ökologische Datenbank", Musiker zum Thema "MIDI", Amateurfunker zum Thema "Packet Radio". So wird der feste Stamm an "Dauergästen" immer wieder durch Menschen aus ganz anderen Bereichen ergänzt - was dem "interdisziplinären Austausch" nur gut tun kann.

Der FoeBuD e.V. versteht sich nicht als "normaler" Computerclub, der bloß billige Hard- und Software sowie Computerversicherungen anbietet. Denn: "In unserem Mailbox-Konzept steckt ganz klar drin, daß zu jeder Mailbox auch ein soziales Netz gehört. Ohne das ist es nicht machbar. Eine Mailbox muß globaler Dorfbrunnen sein. Jeder, der glaubt, daß die Mailbox-Kommunikation menschliche Kommunikation ersetzt, ist schief gewickelt."

Vorteile von Mailboxen? Da fällt den Künstlern von Art d'Ameublement einiges ein - padeluun nennt ein Beispiel: "Angenommen, Du möchtest einen Brief mit der //BIONIC nach München schicken. Dann kostet ein kB - das ist ungefähr eine Bildschirmseite - 10 Pfennig. Bei der Briefpost müßtest Du 1 DM bezahlen."

Solche Kommunikation kann eine einzelne Box allerdings nicht leisten; dafür muß sie schon in einem Netz hängen - wie die //BIONIC im Zerberus-Netz. Rena ergänzt: "Du kannst also Deinem Bekannten in München sagen, er soll sich an eine der zwölf Boxen wenden, die dort am Zerberus hängen. Ihr braucht also nicht mehr Ferngespräche zu führen, sondern jeder ruft zum Ortstarif bei seiner Box an, und die Boxen tauschen untereinander komprimiert aus. Das ist einer der großen Vorteile. "

Gerade im Medienbereich ist die Mailbox äußerst nützlich; kein Zufall, daß Journalisten von großen Zeitungen die //BIONIC ausschließlich für berufliche Zwecke benutzen. Ein Text kann an die Redaktion übermittelt, dort sofort auf Diskette "überspielt" und weiterverarbeitet werden, wodurch das nervige Abtippen erspart bleibt - im Gegensatz etwa zu gefaxten Nachrichten, die nochmals "erfaßt" werden müssen.

Doch auch Privatleute profitieren von den vielfältigen Funktionen des Mediums. So können an den "schwarzen Brettern" der Mailboxen Nachrichten "distributiv" hinterlegt werden - jeder andere Benutzer kann sie lesen und seine eigenen Kommentare dazuschreiben, wenn er will.

Theodor Heuss sagte einmal: "Leserbriefschreiber sind in der Regel Rentner, Nörgler oder berufsmäßige Querulanten." Sind solche schwarzen Bretter nicht ein Paradies für diese seltsame Spezies? Rena und padeluun sehen das anders: in der Mailbox sind die Rollen neu verteilt, da ja jeder sowohl Leser als auch potentieller Schreiber ist.

Padeluun gibt zu: "Die Mailbox hat mit diesem Problem zu kämpfen. Es ist noch die Frage, ob die Nörglerartikel in den guten Artikeln untergehen oder umgekehrt. Deshalb beschäftigen wir uns auch als Künstler damit, weil wir herausfinden wollen, ob man nicht ohne Reglementierung die Menschen dazu bringt, dieses Medium qualitativ zu nutzen."

Es soll versucht werden, den Informationsmüll der Spinner zu ertragen, ohne Verbote zu verhängen. Das strebt zumindestens das Zerberus-Netz an, während andere schon restriktiver sind. Padeluun betont, wie gut sich Mailboxen als Gegenmedium eignen: "Wir hatten hier immer schon Leute, die das nicht zum Selbstzweck machten oder weil sie die Technik und das Programmieren interessiert, sondern die das Medium als Gegenmedium benutzen wollten. Es ist einfach sehr viel billiger, sich einmal den Gegenwert einer Druckauflage ins Zimmer zu stellen und dafür immer zu veröffentlichen, als jeden Monat immer wieder das Geld für Druckerei und Setzerei auszugeben."

Und die öffentlichen Nachrichten erreichen immerhin über 20.000 LeserInnen in der ganzen Bundesrepublik, Tendenz steigend. Eine Ausweitung über ganz Europa ist nur noch eine Frage der Zeit. Auch ist es beispielsweise möglich, ein Netz mit einem anderen zu verbinden. So gibt es ein eigenes Netz des "Sozialistischen Computer Clubs", der sich auf ökologische und politische Fragen spezialisiert hat. "Und so kann man mit der Zeit sehen, welches Netz dem 'Spiegel' entspricht, welches dem 'Stern' und weiches der 'Neuen Revue' - auch das wird es geben," fährt padeluun fort.

Eine ganz andere wichtige Sache ist das "feminine Computer-Handling". Zum diesem Thema hat Rena Tangens des öfteren Workshops angeboten, u.a. beim Chaos Communication Congress 1990 in Hamburg. "Frauen können besser erklären als Männer, weil sie sich besser in andere hineindenken können." sagt Rena Tangens. "Eine Frau erzählte: wenn sie ihren Freund fragt, wie das und das am Computer funktioniert. dann sagt er nicht: das geht soundso, sondern: laß' mich mal gerade. " Außerdem hat sie beobachtet, daß sich Frauen meist nicht so im Computer "verlieren" wie Männer. Daß eine Person psychisch verwahrlost, weil sie nächtelang nur noch vor dem Gerät sitzt, kommt beim weiblichen Geschlecht selten vor "Wir sind vielleicht die einzigen Leute, die sich so intensiv mit den künstlerischen Möglichkeiten des Computers auseinandersetzen."

"Und so gibt es im FoeBuD auch keine 'Frauenarbeit' im Sinne von Entwicklungshilfe, die darauf abzielt, Frauen irgendeinem Industriestandard-Verhalten anzugleichen. Frauen sind keine Randgruppe, sondern mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Daß sie dennoch im Bereich Computer bisher nicht sehr zahlreich in Erscheinung treten, hat nichts mit unterschiedlichen Fähigkeiten, sehr wohl aber mit unterschiedlicher Motivation zu tun." (Zitat aus der FoeBuD-Information)

"So einfach geht das."

Dieser Satz stammt aus den TV-Spots der Firma Moulinex und gehört zu den Lieblingszitaten von Rena Tangens und padeluun - aber nicht auf alberne Haushaltsgeräte bezogen, sondern auf Rechner. Ihnen ist wichtig, daß möglichst viele Menschen ihre Scheu vor dem Medium Computer verlieren und zu einem möglichst respektlosen Umgang damit kommen.

"Stoned Blackjack wants Cookie" ist das nächste Public-Domain-Treffen überschrieben. Günter Freiherr von Gravenreuth, Rechtsanwalt aus München, wird über Computerviren im (All)Gemeinen und die Haftungsfrage im Besonderen sprechen. Das ganze findet statt am 3. März ab 15 Uhr im Bunker Ulmenwall, Kreuzstraße, Bielefeld. Darüber hinaus ist der FoeBuD e.V. dienstags bis freitags von 14 - 18 Uhr unter der Telefonnummer 0521/175254 zu erreichen. Wer ein Modem hat: in die //BIONIC Mailbox kommt man unter 0521/171188 (Kennwort: GAST) im Z-Netz.

Ansonsten empfehlen wir den Besuch der Cebit in Hannover (13. - 20. März), wo im Bereich von "Chancen 2000" (Halle 22, Stand A12/CII) ebenfalls Art d'Ameublement auf der Lauer liegt, um uns noch einmal eine Chance zu geben.

RAN, Mai 1995