Elektro-Kommunion oder letzte Ölung?

VON BERND KEGEL

Große Hoffnungen werden in die Mailboxen gesteckt. Sie scheinen DAS Kommunikationssystein zu sein, mit dem die Menschen endlich geradezu promisk kommunizieren können. Die Trennung von Sendenden und Empfangenden, scheint global aufgehoben. Die Menschen können nun kollektiv ihre Argumente und Erfahrungen über eine verbindendes Medium austauschen. Der Kommunismus lebt in den Boxen: die Einzelnen partizipieren am gemeinsam akkumulierten Wissen, um es in gemeinsamer Arbeit zur gemeinsamen Geschichte dynamisch weiterzuentwickeln.

Doch 10 Jahre Mailbox-Geschichte müssen zunächst ernüchternd stimmen: Über die meisten Netze läuft nur purer Schwachsinn von der Qualität eines City-Band Funk- Gespräches oder eines Klospruches nebst ,Kommentar Bislang ist das Medium über weite Strecken Techno-Idioten überlassen wor. den. Die haben es allerdings zu einem erstzunehmenden Medium gemacht. Nun gilt es, intel. ligent davon Gebrauch zu machen.

Das setzt a priori die Einsicht voraus, daß man sich mit einem Moloch einläßt. Er besteht aus Pyramiden, die Pyramiden bauen; seine Natur ist die Hierarchie. In den Spitzen allen Pyradmiden ballt sich die Macht.

Wer das Paßwort nicht weiß, bleib draußen. "Normal-User" erreichen nur die untersten Levels; "Super-User", wie z.B die "SysOps", die Verwalter der Datenbanken, stehen oben: sie sehen alles, ohne gesehen zu werden. Allmächtiger!

"The medium is the message" hat Marshall McLuhans in den späten Sechzigern bemerkt. Heute würde er endlich verstehen, was er eigentlich damit gemeint hat: Die Mailboxen sind die Zauber-Kisten, die einem spirituellen Medium in Geräteform ähneln. Jedes Wort aus den Sphären ist schon Botschaft, ob sinnvoll oder nicht.

DFÜ (Daten-Fern-Übertragung) ist die Fortsetzung der Telekinese mit anderen Mitteln. Endlich klappt das Tischerücken. Jede Sitzung am Computer ist wie eine Seance, die vom Großen Faszinosum zusammengehalten wird: ständig aufs Neue zu erfahren, daß sie funktioniert, die DFÜ

Die Allmacht über die Unfehlbarkeit des Apparates scheint vorn benutzenden Menschen selbst auszugehen. Es sieht so aus, als würde die Intelligenz des Benutzers das System zur Reaktion zwingen. Doch genau betrachtet steht der Benutzer in der Rolle einer Ratte im Labyrinth. Wenn sie in der Anordnung eines Labor-Versuches die richtigen Tasten drückt, fällt ihr als Belohnung die Knappernuß aus der Klappe. BenutzerInnen des Systems, die richtig auf die Erfordernisse der System-Architektur reagiert haben, erhalten als Belohnung ihre "gewünschten" Informationen.

Diese Konditionierung funktioniert perfekt wie das ganze System: DFÜ wird für viele zur Sucht. Überall in dieser elektronisch vernetzten Zivilisation sitzen (angeblich meistens Männer) nächtelang an den Terminals und kontaktieren ferne Boxen in der Welt. Dabei kann es auch sein sein, daß der "Partner" einen Stock höher im selben Haus sitzt. Der Nachbar, den man im Treppenhaus nicht grüßt.

Endlich ist es da, das Mittel, mit dem man allen alles sagen kann - doch was bleibt zu erzählen, wenn man überall dabei ist und doch nirgends; "sinnlich" nichts mehr erlebt als die synthetisierte Welt am Computer selbst? Eine geistige Implosion. Für die konkreten Bedingungen des Alltaglebens sind die Augen verschlossen.

Wenn der Große Bruder dann noch zuschlägt, verkommt die elektro-kommunistische Kommunion letztlich sogar zur täglichen ungewollten Beichte. Wird das die letzte Ölung für die Kreativität des Menschen?

Vor sechzig Jahren, als das Radio "kam", forderte Berthold Brecht, den Distributions-Apparat Radio, zu einem Kommunikations-Apparat" zu machen, doch hielt er dies für "undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer anderen."

Und wenn die Veränderung der Gesellschaft und die der Mailboxen zusammenfallen? Ist doch "Vernetzung" ein ökologisch und bewegungs-politisch positiv besetzter Slogan. Immerhin gibt es viele in der Szene, die den Nimbus von linken Computer-Guerilleros tragen; die streikenden StudentInnen dieses Winters nutzten das Mailboxmedium; grüne PC-Freaks basteln an Umweltdatenbanken; die Leute vom Sozialistischen Computerclub (SCC) aus München führen das Beispiel der Anti-Apartheid-Bewegung in den USA an ...

Blitzschnell können Informationen unter die Leute gebracht werden. Slogans oder Aufrufe verteilen sich wie der Hefepilz im Wein, und die Reaktionen können unmittelbar zurückfließen. Wie in einem Organismus, Im Namen "Bionic" ist dies - bestimmt nicht zufällig - aufgehoben: es handelt sich um den wissenschaftlichen Begriff für die elektronische Nachahmung von biologischen Prozessen.

Die Mailbox soll hier als riesengroße Wandzeitung benutzt werden. Eine Zensur findet nicht statt" ist erklärte Absicht. Denn der Austauschprozeß soll seine eigene Dynamik behalten. Dem Wachstum der Intelligenz sollen keine Grenze gesetzt sein. Die Mailbox als Black Box mit den Eigenschaften eines Alchimistentigels. Die Amalganisierung von Ideen.

Dieser Text, der an einem PC entsteht, könnte fast unmittelbar in eine Mailbox fließen. So könnte er an Leserlnnen kommen, die direkt die zahlreichen Lücken schließen könnten, die dieser Text aufweist. (Denn ich schreibe ganz altmodisch mit einem ganz normalen Gehirn, das heute morgen gut durchblutet ist - und gerade deswegen auch von Empfindungen heimgesucht wird, die mich sogar noch mehr verwirren als alle Mailboxen dieses Globus.) Via Mailbox würde ich einen Text liefern, den wir gemeinsam weiterschreiben könnten.

Stadtblatt, 20. Juli 1989