Kampf der Zeichensysteme

Der Zusammenhang von Musik, Mathematik und Krieg, vorgetragen von Friedrich Kittler

Friedrich Kittler Der Mann ist zweifellos eine Berühmtheit. Friedrich Kittler veröffentlichte 1986 das Buch »Grammophon, Film, Typewriter«, welches sofort zu einem großen Erfolg wurde: Die Geisteswissenschaften nahmen seine Überlegungen zu einer neuen Mediengeschichte auf. Marcel Beyer ver wendete in seinem Roman »Flughunde« die Thesen über Radios und Schallplatten, und für einige Spex-Leser war er ein Modephilosoph, quasi das deutsche Pendant zu Derrida. So viel Aufmerk. samkeit bescherte Kittler schließlich eine Professur für Mediengeschichte an der Berliner Humboldt-Universität.

Inzwischen haben er und seine Schüler das Feld Mediengeschichte dermaßen gründlich beackert, daß es dort nichts mehr zu forschen gibt. Deshalb möchte der Professor nun ein Buch über Musik und Musiktheorie schreiben. Hier will er zeigen, inwiefern Musik von ma. thematischen Systemen Ihrer Zeit ab. hängt. In dieses Projekt fällt auch der Vortrag »Musik und Ballistik«, den er kürzlich beim Public Domain Treffen im Bunker Ulmenwall hielt.

Die abendländische Musiktheorie beginnt im alten Griechenland, Schüler von Pythagoras stellen fest, daß die Höhe eines Tones von der Länge der Sat. te abhängt. Mit dieser Erkenntnis entwickeln sie eine Tonleiter, welche aller. dings noch nicht die reine Terz enthält, die ab dem 16. Jahrhundert die gesamte abendländische Musik bestimmt. Auf die reine Terz können die Pythagoräer noch gar nicht kommen, denn die beruht auf einem Irrationalen Zahlenver hältnis, welches sich In ihrem ganzzahligen System überhaupt nicht ausdrücken läßt.

Töne und Geräusche

In der Neuzeit erfährt die Musiktheorie eine einschneidende Veränderung durch Marin Mersenne. Während der Belagerung der Festung von La Rochelle fällt Ihm auf, daß er die Kanone früher sieht, als er ihren Knall hört. Mit seinen Puls stoppt den Zeitunterschied und er. kennt, daß Schall und Ton von der Zeit abhängen. Mersenne bestimmt die Tonhöhe jetzt nicht mehr wie die Pythagoräer durch die Saitenlänge sondern viel genauer durch die Anzahl Ihrer Schwingungen in einer bestimmten Zeit.

Durch diese neue Methode entdecken die Mathematiker nach Mersenne, daß die Pythagoräer keinen Unterschied zwischen Quinte und Oktave machten. Dieser Fehler wird nun »weggerechnet« (Kittler) und als Ergebnis steht das "Wohltemperierte Klavier", jenes zwölf Halbtöne umfaßende System, mit dem wir heute noch arbeiten. Dieses Tonsystem hätte aber nicht konstruiert werden können, oh neue Mathematik rationalen Zahlen die zwölfte Wurzel aus zwei. Auf Ihr beruht die neuzeitliche Musik und sie ist sie dafür verantwortlich, daß die Musik seit Bach »hörbar anders klingt«, so Kittler.

Diese Ausführungen zeigen deutlich, wie sehr Entdeckungen In der Mathe. matik die Musik verändern haben. Als weiteres Beispiel hierfür nennt Kittler die Entdeckung der Obertöne durch Sauveur. In der Musik führen die Obertöne zu Immer mehr Klangdifferenz, wodurch sich das Verhältnis von Klang und Geräusch relativiert. Damit ist schon der erste Schritt In Richtung Rockmusik getan. Natürlich präsentiert der Professor auch heute seine Lieblingsthese nach der jede Wissenschaft von der Waffentechnik Ihrer Zeit abhängt. Der Ursprung der pythagoräischen Saite sei die Waffe Bogen, so Kittler, und auch Mersenne habe seine Schallmessung nicht zufällig gerade an Kriegskanonen vorgenommen. Während sein französischer Vordenker Virillo solche Überlegungen eher sachlich darbietet, zelebriert Kittler sie mit zynischer Genugtuung. Europa, so erklärt er, herrschte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs mit reellen Zahlen, und ohne diese wären die Kriegstoten auch -nicht herstellbar« gewesen. Angesichts dieser szientistischen Abgeklärt. heit kann es einem schon mal kalt den Rücken runterlaufen.

Waffen und Viren

Bisweilen treibt die Wissenschaftlichkeit Kittlers allerdings seltsame Blüten. So entwickelt er eine reichlich abgedrehte Theorie darüber, warum sich seit dem Mittelalter so viele mathematische und musikalische Systeme abgewechselt haben: Im 12. Jahrhundert sei das europäische Zelchensystem von fremden Viren heimgesucht worden, den arabischen Ziffern. Diese seien auf die vorhandenen Alphabetzeichen getroffen, und da es plötzlich zuviele Zeichen gegeben habe, hätten sich die Zeichen gegenseitig aufgeschaukelt und bekämpft. Während dieser Schlacht haben sich die Zeichen ständig umgruppiert, so Kittler, und dabei unaufhörlich Notennamen, Winkelfunktionen, Tonhöhendefinitionen und so weiter geändert. Seitdem entstünden mathematische und musikalische Systeme einzig durch den Kampf der Zeichen untereinander. Dekonstruktivisten mögen dies als neue Erkenntnis feiern, ich denke, der Mann Ist ein Opfer seiner Abstraktionsfähigkeit geworden.

Juri Fischer

Stadtblatt, 23. Mai 1996