LIVE VORTRAG

Pianolas & Pistolen

Professor Kittler über Schwingungen

Auftakt-Sprichwort-Korrektur: Musik wird störend oft empfunden, nicht weil sie lärmt, sondern wenn das mit ihr verbundene Gezitter in der Luft uns auf dem falschen Jochbein erwischt; wenn wir gerade einfach anders gestimmt sind, wenn unsere Welle der Länge nach aus dem Ruder läuft ...

Zweite Stufe Computer-Club: seit 73 Sonntag-Nachmittagen begegnet sich im Bunker Ulmenwall alles, was einen Draht zu Prozessoren hat und einen Kopf, um sich über Alltagsfragen am Mäuseklavier hinwegzusetzen. Organisiert von einem unserem Blatt freundschaftlich verbundenen Verein für Datenfitness hat sich unter dem Reihentitel "Public Domain" (deutsch: Eigentum Aller) und gegen mäßigen Eintritt ein richtiger" Treffpunkt Zukunft, Technik & Kultur" entwickelt, bei dem man Wichtiges und Wegweisendes lernen kann. Heute etwa, daß Artillerie und Akustik, Musik und Mörser, Symphonie und Bahnverfolgung irgendwie interessant zusammenhängen.

Das weiß - und erklärt - Friedrich Kittler, gelernter Literaturwissenschaftler, der vor Jahren den Einfluß der Schreibmaschinie auf die Ideen ihrer ersten Benutzer entdeckte und gerade in Berlin Multi-Medien-Professor geworden ist. Mit einer Antrittsvorlesung über den tieferen Sinn der Arbeitsmittel der Künste. Nicht erst nämlich, seit jeder Hanswurst sich am eigenen PC zum Music-Maker machen kann sei Technik und Berechnung tief bei der Kunst im Spiel. Sondern fast seit jeher. Sei es die Lochkamera in der Renaissance-Malerei (die komplizierte Abbildungs-Mathematik schlicht sichtbar macht), sei es umgekehrt die Statik der antiken Philosophie, die möglicherweise nur so ausfallen konnte, weil sie über Jahhrunderte ohne imaginäre Zahlen, Schwingungstheorie und die blue notes auskommen mußte.

Oder seien es wieder andersherum die Kanoniere, die erst grauslich genau trafen, nachdem sie die Schönheit der gedämpft schwingenden Flugbahnen ihrer Kugeln erkannten. Norman Mailer ließ in "Die Nackten und Die Toten" einen Artilleristen gar schmeichelnd an eine weibliche Brust denken, wenn er Ballistik meinte. Von wo man eine Sub-Theorie starten könnte: Fachmänner sind Fetischisten.

Ganz so weit geht Friedrich Kittler nicht. Aber immerhin kann er spannend erzählen, nrie die Mathematiker langsam lernten, die Schwingungen einer Saite auszuzählen (für Galileo war noch alles unberechenbarer Krach), wie die Musik tatsächlich mit der Kanonade von La Rochelle zum Gegenstand der Akustik wurde (durch Schaltmessungen am Experimental-Gedonner) und wieso das eigentlich wissen sollte, auch wer gerade einen Brummschädel vom Musik-Computer-Programmieren hat. Und wie und wo eigentlich das wohltemperierte Klavier in die Geschichte paßt.

WING

Friedrich Kittler Musik & Ballistik, wohltemperiert. 5. Mai, 15 Uhr Bunker Ulmenwall

Ultimo, 06. Mai 1996