Von Anke Groenewold
Rund 5700 Internetnutzer haben keine Lust, auf offizielle Pronosen über den Ausgang der Bundestagswahl am 27. September zu warten: Sie schaffen sich rund um die Uhr ihre eigenen Prognosen, indem sie spielen. "Wahl$treet" heißt die Politbörse, die der Berliner ,Tagesspiegel" und die Hamburger "Zeit" ins Netz (www.wahlstreet.de) gestellt haben.
Wer als Händler einsteigen möchte, läßt sich registrieren, überweist zehn Mark und los geht's. Gehandelt wird anonym und mit fiktiven Parteiaktien. Wer solide starten will, legt sich ein Basis-Portfolio zu. Dieses Aktienpaket hat einen festen Preis und enthält eine Aktie pro Partei. Dann heißt es kaufen und verkaufen.
Wer im echten Leben mit Aktien handelt, möchte schnell reich werden. Das kann man sich bei "Wahl$treet" aus dem Kopf schlagen: Bei einem maximalen Einsatz von zehn Mark kann auch der pfiffigste Super-Broker nicht reich werden. Der Zehner soll lediglich ein Anreiz sein, kräftig und daueraft an der Börse mitzumischen. Seien die Gewinne auch noch so pfennigklein Wer sie einfährt, freut ich, und jongliert motiviert weiter.
Doch der Profit ist nicht das Ziel dieser Börse, die am Wahltag geschlossen wird. "Der Zweck ist die gemeinsame Wahlprognose, die kein einzelner Händler beeinflussen kann. Der Markt, wenn er reibungslos läuft und nicht manipuliert wird, liefert automatisch die Zusammenschau der Meinungen - er sagt voraus, wie die Wahl ausgeht", betonen die Organisatoren des Projekts. Hier gilt: je mehr Bewegung im Markt ist, je reger die Leute sich informieren und handeln, desto genauer werden die Prognosen. "Der Horror sind die, die sich einmal einloggen und vier Wochen lang nichts tun", sagt Barbara Thöns. Sie ist Programmiererin der OnlineRedaktion der "Zeit" und stellte das Projekt jüngst auf Einladung des Vereins"FoeBuD" in Bielefeld vor.
1988 experimentierten Wirtschaftswissenschaftler an der Universität von lowa/USA erstmals mit der Politbörse. Bei den Präsidentschaftswahlen führte das Spiel zu erstaunlich präzisen Wahlprognosen. Spätere Versuche in Österreich führten zu eher mittelprächtigen Ergebnissen.
"Wahl$treet" sei noch immer im Versuchsstadium, räumt Barbara Thöns ein. Das erklärt die Macken im System, die den reibungslosen Ablauf des Aktienhandels bisweilen stören. So kommen mitunter die per Mausklick angestoßenen Deals nicht zustande. In den vergangenen vier Wochen stürzten sich besonders viele Internetnutzer auf die virtuelle Börse. Mit dem Ergebnis, das das kleine "Wahl$treet"-Team den Massen hinterhechelte. Wer sich anmeldete, mußte schon mal einige Wochen auf den Schlüssel zum Börsenparadies warten.
Doch der Streß begann schon viel eher. Die deutschen Behörden wollten "Wahl$treet" erst gar nicht genehmigen, weil sie dahinter ein Glücksspiel witterten. Erst als der Kompromiß "Zehn Mark Höchsteinsatz" gefunden war, konnte "Wahl$treet" eröffnet werden. Beim Testlauf zur Niedersachsen-Wahl gab es erste passable Ergebnisse.
Spannend wäre es, wenn man Detail, Ursache und Wirkung im Spannungsfeld zwischen den Ereignissen im wirklichen Leben und dem Verhalten an der internet-Börse aufzeigen könnte. Denn alles kann den Markt beleben: Fakten, Ereignisse, Gerüchte, Umfrage-Ergebnisse, Launen oder das Mitleid mit einer kleinen Partei.
Ein fiktives Beispiel: Ein Politiker besäuft sich in einer Talkrunde und blamiert seine Partei. Trifft ihn nur wenige Minuten später im Internet der Zorn der Politbörsianer? Oder steigt die Partei-Aktie, weil die humorbegabten Händler den Unterhaltungswert des Politikers würdi gen? Für derartige Feinanalysen sei bisher keine Zeit gewesen, erklärt Barbara Thöns, Das Börsengeschehen sollen nach der Wahl die Universitäten unter die Lupe nehmen.
Thöns glaubt, daß der Handel nicht nur die Meinung der 8 widerspiegelt, sondern auch deren Erwartungen. Repräsentativität, wie sie die Meinungsforscher zu Grunde legen, spielt hier keine Rolle. Kann sie auch nicht, denn Internetnutzer sind statistisch gesehen überwiegend jung, männlich und finanziell relativ gut ausgestattet. Das schlägt sich auch in den prozentualen Anteilen nieder, die die Parteien bekommen. So liegen die Grünen mit derzeit rund neun Prozent relativ hoch "Die Märkte neigen tatsächlich dazu, die Grünen überzubewerten so Thöns. Dennoch sollen sich die unterschiedlichen Interessen und Vorlieben in einem gesunden Markt theoretisch ausgleichen und zu einer präzisen Wahlprognose führen.
"Wahl$treet" soll nicht das Ende der Fahnenstange sein. "Zeit" und "Tagesspiegel" überlegen sich bereits neue Einsatzgebiete des Börsenspiels. Zum Beispiel: Wie denken die Mitarbeiter in einer Firma? Wird das neue Projekt pünktlich fertig oder nicht? Es gibt viele Gründe warum sich Angestellte nicht offen äußern möchten. Das Börsenspiel dagegen ist anonym. Ja- und Nein-Aktien werden auf den Markt geworden und der Handel kann starten. Wenn der Kurs der Nein-Aktie "Vergiß es" signalisiert, kann etwas getan werden, bevor das Projekt völlig in den Sand gesetzt ist.
Die nächste Veranstaltung des Vereins FoeBuD ist am Sonntag, 4. Oktober, 15 Uhr, Bunker Ulmenwall, Kreuzstraße, in Bielefeld. Uwe Möller vom Internationalen Institut für Politik und Wirtschaft und Vorstandsvor~itzender des Deutschen Club of Rome will auf kurzweilige Art das Motto"Global denken, lokal handeln" beleben.
Neue Westfälische, 12. September 1998