Karen Jahn
Ratten sind Allesfresser, gefürchtete Krankheitsüberträger und Grobe Vorratsschädlingen. Der kurze Eintrag über die pelze gen Nager im einschlägigen Lexikon präsentiert sich als eher harmlos im Gegensatz zu den Negativbesetzungen, welche am Sonntag im Bunker Ulmenwall im Mittelpunkt standen. Der Verein zur Förderung des bewegten und unbewegten Datenverkehrs (FoeBuD e.V.) hatte zu seiner 101. Public Domain Veranstaltung ein für sich' einer untyph sches Thema gewählt. Heide Piaf ten, Journalistin aus Frankfurt, war mit der Vorstellung ihres Rattenbuchs angetreten, die Negativ-Klischees über die kleinen Tiere zu entlarven. Ihr zur Seite stand Karen Bensmann, Rattenzüchterin aus Essen samt einer 4- köpfigen Rattenfamilie.
Rund 40 Interessierte haben an diesem Nachmittag den Weg in die unterirdischen Gewölbe des Bunkers gefunden. Die Veran staltung ist zahlenmäßig gut besuchte, erzählt Rena Tangens, eine der Veranstalterinnen. Die meisten Besucherinnen scheinen vordergründig wegen ihres Faibles für die Nager gekommen zu sein. Bereits im Vorfeld der Lesung versammelt sich eine kleine Schar Interessierter um Karen Bensmann und ihren Rattenkäfig und bombardieren diese mit Fragen. Von Ekel keine Spur. Immer wieder holt die Dunkelhaarige ein pelziges Familienmitglied aus dem Käfig, um dessen Possier. lichkeit oder die sagenumwobene Beschaffenheit eines Rattenschwanzes aus der Nähe prüfen zu lassen. Klischees vom typischen Rattenfan mit Lederlacke und bunten Haaren werden nicht bestätigt. "Den klassischen Rattenfan gibt es gar nicht", so Bensmann. "Die Käufer kommen aus allen Bereichen, das Ärzteehepaar genauso wie die Studentin". Die 271ährige ist im Rattenzuchtverein Deutschland e.V. mit Sitz in Hamburg aktiv. "Wir betreiben Zucht als Tierschutze, sagt sie. Durch die kontrollierte Zucht und Abgabe sei gewähr. leistet, class kein Tier im Labor oder im Zoohandel lande. Ganz groß auf die Fahne geschrieben hat sich der Verein die Öffentlichkeitsarbeit. Ratten sind ganz normale Haustiere, sehr intelligente obendrein", doziert Bensmann. Man wolle weg vom Negativimage der Tiere, welches oft aus Unkenntnis resultiere. Bei näherer Betrachtung ihres schlechten Rufes, können einem die Ratten fast leid tun. Heide Platen versucht, unterstützt von Karl-Heinz Bender, zu durchleuchten, warum gerade die Ratte als Metapher für das Böse, Zerstörerische herhalten muss. Mit ihrer brüchigen Stimme und den häufigem Verhaspeln macht sie den Anwesenden das Zuhören allerdings nicht einfach. Anhand von Beispielen in der Literatur entlarvt sie die Wandelbarkeit der Zuschreibungen.
Stehe in der Mitte des 19. Jahrhunderts bei Gisela von Arnim die Ratte noch für das Gute, Treusorgende, so habe sich dieses Bild später im Expressionismus grundlegend verändert. Hier habe das Tier nicht nur zahlenmäßig seinen Höhepunkt in der Literatur erlebt, sondern sei auch als Symbol für die individuelle Zerstörung zu verstehen. In Albert Camus' Roman "Die Peste sei der Nager gar Sinnbild des zerstörerischen Kolonialismus. Platen überzeugt von der Wandelbarkeit, während allerdings die Gretchen Frage nach den Ursachen auf der Strecke bleibt.
Immerhin, Heide Platen hat umfangreich recherchiert. Selbst im Historikerstreit von 1986 entdeckt sie die Ratte als tragende Figur. Der Historiker Ernst Nolte rechtertigte damals den deutschen Angriffskrieg auf Russland als Prävention gegen die Greueltaten des Stalinismus. Dreh- und Angelpunkt der Behauptung, so Karl-Heinz Bender im Bunker, sei die Interpretation eines Hitlerzitats von 1943 gewesen: "Sie müssen sich vorstellen, er (ein deutscher Offizier) kommt nach Moskau hinein und stellen Sie sich den Ölrattenkäfigt vor. Da unterschreibt er alles. Er wird Geständnisse machen, Aufrufet. Der Rattenkäfig ist eine Foltermethode, bei der das Opfer sein Gesicht in einen Käfig mit einer ausgehungerten Ratte halten muss.
Die Ratte als Horrorvision, als Rechtfertigung für einen Krieg. Schlimmer kann ein Image nicht sein. "Sie ist eben Projektionstier", resümiert die Autorin. In Frau Platen hat der Nager eine fürsorgliche Anwältin gefunden.
Stadtblatt, 09. März 2000