Neue Westfälische, 6. Februar 2003
Bielefeld. "Es war ein perverser Spaß", geben Alvar Freude und Dragan Espenschied zu. Aber das Experiment, das die Studenten der Merz Akademie in Stuttgart mit dem Web, aber vor allem mit ihren Mitstudierenden durchführten, lässt Alarmglocken schrillen. Es sorgte auch ausserhalb der privaten Hochschule für so viel Aufsehen, dass das Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie die Diplomarbeit der beiden mir einem Kunstpreis auszeichnete. Auf Einladung des Vereins FoeBuD stellten sie ihren Feldversuch vor.
Was die beiden Mediengestalter interessiert, ist das Spannungsfeld zwischen dem vermeintlich herrschaftsfreien, sich selbst organisierenden Netz einerseits und den Kontrollgelüsten staatlicher und privater Gruppen andererseits. Freude und Espenschied wollten herausfinden: Ist Zensur im Netz möglich? Wenn ja, wie funktionierts, und vor allem - wie reagieren die Nutzer darauf?
Sie beschlossen, sich ihr eigenes System zur Manipulation von Webseiten zu basteln. Eingeweiht war lediglich ihre Professorin Olia Lialina. "Opfer" der Zensur-Attacke waren die Studenten der Merz Akademie.
Zunächst untersuchten die beiden vorhandene Filtersysteme, um herauszufinden, welche Möglichkeiten der Datenkontrolle es gibt.Innerhalb weniger Wochen programmierten Freude und Espenschied ihren eigenen Zensor.
Die erste Stufe des Experiments: Worte wurden vertauscht. Auf seriösen, glaubwürdigen Webseiten, auf denen vorher Helmut Kohl stand, war jetzt Gerhard Schröder zu lesen. Der war plötzlich Ex-Bundeskanzler und schrieb an seiner Autobiographie. "Das ist eine sehr billige Manipulation, funktioniert aber super."
Dann blockierten sie für den Mikrokosmos ihrer Privathochschule den Zugang zu australischen Sites. "Wir wollten herausfinden, wie viel wir manipulieren müssen, bis sich jemand beschwert." Sie räumten den Nutzern auch die Möglichkeit ein, sich über die Blockade zu beschweren. Schweigen.
Freude und Espenschied wurden immer dreister, pfuschten in E-Mail-Services herum, mogelten Blümchentapeten und Werbe-Pop-Ups in Internet-Semesterarbeiten. Sie manipulierten Suchmaschinen, gaben den Nutzern aber immer die Chance, sich spontan übers Netz zu beschweren.
Doch selbst, als sie ihr Experiment publik machten, blieb der Sturm der Entrüstung aus. "Wir haben Reaktionen und Beschwerden von Opfern erwartet, aber genau das ist nicht der Fall gewesen."
Ihr Fazit: So lange auf Knopfdruck was auf dem Schirm erscheint, funktioniert das in den Augen der Nutzer. "Geschwindigkeit ist wichtiger als Inhalt". Freunde und Espenschied finden das blinde Vertrauen ins Netz bedenklich. Sie haben festgestellt, dass Nutzer "nicht bereit sind, eine Sekunde lang darüber nachzudenken, was sie täglich machen."
Vielleicht erklärt das auch, warum es angesichts eines Vorstoßes der Bezirksregierung Düsseldorf keinen Aufschrei gibt. Regierungspräsident Jürgen Büssow hat eine Sperrungsverfügung für zwei im Ausland erstellte rechtsradikale Sites erlassen, die Provider für alle Nordrhein-Westfalen sperren müssen.
Die Welt ist ohne diese Sites nicht ärmer, aber es geht ums Prinzip - um die Einschränkung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung. "Es ist eindeutig belegt, dass es sich hier delt", so Alvar Freude und Jörg-Olaf Schäfers, der ein 80-seitiges Dossier zu den Sperrungsverfügungen erstellt hat.
Neben den staatlichen Stellen, die Filter gegen Rechtsradikalimus und Kinderpornographie einsetzen wollen, gebe es massenhaft Interessengruppen, die etwas gesperrt haben wollten, so Freude und Schäfers. Die Musikindustrie oder Scientology zum Beispiel. Wenn niemand zuckt, wenn zwei Sites gesperrt werden, wird jemand protestieren, wenn es tausende sind?
"Welches Netz wollen wir? Das ist die Frage, die über allem schwebt", sagt Alvar Freude. Für ihn und seine Mitstreiter steht fest, dass sie keine Infrastruktur haben wollen, die die Inhalte der Netze so manipuliert, wie sie es in ihrem Zensur-Experiment getan haben.
Der Feldversuch hat aber auch gezeigt, dass die Aussichten für das Netz als Plattform für die freie Meinungsäußerung nicht rosig aussehen: "Wenn das Nutzerverhalten so bleibt und nicht thematisiert wird, dann können gar keine Interessengruppen entstehen, die etwas gegen Filter sagen", so Alvar Freude.
Website zum Experiment mit Dossier zu Internet-Sperrungsverfügungen: