FEMAIL FÜR BOSNIEN

Wie das ZaMir-Netzwerk in Ex-Jugoslawien den geschundenen Frauen hilft

Von Annette Bruhns

Es passierte am 13. Mai 1992 im moslemischen Teil Sarajevos, und es war eine dieser brutalen Geschichten, die der Krieg in Bosnien tausendfach schrieb. Wie immer zu dieser Zeit saß Elvira gerade mit den Eltern beim Abendbrot, als plötzlich ein paar Männer in ihrer Wohnung standen. Es waren sechs oder sieben, und sie hatten Masken über ihre Köpfe gezogen.

Zuerst fesselten sie Vater und Mutter auf dem Boden, dann vergewaltigten sie das 17jährige Mädchen, einer nach dem anderen, und während der ganzen Zeit lagen die Eltern im selben Raum und mußten zusehen, was da passierte. Danach schleiften die Maskierten Elvira aus ihrer Wohnung, steckten das Haus in Brand, und von der Straße aus sah sie, wie sich die Flammen durch das Gebäude fraßen, in dem immer noch ihre Eltern waren. In diesem Moment fühlte sich Elvira, als läge sie selbst in den Flammen.
Eigentlich wollte Elvira danach nur noch sterben, weil es der einzige Weg schien, ihrer Situation zu entfliehen: diesem Gefühl von Schande und Schuld, weil ihre Eltern tot waren und sie die einzige war, die die Serben verschont hatten.
Elvira wurde in ein Gefängnis gesperrt, mit vielen anderen Frauen, und nach zwei Monaten sortierten die Serben 20 von ihnen aus, um sie in ein Bordell zu bringen. Elvira war eine von ihnen, weil sie zu dieser Zeit genau den Phantasien der Männer entsprach. Sie war jung, zart und hatte lange, rotblonde Haare und blaue Augen. Sie wurden zu einem Wagen geführt, und gerade als sie einsteigen wollte, entdeckte sie ein Soldat, der früher einmal ihr Nachbar gewesen war.
Der Serbe befahl, die Gefangene bei ihm und seinen Männern zu lassen. Seine Soldaten nannten das verheulte Mädchen eine "dreckige Moslemhure ließen es aber ansonsten in Ruhe. Zwei Wochen später wurde Elvira dann gegen einen serbischen Kriegsgefangenen ausgetauscht. Sie kam in ein Flüchtlingslager in Putovic. 738 Tage verbrachte sie dort. Sie atmete, sie aß und sie schlief, wenn auch schlecht. Wie ein bedrohter Igel hatte sie sich eingerollt und war in dieser Haltung erstarrt. So fanden sie die Psychologinnen von Das ist eine Einrichtung für mißhandelte Frauen in Zentralbosnien, die von Kölner Ärztinnen aufgebaut wurde. Als die Frauen Elvira fragten, ob sie mitkommen möchte, schüttelte das Mädchen nur stumm den Kopf. Und ließ sich dann doch willenlos nach Zenica bringen. Elvira bekam dort ein Zimmer in einem Wohnprojekt mit 15 anderen jungen Frauen. Sie alle hatten ein ähnliches Schicksal wie Elvira erlitten - sie waren krank, zerbrochen, geschändet und voller Schuldgefühle. Viele hatten Eltern und Geschwister verloren, waren aus ihrer Heimat1 vertrieben und hatten die Schule nicht abschließen können.

Elvira ist diejenige, der man das Leid am deutlichsten ansehen kann. Ihre Augen vermeiden jeden Kontakt, und wenn sie doch einmal aufschaut, ist der Blick teilnahmslos, und die hellen Augen sind verweint, ohne gerötet zu sein. Ihre Lippen sind zerbissen, die stumpfen Haare hat sie meist achtlos zu einem Pferdeschwanz gebündelt. Am liebsten sitzt sie allein in ihrem Zimmer.
Anfangs konnte sie auch keinem erzählen, was da an jenem 13. Mai passiert war. Fast ein ganzes Jahr hat es gedauert, bis sie sich zum erstenmal öffnete. Auch heute noch kostet sie das ihre ganze Kraft. "Aber ich will", sagt sie, "daß die Welt erfährt, was man uns angetan hat."
Sie sagt das und kauert dabei zusammengefallen im Wartezimmer der Frauenklinik auf der Kante eines Sofas, fast so, als habe man sie zum Tode verurteilt. Ein Beben geht durch ihren schmalen Körper, krampfhaft bemüht sie sich, das Zittern unter Kontrolle zu bekommen, indem sie ihre Knie umklammert. Doch der Druck ihrer Hände ist machtlos gegen das Schütteln. Selbst die Umarmung der Psychologin hält dem tobenden Körper nicht stand. Erst nach zehn langen Minuten verebbt das Beben. "Ich weiß nicht', sagt Elvira dann, "ob es mir hilft, darüber zu reden."
"Doch", sagt die Psychologin, "es tut weh, aber es ist das einzige, was dir helfen kann. Nur wenn du dich öffnest, wirst du irgendwann wieder ein normales Leben führen können." Das versuchen die Mitarbeiterinnen von Medica durch therapeutische Sitzungen, Theaterspiele und Tanzkurse zu erreichen. Und durch einen Computerkurs.
Zu dem Computer kam Medica durch einen Zufall. Eigentlich hatten die Betreuerinnen eine TeigMaschine gekauft, damit die Mädchen das Backen lernen, aber dann besuchte eine Amerikanerin das Medica-Zentrum in Zenica. In ihrem Gepäck hatte sie einen PC.
Zur Verblüffung der Helferinnen fanden die Mädchen das Gerät viel spannender als die Teigmaschine. Deshalb schenkte die Amerikanerin den Frauen zum Abschied den Computer, die Medica-Betreuerinnen organisierten einen Kurs, jeden Freitagnachmittag, und seitdem ist der Freitag der wichtigste Tag in Elviras Woche.
Dann lernt sie MS-Dos und Windows und wie man Nachrichten in alle Welt verschickt. Wenn der PC-Kurs abgeschlossen ist, wird sie in der Lage sein, über das Internet endlich wieder mit ihrer alte Freundin aus Sarajevo zu plaudern. Die ist am Anfang des Krieges nach Schweden geflohen, in ein Land, in dem es keine Granaten gibt und das für Elvira ein anderes Wort geworden ist für Paradies. "Am Computer kann ich abschalten und mein Leben vergessen", sagt Elvira.
Das ging vielen während des Bürgerkriegs ähnlich. Mit dem Computer überwanden sie die verordnete Isolation und hielten Freundschaften über die blutigen Fronten hinweg. E-Mail war das Fenster zur Welt für Menschen, deren eigene Welt zerstört wurde.
Möglich gemacht hat das ein Computernetz, das "ZaMir" heißt - "Für den Frieden" - und per Telefonleitung über Bielefeld als Knotenpunkt2 die Städte Ex-Jugoslawiens miteinander verbindet.
Mitten im Krieg konnten Menschen aus dem unerreichbaren Sarajevo per E-Mail überall dorthin gelangen, wohin Freunde und Verwandte geflohen waren: in die USA, nach Deutschland oder in das benachbarte Kroatien. Während die Soldaten schossen, machten rund 2000 ZaMir-Nutzer per E-Mail einander Mut.
Für die Mailboxen brauchten sie nur einen PC, ein Modern und einen Telefonanschluß, dazu die für das deutsche Z-Netz (siehe Seite 115) entwickelte Mailbox-Software "Zerberus". Mit kugelsicherer Weste und einem Ausweis der Blauhelmtruppe Unprofor hatte der amerikanische Friedensaktivist Eric Bachman diese Ausrüstung in die umkämpften Städte Ex-Jugoslawiens gebracht. Dort schulte er dann Mailbox-Betreiber und -Nutzer.
Der zentrale Umschlagpunkt von ZaMir steht in Bielefeld, wo Eric früher selbst die E-Mail-Technik erlernt hat. Weil die Telefonleitungen zwischen den einzelnen Städten Ex-Jugoslawiens gekappt waren und nur die Verbindungen ins Ausland noch funktionieren, wurde die Bielefelder Mailbox zur Relais-Station aufgebaut. 14 lokal vernetzte Personalcomputer mit 2,6 Gigabyte Speicherkapazität rufen dort die digitalen Botschaften aus Kroatien, Bosnien und Serbien im Zweistundenrhythmus telefonisch ab.
Das Programm sortiert die Post und überträgt sie in die Empfängersysteme. Die Kosten - allein die Telefongebühren in Bielefeld betragen bis zu 6000 Mark im Monat trägt in erster Linie eine Stiftung des ungarisch-amerikanischen Wertpapiermilliardärs George Soros.
Das kommt auch dem Medica-Zentrum in Zenica zugute. Früher mußten die Ärztinnen per Satellitentelefon wichtige Medikamente in Zagreb oder Köln anfordern. Heute genügen das Eingeben des Wunsches in den PC und der Befehl "SENDEN". Dadurch haben sich die Telefonkosten dort mehr als halbiert.
Das ist nicht der einzige Vorteil. Vor dem elektronischen Postdienst hatten die Ärztinnen von Medica immer kiloweise Briefe im Gepäck, wenn sie nach Bosnien fuhren. Weil die Militärs pro Person nur zehn Briefe erlaubten, bekamen die durchreisenden Frauen die Briefe bis in die Hosenbeine gestopft.
Jetzt sind die Plätze an den PCs in Ex-Jugoslawien heiß begehrt. Wie die vier Computer, die in der Zenska Infoteka3, der "Fraueninfothek", in Zagreb stehen.
Djurdja Knezevic, 43, die Gründerin dieses Frauenzentrums, ist ungeschminkt, trägt Lederjacke, schwarze, enge Jeans, kurze Haare und steht vor einem Imbiß in der Altstadt von Zagreb. Auf den ersten Blick erinnert hier nichts an den Krieg. Die Mädchen auf der Straße tragen oversized und Doc-Martens-Imitationen zu roten Lippen. Die Fassaden der alten Häuser sind sorgfältig übertüncht, und peruanisehe Folkloregruppen musizieren schon wieder auf den Plätzen - nur in den Hinterhöfen bröckelt der Putz von den Mauern.
Auch Djurdja wirkt, als habe der Krieg bei ihr keine tiefen Wunden geschlagen. Sie lacht viel und hat immer eine spöttische, unaufgeregte, unideologische Sicht der Dinge.
"Die Vergewaltigungen in Bosnien", sagt sie, "sind nicht nur ein Resultat der Feindschaft zwischen den Bevölkerungsgruppen. Sie sind auch Ausdruck der gestörten Beziehung zwischen Männern und Frauen. Hier tun alle so, als geschehe so was zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit. Aber was haben die Russen gemacht, als sie Berlin einnahmen? Was die Japaner mit den Koreanerinnen? Es gibt sogar Videos von den Vergewaltigungen hier, die in den USA unter dem Ladentisch gehandelt werden. Mann bleibt eben Mann, egal ob Serbe, Kroate oder Japaner."
Deshalb hat Djurdja vor knapp einem Jahr bei den Zagreber ZaMir-Betreuern ein neues Daten-= für Frauen beantragt. Es heißt "Frauenkonferenz" und soll den Frauen die Möglichkeit geben, ihre Erfahrungen auszutauschen. Untereinander und trotzdem öffentlich.
Aber auch das fällt vielen noch schwer. "Oft verschicke ich etwas auf dem öffentlichen Brett", sagt Djurdja, "und erhalte dann Antworten an meine persönliche E-Mail-Adresse."
Für den Fall, daß die Frauen keine männlichen Mitleser mehr wollen, läßt Djurdja weibliche Systemoperatoren anlernen, die Männer aus dem Netz fernhalten könnten. In Zagreb sind es schon zwei, in Tuzla und Sarajevo gibt es jeweils eine, und Belgrad sucht noch nach Anwärterinnen. "Eigentlich", sagt Djurdja, "bin ich gegen eine solche Abschottung, wir wollen kein Ghetto für eine Minderheit. Wir sind ja auch keine. Wir wollen nur unsere Hälfte der Macht."
Die aber ist in in Ex-Jugoslawien ferner als jemals zuvor. "Wir Frauen sind die Hauptverlierer der Tragödie", sagt Djurdja, "gerade jetzt, beim Wiederaufbau des zerstörten Landes. Arbeitsplätze sind knapp, die Männer kommen von der Front zurück und drängen ihre Frauen zurück an den Herd. Dabei sind wir auf dem Weg zur Gleichberechtigung während des Krieges ein gutes Stück weitergekommen."
Das war auch bei Djurdja so. Zuerst gründete sie während des Krieges eine Flüchtlingshilfsorganisation, dann ein Frauenhaus, schließlich die Infoteka, die eine Art Frauenbildungswerk ist und von der deutschen "Frauenanstiftung" unterstützt wird. Heute laufen die Fäden zwischen den Frauengruppen ganz Kroatiens dort zusammen, wo sie mit Gruppen in Bosnien und Belgrad vernetzt werden.
Alma Krvavac in Sarajevo ist die erste weibliche Systembetreuerin des ZaMir-Netzes. Aber ausgerechnet sie hat gar kein Interesse an Djurdjas Frauenkonferenz. Ebensowenig wie an Politik. "Mein Vater ist Moslem", sagt sie, "meine Mutter ist Katholikin, und ich gehöre mir selbst."
Trotzdem setzte sie jeden Tag ihr Leben für die Aufrechterhaltung der E-Mail-Verbindung aufs Spiel. Am gefährlichsten waren dabei die 20 Minuten von ihrer Wohnung bis ins Zentrum der Stadt. Bei jeder Straßenüberquerung konnten die Scharfschützen sie von den Bergen aus ins Visier nehmen. "Es war meine Pflicht, da zu sein", sagt Alma heute. "Außerdem zahlt mir Soros 200 Mark im Monat, das ist viel Geld hier in Sarajevo."
Alma hat das ZaMir-Netz vor anderthalb Jahren kennengelernt. Da wollte sie ihrem Bruder in Australien mitteilen, daß sie noch lebt. Und ZaMir war die einzige Verbindung aus der umkämpften Stadt. Heute ist Alma eine echte Computerexpertin. Das sagen zumindest ihre männlichen ZaMir-Kollegen.
Im vergangenen Sommer, erzählt sie, kam es immer wieder zu unerklärlichen Stromausfällen, die die Festplatte der Mailbox zerstört hätten. Zwei Wochen lag damals die gesamte Kommunikation still, und als sie endlich eine neue Festplatte installiert hatten, war schon wieder kein Strom in der Leitung. Und das, obwohl die Mailbox am Notstromaggregat der Polizei hing.
Alma beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie folgte dem schwarzen Kabel, das da aus der zerklüfteten Wand ragte und über den Flur und vier Stockwerke tief hinunterhing, bis auf die Straße. Geduckt hastete sie die 50 Meter hinüber zur Polizeiwache, wo das Kabel in einer Türöffnung verschwand.
Dahinter, unten im Keller, saß ein Mann vor einem leergelöffelten Suppenteller. Sein kleiner Elektrokocher hing noch am Aggregat. Und der Hauptanschluß, der ganz Sarajevo mit der Welt verband, baumelte nutzlos im leeren Raum. "Das", sagt Alma, "waren die Probleme, mit denen wir hier zu kämpfen hatten."
Langsam und genau, wie es ihre Art ist, erklärte sie dem Polizisten, warum dieser Stecker nie umgestöpselt werden dürfe. Seitdem kam es nicht wieder zu einem derart langen Stromausfall. Und jetzt, nach dem Friedensabkommen, läuft auch die richtige Stromleitung wieder.
Dafür droht Gefahr von einer anderen Seite. Das Internet mit seinen Verlockungen ist auch in Sarajevo schon auf dem Vormarsch - mit einem grelleren, peppigeren Angebot4 als das alternative ZaMir-Netz mit seinen politisch engagierten Brettern und den braven E-Mails.
Irgendwann werden alle Menschen hier die bunte weite Welt des World Wide Web auf ihren Schirmen haben können. Und den ganzen Schrott des Internet dazu.
Sie werden mit Menschen in den USA und Australien plauschen können. Aber reden sie dann auch mit den Serben, Kroaten und Bosniern in der Nachbarschaft?
Elvira aus Zenica jedenfalls möchte am liebsten immer noch alle Serben umbringen. Sogar die serbischen Frauen. Und noch lieber wäre sie selber tot. Daran hat bisher kein Friede und kein Computer etwas ändern können.

  1. Die meisten Patientinnen von Medica-Zenica stammen aus den Gegenden um Gorazde, Zepa und Srebrenica.
  2. Weil die Mailbox in Bielefeld Zugang zum Internet hat, verbindet sie das ehemalige Jugoslawien auch mit dem Rest der Welt.
  3. Das Frauenzentrum hat eine Bibliothek organisiert PC-Kurse und gibt eine feministische Zeitschrift heraus.
  4. Anders als im Internet werden per ZaMir keine Bilder oder Grafiken ausgetauscht, sondern nur Texte.

Spiegel Special, März 1996