Offener Brief an die ICAO (International Civil Aviation Organization)
Ein zweiter Bericht "Auf dem Weg zu einer internationalen Infrastruktur zur Bewegungsüberwachung"
Dienstag, 30. März 2004
An die Teilnehmer der 12. Sitzung der "Facilitation Division" der International Civil Aviation Organization
Wir schreiben Ihnen im Namen einer großen Gruppe von Menschenrechts- und Bürgerrechtsvereinigungen, um unserer Sorge Ausdruck zu geben über eine Reihe von Entscheidungen, die aus Ihren Konferenzen scher Daten wird jedoch unverhältnismäßige Auswirkungen auf die Privatsphäre und bürgerliche Rechte haben. Diese Rechte sind festgeschrieben in einer großen Anzahl internationaler Konventionen und Verträge, zu denen auch der 12. Artikel der Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen gehört, der 17. Artikel der Internationalen Bürgerrechtskonvention, der 8. Artikel der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte, sowie in einer großen Zahl von nationalen Verfassungen und Rechtssystemen. Die Pläne der ICAO bedrohen diese Rechte.
Schutz der Bewegungsfreiheit
Der Respekt vor der Privatsphäre des Individuums ist wesentlich für eine offene Gesellschaft, und das schließt die Privatheit des Reisens ein. Das Recht auf Freizügigkeit wird auf der ganzen Welt als ein fundamentales Recht betrachtet, genau wie die Versammlungsfreiheit. Grenz- und Flugsicherheit beinhalten notwendigerweise die Überprüfung der Reisenden und die Nutzung persönlicher Informationen; doch im Hinblick auf die fundamentalen Menschenrechte, die damit zusammenhängen, müssen diese Untersuchungen mit einem Höchstmaß von Sorgfalt und Bedachtheit durchgeführt werden. Der biometriebasierte Ansatz der ICAO zur Dokumentensicherheit läßt solche Sorgfalt leider nicht erkennen. Tatsächlich ermöglicht er die Schaffung einer globalen Infrastruktur zur Überwachung.
Die Beunruhigung über biometrisch zu identifizierende Reisedokumente ist weltweit hoch und sogar von vielen Nationalregierungen geäußert worden:
Vermeidung nationaler biometrischer Datenbanken
Weil sie nicht sorgfältig ausgearbeitet sind, laufen die ICAO-Standards Gefahr, diese internationalen Warnungen außer acht zu lassen, was in der Einrichtung zentralisierter nationaler Datenbanken für persönliche biometrische Informationen resultiert.
Die Europäische Union zum Beispiel benutzt jetzt schon die Forderung der ICAO nach biometrischen Pässen, um die Einrichtung einer zentralen europäischen Datenbank für Fingerabdrücke anzuregen, die die Erstellung nationaler Datenbanken ermöglichen würde, sowie die Erfassung nationaler Personalausweise und Hintergrunduntersuchungen. Die EU ruft außerdem nach Speicherkapazitäten auf den Chips, die in den nationalen Ausweispapieren enthalten sein sollen, die beträchtlich größer sind als der von der ICAO geforderte Standard von 32K, was es ermöglichen würde, in Zukunft noch weitere Informationen auf ihnen zu sammeln.
Es gibt schon Diskussionen über den Austausch biometrischer Daten mit privaten Unternehmen. Eincheck-Prozeduren an Flughäfen werden die Verifizierung der Integrität der Reisedokumente beinhalten, und die Fluggesellschaften speichern die Biometriedaten vielleicht. Einige Leute sagen voraus, daß es ein Teil der „Advanced Passenger Information“-Systeme werden wird, daß biometrische Informationen auch an die Behörden des Zielorts eines Flugpassagiers weitergeleitet werden.
Zentrale Datenbanken werden zum Risiko für die Privatsphäre durch die Offenlegung persönlicher Informationen, durch die Anforderungen an die Sicherung solch großer Datenlager und durch die Nutzung biometrischer Daten für andere Zwecke als die in Rede stehenden. Zusätzlich dazu erhöht die zentralisierte Sammlung von biometrischen Daten das Risiko zur Nutzung dieser Daten als Schlüssel zur Vernetzung von Datenbanken, die, wie es Datenbeauftragte der EU sagen, „dazu führen könnte, daß man detaillierte Profile der Gewohnheiten eines Individuums sowohl in der Öffentlichkeit als auch im privaten Sektor erstellen kann.“
Solche Datenbanken werden auch zu erhöhtem Transfer persönlicher Daten über nationale Grenzen hinaus führen, wenn die Individuen reisen. Wenn zum Beispiel die Identität eines EU-Bürgers in den USA verfiziert wird, werden dann die amerikanischen Stellen die biometrischen Daten aus den EU-Datenbanken herunterladen? Oder werden die amerikanischen Behörden die biometrischen Daten, die sie sammeln, während sie die Dokumente prüfen, zusammen mit anderen ähnlichen Daten für die nächsten 50 Jahre selbst speichern? Ebenso: Wenn Bürger anderer Staaten ein EU-Mitgliedsland besuchen, wird dann von ihnen verlangt werden, daß sie Fingerabdrücke abgeben, obwohl die Reisedokumentations-Standards der ICAO keine Fingerabdruckdaten beinhalten? Bis diese Fargen geklärt sind, sollte die ICAO keine Kompatibilitäts-Standards einrichten.
Technologien in der Überwachungs-Infrastruktur
Biometrie ist eine fehlbare Technologie, die die Überwachung erhöhen, einzelne Individuen irrtümlicherweise der Untersuchung aussetzen und, außer wenn sie bedachtsam eingeführt wird, zu erhöhter Datensammlung und erhöhtem Datentransfer über die Ländergrenzen führen wird.
Die Wahl der ICAO, sich auf die Identifizierung von Gesichtsmerkmalen als Standard zu konzentrieren, ist problematisch:
Wir sind sehr beunruhigt darüber, daß die neue Resolution aus New Orleans es einzelnen Ländern erlaubt, mehrere biometrische Datenerhebungen vorzunehmen, zum Beispiel Iris-Scans und Fingerabdrucknahme, zusätzlich zur Gesichtserkennung. Diese zusätzlichen physischen Maßnahmen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, daß biometrische Datenbanken für andere Zwecke genutzt werden. Die New Orleans Resolution steht im Gegensatz zum von Ihnen geforderten Ziel der Kompatibilität der Systeme und erlaubt es einzelnen Staaten, invasive Lösungen zu verfolgen, und sich dabei der ICAO-Standards als Rechtfertigung zu bedienen. Wir haben schon gesehen, daß die EU ein zentrales Fingerabdruckregister vorschlägt; andere könnten diesem Beispiel folgen.
Die bestehenden Pläne zur Speicherung der biometrischen Daten auf "kontaktlos auslesbaren Trägern" erregen ebenfalls Besorgnisse. Diese Pläne beinhalten sehr wahrscheinlich die Nutzung von Radio-Frequenz-Identifikationschips (RFID). RFID-bestückte Pässe könnten insgeheim gelesen werden, durch Brieftaschen, Hosentaschen, Rucksäcke oder Portemonnaies hindurch, und zwar von jedem, der ein geeignetes Lesegerät besitzt, was Händler, Identitätsdiebe (?), Taschendiebe, diktatorische Regierungen und andere einschließt. Die ICAO bewirbt den Einsatz dieser Technologie, während RFID-Chips überall in der Welt für große Kontroversen sorgen. Es wäre mehr als voreilig, eine definitive Entscheidung zur Beförderung dieser Technologie zu fällen, ohne die Ergebnisse dieser Diskussion abzuwarten. Die Nutzung dieser Chips muß erneut bedacht, bewertet und mit alternativen Technologien, die weniger invasiv sind, verglichen werden.
Nationale biometrische Datenbanken und die Speicherung von biometrischen Daten durch Dritte kann vermieden werden. Die ICAO hätte eine weisere Entscheidung bei der Auswahl der Technologie treffen und ihren Einsatz spezifischer festlegen können. Biometrische Daten können auch so erhoben werden, daß sie vor der Nutzung zur geheimen Überwachung oder Verfolgung (Tracking) geschützt sind. Biometrische Daten können lokal auf Reisedokumenten gespeichert werden, und Überprüfungen bei der Grenzenüberschreitung können auf ganz einfache Weise die Verbindung zwischen den Daten des Individuums und denen, die auf dem Dokument gespeichert sind, verifizieren. Solche Zweiwegechecks sind von der ICAO erwogen worden, sind aber leider nicht Bestandteil der ICAO-Forderungen. Außerdem haben Datenschutzbeauftragte der EU geschrieben:
Biometrische Systeme, die mit physischen Charakteristiken arbeiten, die keine Spuren hinterlassen (zum Beispiel die Form der Hand aber nicht der Fingerabdrücke) oder biometrische Systeme, die zwar Spuren hinterlassen, aber nicht die Speicherung der Daten bei jemand anderem als dem betroffenen Individuum erfordern (mit anderen Worten: die Daten werden nicht in einem Kontrollgerät oder einer zentralen Datenbank gespeichert) erzeugen weniger Risiken für den Schutz fundamentaler Bürgerrechte und die Freiheit des Einzelnen.
Solche Sorgfalt bei der Erstellung von Standards hat die ICAO bisher nicht erkennen lassen. Die ICAO muß sich rückbesinnen und ihre Entscheidungen neu überdenken, außerdem muß sie eine Untersuchung aller zur Verfügung stehenden Technologien im Hinblick auf ihre möglichen Auswirkungen auf die Privatsphäre und die Bürgerrechte durchführen
Biometrie bleibt problematisch, auch wenn sie auf freiwilliger Basis angewendet wird. Initiativen wie "trusted traveller" oder "Simplified passenger travel" errichten ebenfalls Überwachungsinfrastrukturen, die Hintergrundüberprüfungen und den Transfer persönlicher Daten beinhalten, was für weitere Zwecke genutzt werden kann, die Steuerfahndung eingeschlossen. Wer sich nicht "freiwillig" der erhöhten Überwachung unterwerfen will, wird unweigerlich zum Kunden zweiter Klasse, der intensiverer Gepäckprüfung, längeren Warteschlangen und anderen unbequemen Verzögerungen ausgesetzt wird.
Was die ICAO tun sollte
Die ICAO muß Grenzen für die unangemessene Sammlung, Auswertung Speicherung und den Transfer von Daten schaffen. Wir rufen die ICAO auf, zumindest spezifische Anforderungen zu formulieren, die sicherstellen, daß die Einzelstaaten ihr Mandat nicht dazu ausnutzen, nationale biometrische Datenbanken aufzubauen.
Die bestehenden Spezifikationen der ICAO sind zu weit gefaßt und dadurch dazu geeignet, unverantwortliches nationales Verhalten zu fördern und es nationalen Regierungen zu erlauben, ihre eigenen demokratischen Beratungen über so hochsensible Fragen wie Profiling, nationale Ausweispapiere und internationalen Datenaustausch zu unterlaufen.
Sollte die ICAO nicht willens sein, nur solche Lösungen vorzuschlagen, die die Privatsphäre und die Menschenrechte durch ihre technologischen Spezifikationen ausreichend schützen, und alternative Technologien zu prüfen, rufen wir die ICAO auf, ihr Ziel, biometrische Daten als Standard festzulegen, aufzugeben.
Im einzelnen rufen die Unterzeichner die ICAO zu folgendem auf:
Wir hoffen, daß die Entscheidungen bezüglich der biometrischen Daten aufgrund logistischer und kommerzieller Erwägungen gefällt wurden und nicht mit der Absicht, die Erhebung von Reisedaten in eine globale Infrastruktur zur Überwachung zu verwandeln. Aber wir sind in tiefer Sorge, daß dies ihre unbeabsichtigte Folge werden könnte.
Unterzeichner:
Additional Signatories (after March 30, 2004)
Verweise und Links ins Internet: