ZAGREB-TAGEBUCH 

Von Wam Kat 

Übersetzung von: Fördergemeinschaft für demokratische Friedens-Entwicklung e.V., Düsseldorf 

4. Folge, 1.Dez.1993 – 9.Jan.1994 

1.Dez.1993: Der Friedensbus fährt wieder, gestern abend konnten wir ihn von der Straße herunterbekommen. Später besuchten Vesna und ich die Leute vom Friedensbus, und wir hatten ein gutes Gespräch mit Teet und Asa. Vesna war etwas überrascht, als sie Teet über sein Heimatland Estland sprechen hörte und besonders über die Russen dort. Teet ist, wie die meisten meiner Freunde aus dem Baltikum, sehr stolz auf sein Land und haßt die Russen, die ihrer Meinung nach das Land mit Hilfe von Nazi-Deutschland besetzten. Sie fühlten sich die ganze Zeit als Bürger zweiter Klasse, durften in der Öffentlichkeit nicht ihre eigene Sprache sprechen, und die UdSSR verfolgte die Politik, immer mehr Russen in das Land zu bringen, um allmählich die Mehrheit zu haben und die eigenständige Kultur zu verdrängen. Teet erzählt auch von der Zeit, als er noch jung war und mit seinem Vater auf Feste ging, hauptsächlich zu Hochzeiten, und wenn die alten Leute dann betrunken waren, fingen sie an, die alten Lieder zu singen, und natürlich solche, die sie, die estnischen Soldaten, im 2.Weltkrieg gesungen hatten, als sie zusammen mit den Nazi-Deutschen gegen die Rote Armee zogen. 

Vesna stellte fest, daß Jugoslawien wohl ein kommunistisches Land gewesen sei, daß sie jedoch kaum etwas wisse von dem, was hinter dem Eisernen Vorhang geschehen sei. Ich bin viel dorthin gereist und weiß wahrscheinlich mehr über die verschiedenen Länder als sie. 

Die meiste Zeit des Tages verbrachte ich im Friedenszentrum von Zagreb, um die neue E-Mail-Verbindung zu testen und um mit all den Leuten zu sprechen, die dort vorbeikommen. Einer von ihnen ist Curtis, der von Holland nach London umgezogen und nun hierhergekommen ist, um das berühmte Krankenhaus, das die südafrikanische Regierung den Moslimen in Bosnien geschenkt hat, aus dem HVO-Hafen in Ploce herauszuholen. Es liegt dort schon seit einigen Monaten und sollte ans Ostufer der Neretva in Mostar gebracht werden – wegen der Kämpfe war das seither nicht möglich. 
2.Dez.: Heute kam die beste Nachricht seit vielen Tagen: Djakula, der Bürgermeister der serbischen Seite von Pakrac ist von den Behörden in Knin entlassen worden, und mit ihm seine besten Freunde. Er war fast drei Monate in Glina im Gefängnis. Ich denke, alle Leute, die ich kenne, sind jetzt frei, oder wenigstens nicht im Gefängnis. Auch die vier Fahrer von UNHCR, die am letzten Wochenende in Velika Kladusa von Polizisten aus Adzic festgenommen wurden, kamen am nächsten Tag wieder frei – wie bei Djakula wurde auch bei ihnen kein Grund angegeben, warum sie festgenommen worden waren. 

Heute brachte ich die meiste Zeit ’damit zu, unser Netzwerk-Gerät auszutauschen. Eric hat organisiert, daß wir direkt mit Deutschland verbunden sind anstatt wie bisher über Österreich. Das Gerät, das Eric aufgebaut hat, soll uns, Belgrad und besonders die neue Verbindung in Sarajevo bedienen. Es scheint jetzt möglich, manchmal von Sarajevo nach Deutschland zu telefonieren. Der Grund, warum Erics Relais bei uns anruft, ist, daß die Telefongebühren in den letzten Monaten so gestiegen sind, daß es jetzt billiger ist, uns aus Deutschland anzurufen, als für uns, auch nur nach Slowenien zu telefonieren. 

Es kamen auch die ersten Nachrichten von Leuten, die mein Bild und die fünf Zeilen im US-World-Report dieser Woche gelesen hatten. Ich wußte nicht, was das für eine Zeitung ist, bis David mir sagte, sie gehöre zu den fünf großen in den Vereinigten Staaten. Darum also können sie einen Reporter bezahlen, der eine halbe Stunde lang über den Ozean hinweg mit mir telefoniert, und einen Fotoreporter, der einen ganzen Tag lang mit mir herumreist, um dann nur ein einziges Bild und vielleicht 10 Zeilen darüber zu veröffentlichen. Was für ein Unterschied zu Vesna, die darum kämpfen muß, das Geld für jede einzelne Ausgabe von ARKzin zusammenzubekommen! 

Später am Abend sprach ich mit einer älteren Frau aus Deutschland. Sie will mir, oder vielmehr uns, Anfang nächsten Jahres eine ganze Anzahl Nähmaschinen mit Handbetrieb bringen, um eine Nähstube in Okucani einzurichten. Sie hat schon zwei für andere Flüchtlingslager zusammen. 
3.Dez.: Heute war einer der Tage, wo viel Papierkram zu erledigen war. Ich hasse das, aber es ist notwendig. Papierkram bedeutet in meinem Fall Computerarbeit, Antwort auf Computerbriefe, Vorschläge schreiben usw. Wir wollen eine spezielle Pakrac-Zeitung herausbringen, noch ehe das Jahr zu  
Ende geht, in der Hoffnung, Geld für unser Projekt zu bekommen, aber es gelingt immer erst in letzter Minute. 

Man braucht auch Zeit, um ein wenig herumzutelefonieren und die Zeitungsberichte zu lesen, um mit der übrigen Welt in Kontakt zu bleiben, und dazu gehört manchmal selbst Bosnien-Herzegowina. Von einem UN-Beobachter hörte ich, daß sie oftmals über den BBC-Weltdienst hören müssen, was auf der "anderen Seite" der Stadt geschieht, Und aus meinen eigenen Erfahrungen weiß ich, daß, während man einen Konvoi fährt oder in einer entlegenen Gegend arbeitet, man keine Zeit hat, sich aufs laufende zu bringen über das, was in diesem Teil der Welt geschieht. Man erfährt nur, was auf dem kleinen Gebiet geschieht, wo man sich gerade aufhält. 

4.Dez.: Gestern am späten Abend kam der Bus des Friedenszirkus aus Rijeka zurück. Auf dem Weg dorthin brauchten sie wirklich ihre Schneeketten, doch auf dem Rückweg war der meiste Schnee schon geräumt; überall waren Straßenarbeiter und auch Soldaten der HV (kroatische Armee) eifrig damit beschäftigt, die Straße schneefrei zu machen – in unseren Teil der Stadt sind sie noch nicht gekommen, daher ist die Straße, in der Vesna und ich wohnen, ruhig. 

Kristof erzählte, auf der anderen Seite der Berge sei es fast wie im Frühling, und er sei froh, daß er zuerst das Flüchtlingslager von Kutina, immer noch das beste im Land, dann die Kriegszerstörung in Pakrac, dann die Armut des sogenannten Feindes, und dann Rijeka gesehen habe, Er ist sicher, wenn er Rijeka zuerst gesehen hätte, würde er nicht so gut verstanden haben, was hier los ist. In Rijeka spielten sie für die Flüchtlinge, die in den Hotels wohnen, nicht gerade in den billigsten, fügt er hinzu. Es sieht ja ganz hübsch aus, aber wie würdet Ihr Euch fühlen, wenn ihr eineinhalb Jahre mit acht Personen in einem einzigen Hotelzimmer wohnen müßtet. 

In Kutina konnten sie sehen, was es für die Menschen bedeutet, selbst ihre Mahlzeiten zuzubereiten und ihr Haus in Ordnung zu halten. 'In den Hotels von Rijeka und anderswo in Kroatien haben die Frauen nichts zu tun. Jemand anderes kocht für sie, immer in Großküchen und sicher nicht a la carte, und jeden zweiten Tag kommt eine Putzfrau, nimmt ihre schmutzige Wäsche mit und reinigt das Zimmer. Daß das Leben mit vier Kindern, Mutter und Großmutter in einem Raum von 20 qm zu schweren Konflikten untereinander führen kann, aber auch mit der Hotelleitung und dem Personal, überrascht nicht. Sagt mal Euren Kindern, sie sollten sich besonders gut benehmen – und das für eine lange Zeit. Was man mit den Augen sieht, mag ja ganz nett aussehen, in Wirklichkeit ist es aber ganz anders. 

5.Dez.: Ich habe Abschied genommen von meinen Freunden vom Friedenszirkus, der heute morgen nach Varazdin fuhr, für die letzte Serie ihrer Aufführungen in den Flüchtlingslagern dort, und dann geht es zurück nach Norden für sie, ich konnte während der Nacht genug Geld zusammenbekommen für ihre Fahrt nach Hause, nach Schweden; doch habe ich jetzt selbst kein Geld mehr, 

Wenn man glaubt, der Schnee besänftige die Kämpfe, so irrt man, wir gehen in den zweiten Winter in BiH und in den dritten Kriegswinter in Kroatien. Heute morgen um sechs Uhr schon wurde Zadar-Biograd beschossen. Bis spät am Nachmittag fielen mehrere Tonnen Geschosse auf Kusic, Paljuv und Novigrad, am Abend bekommen Biograd und seine Umgebung einige Treffer. 

"Die Batterien sollten bombardiert und zerstört werden", war die Reaktion von jemand am Sonntag, im Hinblick auf die Artilleriebatterien der bosnischen Serben rund um Sarajevo. Wir haben das schon von vielen Leuten gehört, und ich würde es hier nicht niederschreiben, wenn der, welcher das gesagt hat, nicht Abbé Pierre, der Gründer der Emmaus-Gemeinden wäre, die von dem leben, was die Konsumgesellschaft wegwirft, und überall auf der Welt denen helfen, die keine Unterkunft haben. Wer sollte es glauben, daß der 81jährige Priester so etwas sagen würde, normalerweise predigt er Vergebung und gewaltfreien Widerstand. Es ist schade, daß ich nicht die ganze Rede mitbekommen habe, die er heute morgen gehalten hat. Er bat auch alle Bürger von Europa, am Neujahrstag eine Kerze in ihre Fenster zu stellen: "Zündet eine' Kerze an, nicht für den Frieden", sagte er, "sondern für die Toleranz"... 

Wir bekommen auch einen Artikel von Borba, einer Tageszeitung aus Belgrad, die mir als relativ regierungsunabhängig beschrieben wurde. Sie bringt einen Bericht über den humanitären Rechtsfonds von Belgrad. In diesem Bericht wird festgestellt, daß letztes Jahr im Juni, Juli und August mehr als 10.000 Kroaten aus der Vojvordina ihren Besitz mit Serben aus Kroatien "ausgetauscht" haben. Sie behaupten ferner, diese ganze Maßnahme sei nach einer gut eingefädelten Einschüchterungskampagne durch Mitglieder von Seseljs Radikaler Partei durchgeführt worden. 

Am Abend kam Vesna aus Djakovo zurück, und Sanja kam vorbei und brachte mir das Geschenk, das Jojo und sie mir zum Geburtstag gekauft hatten, als sie ihn in Amsterdam besuchte: das Tagebuch eines holländischen Soldaten, der letztes Jahr als Militärbeobachter in Sarajewo und im Sektor Nord war. Ich bin also nicht der einzige, der ein Tagebuch schreibt. Die meisten Ausländer hier tun das. 

Spät am Abend fing ich an, dieses Tagebuch zu lesen. Ich bin noch nicht fertig damit, doch ich muß sagen, ich bin nicht sehr überrascht über das, was er schreibt. Die Geschichte ist mehr oder weniger eine dauernde Kritik an der Art und Weise, wie die Mission eines UN-Mili-tärheobachters in BiH und Kroatien organisiert ist. Er mußte fast die ganzen sechs Monate seines Aufenthaltes selbst improvisieren, Chaos und sich widersprechende Befehle und Ansichten herrschten über-all. Ich hoffe, im nächsten Teil seines Buches laufen die Dinge besser für ihn, aber ich erkenne vieles darin„ was ich auch selbst erlebt habe. 

6. Dezember: Es tut mir leid, daß ihr so lange auf das Tagebuch warten mußtet, doch der Bildschirm und weitere Teile meines Laptop waren eine Zeitlang defekt, und ich mußte ohne Bildschirm arbeiten. Das war nicht so praktisch zum Schreiben und Lesen der Texte. Doch Ogujen, unser Computer-Wunderdoktor konnte ihn mir reparieren und gab ihn mir funktionsfähig, fast wie neu zurück. Er sagte mir, das nächstemal sollte ich einen Laptop drei Fingerdick mit Stahl verkleidet anschaffen, für Schwerstarbeit. Er entfernte auch ein kleines Stückchen Metall aus dem Inneren, so daß das Geräusch, das mich seit der Nacht in Mostar begleitet hatte, verschwunden ist; vielleicht war es ein kleiner Teil eines Geschosses aus einer Automatik-Pistole, denn ich erinnere mich, daß Goran rief: Geh in Deckung – und das nächste war ein starker Schlag auf meine Tasche, aus dem Nichts. 
Zur Zeit habe ich Schwierigkeiten, meinen Uorsatz, jeden Tag mein Tagebuch zu schreiben, einzuhalten. Jedesmal, wenn ich im Sektor West war, bin ich drei oder 4 Tage im Rückstand. Obwohl wir vor sechs Monaten bei HPT ein Telefon bestellt haben, ist es bis heute noch nicht angeschlossen. Als ich deswegen mit HPT Daruvar telefonierte, sagten sie wie immer "nema problema", erklärten mir aber auch, die Telefonzentrale von Pakrac sei im Krieg zerstört worden, und das neue System sei nicht so leicht auszuweiten. Daß das alte System zerstört war, wußte ich; die meisten Telefongebäude waren noch zerstört, als wir im Juni dieses Jahres herkamen, fast eineinhalb Jahre, nachdem die Kämpfe aufgehört hatten. Und das "neue System" kenne ich auch, denn es steht im Raum neben dem UNOV-Büro, ich komme fast fünfzehnmal jeden Tag daran vorbei. 

Doch jetzt bin ich in Zagreb und versuche, wenigstens einige meiner handgeschriebenen Aufzeichnungen in den Computer einzugeben.Heute ist "Sint Nicolaas", wie wir auf holländisch sagen. Es heißt hier so ähnlich; es war seltsam, als ich letztes Jahr herausfand, daß sie diesen Tag auch in dieser Gegend feiern. Außer in Holland und in Belgien ist mir das noch nirgends auf der Welt begegnet. Selbst einige der Lieder sind ähnlich wie unsere, so muß wohl diese Tradition aus denselben Quellen stammen. 

7.Dez.: Ich mußte heute morgen ganz früh aufstehen, da Sophy gestern nachmittag angerufen und gefragt hatte, ob ich Interesse hätte, mit dem Hubschrauber in den Sektor zurückzufliegen, da wir als UN-Berater das Recht hätten, gratis mit diesen Dingern zu fliegen. 

Ich mußte um 7.30 Uhr am UNPROFOR-Hauptquartier in Ulica sein, um den "Shuttle" zum Flughafen rechtzeitig zu erreichen. In solch einem Augenblick verpaßt man natürlich die richtige Straßenbahnhaltestelle an den Kasernen. So mußte ich zurückrennen, um noch rechtzeitig dort zu sein. Mit meinem UN-Paß ist es nicht schwierig, durch die Kontrolle zu kommen. 

Ich finde den Weg zur "Move control"-Stelle, wie der militärische Ausdruck lautet; es sind die Kasernen der norwegischen Soldaten, die die Aufgabe haben, den Lufttransport zu organisieren, d.h. sie müssen bestimmen, wer mit welchem Flug transportiert wird. Auf dem Schreibtisch sehe ich ein Formular mit meinem Namen und stelle fest, daß der Flug wirklich für mich organisiert ist. Von anderen Leuten habe ich gehört, meist gehe es chaotisch zu, es werde erst in den letzten Minuten gebucht, was die Piloten, besonders diejenigen, die nach Sarajewo fliegen, fast wahnsinnig mache. 
"Nach Sarajewo darf man nicht mehr als eine Flasche Alkohol und 1000 Zigaretten mitnehmen", steht auf einem kleinen Plakat an der Wand, ich möchte wissen, wer das kontrolliert. Sophy kommt an und wir warten zusammen. Ein Offizier von "MovCon" kommt herein und sagt, alle Flüge seien gestrichen, wir müssen mindestens zwei Stunden warten, bis eine neue Entscheidung bekanntgegeben wird. 

Wir entschlossen uns, in einem kleinen Militärrestaurant zu frühstük-ken, da wir ja nicht nach Sarajewo fliegen, wo man im Tiefflug in die Stadt hereinkommt und einem das Essen im Bauch herumwirbelt wie in einem "Roller coaster", so ist das für uns unproblematisch. In dem Restaurant trafen wir einige Soldaten aus Kenia, die im Süd-Sektor stationiert sind, sie waren zwei Wochen in Zagreb auf Urlaub und langweilten sich fast zu Tode. Den Rest des Morgens und des frühen Nachmittags verbrachten wir hin- und hergehend zwischen dem "MovCon" und dem Restaurant, und unterhielten uns mit den Kenianern, bis beschlossen wurde, daß alle Flüge gestrichen sind, 

8.Dez.: Es ist gefährlich in der Stadt; nicht daß Heckenschützen da wären oder so: es taut, und große Eiszapfen fallen von den Dächern, außerdem werden am Nachmittag die Straßen zu Eisbah-nen. Ein Eiszapfen hat die Telefonleitung von ARK zerstört, es war ein sauberer Schnitt, und natürlich rief man sofort das HPT an, damit es repariert würde, da diese Telefonleitung eine der wichtigsten Verbindungen ist, die sie haben. 
Aber als der "Spezialist" von der Post gestern ankam, zerschnitt er sogleich das erste Telefonkabel, das er finden konnte, und verband es mit dem Telefon. Das Ergebnis war: unsere Mailbox war abgeschnitten, da deren Telefonleitung mit dem normalen Telefon verbunden war. Die Leute von ARK wurden wütend, denn das Telefon läutete alle fünf Minuten, aber niemand war auf der anderen Seite der Leitung (da es die Computer waren, die anriefen), und die "ZaMir"-Benutzer wurden ganz verrückt, da die Mailbox nicht antwortete. In solchen Augenblicken merkt man, wie viele Benutzer von dem System abhängig sind. Ich persönlich verlor fast meine pazifistische Gesinnung, denn eine Nachricht, die bis morgen hätte in Belgrad sein müssen, konnte wegen diesem Idioten nicht durchgegeben werden. 

So brachte ich den Abend damit zu, die Telefonleitungen zu reparieren, und fuhr nicht mit Sophy zum Westsektor, aber ich kam mit Goran überein, daß wir heute fahren wollten. Ihr könnt Euch vorstellen, was ich fühlte, als ich heute morgen kurz am Friedenszentrum vorbeikam und herausfand, daß derselbe Idiot noch einmal an den Leitungen herumgebastelt hatte und jetzt wirklich alle Leitungen in dem Gebäude völlig durcheinander geraten waren. Es kostete mich einige Zeit, aber kurz nach drei Uhr fuhren Goran und ich endlich ab, in den Sektor. 

9.Dez.: Am Morgen hatten wir, Goran, Vanja (die beiden Hilfsleiter der Arbeitsbrigaden) und ich unser wöchentliches Treffen mit Selic, dem Chef des Wiederaufbaubüros im kroatischen Teil von Pakrac. 

Seine erste Frage war: Wie reagiert die "Welt" auf unser Projekt? Konkreter, was denken die Freiwilligen und die vielen Gäste über Pakrac, nachdem sie hier gewesen sind? 

Ich versuchte, ihm zu erklären, daß keiner der Freiwilligen sich bis jetzt über seine Stadt beklagt habe, die meisten seien zu sehr erschüttert über die Zerstörung und über die Schicksale der Leute. Aber was denken sie über Kroatien, war seine nächste Frage. Eine Frage, die oft gestellt wird, wenigstens stellte er nicht die Standard-Frage, nämlich, wer war und ist, nach Ansicht der Freiwilligen, das Opfer oder der Angreifer in diesem Krieg? Er weiß wahrscheinlich, daß er nie von mir eine Antwort bekommen wird, so wenig wie von den meisten internationalen Hilfskräften, die hier arbeiten. Jedem, der mit der UNO zusammenhängt (auf welche Weise auch immer), ist es verboten, diese Frage anders zu beantworten als mit der Aussage: Wir sind neutral. Ich zucke meistens mit den Schultern, lächle ein wenig und sage, daß ich nun seit fast zwei Jahren in Kroatien lebe (ob das eine positive oder eine negative Antwort für mein Gastland ist, lasse ich offen). 

Auf jeden Fall sage ich ihm, die meisten Leute, die gekommen seien, hätten eine Menge Vorurteile, negative und positive, fallen gelassen. Etwas ist klar, nämlich daß viele Leute überrascht sind, nicht an jeder Straßenecke Soldaten in schwarzer Uniform zu finden. Als ich kam, hatte die HOS noch etwas zu sagen, aber im letzten Jahr sind sie fast aus dem täglichen und auch aus dem politischen Leben verschwunden. Nur in Split und in Bosnien scheinen noch einige aktiv zu sein. Mit anderen Worten, in Kroatien findet man nicht an jeder Ecke Hakenkreuz, große "U"s (für Ustashe) und andere faschistische Symbole, mindestens nicht so viele wie die meisten, die hierherkommen, erwarten. 

10.Dez.: Den heutigen Tag verbrachte ich hauptsächlich damit, viele Faxbriefe zu schreiben, und als ich sie ausdrucken wollte, fand ich heraus, daß der Drucker keine Tinte mehr hatte. In einer Kriegszone wie diese, kann man nicht einfach um die Ecke gehen und eine gute Patrone kaufen. Ich wußte, daß sie bei UNOV denselben Drucker haben, aber sie hatten ihre letzten Patronen aufgebraucht. Sophy fuhr heute nachmittag nach Daruvar, so bat ich sie, sich dort nach einer Patrone umzusehen. Als ich zu den österreichischen Freiwilligen kam, sah ich, daß sie denselben Drucker hatten und sogar noch eine Ersatzpatrone. So lieh ich sie mir von ihnen aus... 

Dann traf ich Manfred im UNOV-Büro, das im Rathaus untergebracht ist. Er ist der neue Projektleiter von CARE, und ich mag ihn sehr gern. Er ist so ein richtiger Österreicher, mit seinem netten runden Bierbauch und seinem manchmal schwer verständlichen Akzent im Englischen und seinem Dialekt im Deutschen. Er möchte mit mir über mein gestriges Gespräch in Okucani reden, in welchem es um die Wassermühlen ging. Im südlichen Teil des Sektors gibt es keine funktionierende Mühle, um den Weizen zu mahlen. Deshalb müssen sie nach Bosnien fahren, um ihn dort teuer mahlen zu lassen. Da es kaum Benzin gibt, verlieren sie auf diese Weise mehr Geld als sie verdienen können, besonders, da niemand teures Mehl kaufen will, denn das ist ein typisches Produkt, das die humanitäre Hilfe liefert. Die Wassermühlen liegen um Okucani herum und sind in den letzten 10 Jahren nicht benutzt worden.  

So müssen sie wieder in Gang gebracht werden und man hat ein schönes Projekt, das den Menschen wieder Einnahmen bringt. 
Manfred hat auch noch eine ganze Liste anderer Ideen. Die meisten haben wir schon zusammen durchgesprochen bei früheren Besuchen in diesem Sektor. Da er jetzt der Verantwortliche für CARE in diesem Sektor ist, kann all das Wirklichkeit werden oder wenigstens können wir damit anfangen. 

11.Dez.: Nach unserem Gespräch lud mich Manfred ein, mit ihm nach Daruvar zu kommen und im Hotel Termus zu essen, einem der teuersten Hotels in der Gegend, voll mit Leuten von UNPROFOR, UNCIVPOL und UNHCR und was sonst noch an UNO und UN-verwandten Organisationen gibt. Auch alle Journalisten, wenigstens diejenigen, die Geld haben, sind die meiste Zeit dort, wenn sie Pakrac besuchen. Im großen und ganzen ist Pakrac jetzt bekannt, die Zahl der Besucher steigt, doch in der Nacht gehört die Stadt wieder den Einwohnern und Freiwilligen und natürlich dem argentinischen Blauhelmbataillon in diesem Gebiet, Und gerade jetzt geschieht die meiste "informelle" Arbeit, Kontakte werden geknüpft, zusammen mit den Einheimischen werden Ideen besprochen, es wird getratscht (der Bürgermeister hat heute sein 14.Auto zu Schrott gefahren, das macht mindestens eins pro Monat), und das gesellschaftliche Leben nimmt seinen Lauf. Jetzt, wo die Abende wieder lang sind (es wird schon um 16 Uhr dunkel) zeigt sich Pakrac von seiner besten Seite. 

Solange UNPROFOR und das Rote Kreuz die einzigen beiden Gebäude der Stadt besetzt haben, die noch zu benutzen sind und vor dem Krieg als Unterkünfte dienten, wird es noch lange dauern, bis man hier anständig (etwas anders als im Schwimmbad, in der Sporthalle, Kegelbahn, Restaurant usw.) unterkommen kann, denn nicht jedermann ist bereit, mit zwölf Menschen in einem Raum zu schlafen, eine Toilette und eine Dusche zu teilen, wie die Freiwilligen und unsere Gäste dies tun müssen. Wir sind sicher, daß immer mehr Leute nach Pakrac kommen werden (wie jeden Freitag kamen heute mindestens sechs Gäste für das Wochenende). So müssen wir eine andere Lösung finden, z.B. eine Art Zimmervermittlung, so daß die Leute und das Geld in Pakrac bleiben. Das ist also ein weiteres Projekt, das Einkünfte bringt, vielleicht für Duda, wenn sie aufhört, bei der UNOV zu arbeiten, denn sie bekommt ein Baby. 

12.Dez.: "Sind die Soldaten in Holland auch so albern?" fragte Vanja mich, als wir im Zug von Kutina nach Zagreb saßen (nachdem wir zwei Stunden in Kutina gewartet hatten, die Verbindung zwischen Pakrac und Zagreb ist nicht besonders gut, aber es gibt eine Verbindung, und das ist auch schon etwas). Manchmal haben sie vor der Lokomotive einen Güterwagen, um herauszufinden, ab Minen auf dem Bahnkörper sind. Wir sitzen in einem großen Abteil,' in dem etwa 40 Menschen sind. Auf der anderen Seite des Waggons ist eine Gruppe von 10 HV-Soldaten, sitzend und stehend. 

In Zagreb versuche ich am Bahnhof Geld umzutauschen, um Fahrkarten für den Nachtzug zu kaufen, da wir morgen das UNOV-Zentrum in Wien besuchen wollen. Aber es war natürlich nicht möglich, mehr als 100 DM kann man nicht umtauschen. So versuche ich, die Fahrkarten direkt mit DM zu bezahlen. Ich frage, und zu meiner größten Überraschung ist das heute möglich. 

Der Zug hat keinen Schlafwagen, deshalb beschlossen wir, ein Abteil l.Klasse zu nehmen, denn auf der ganzen Reise nach Wien im Gang zu liegen... so etwas habe ich vor 10 Jahren gemacht, aber jetzt habe ich keine große Lust, auf diese Weise zu reisen. Schlafen ist sowieso in den ersten Stunden kaum möglich. Wir werden an zwei Grenzen vorüberfahren, mehr als das letztemal, als ich diese Eisenbahnfahrt machte. Wir haben das Gefühl, daß wir mindestens 15mal kontrolliert werden, die kroatische Polizei und die Grenzkontrolle und dreimal irgendwo in Slowenien. Jedesmal schauen sie verwundert drein, wenn wir ihnen unsere blauen Pässe zeigen. Vanja vergaß es ein paarmal, und als sie ihren kroatischen Paß sahen, forderten sie sie auf, ihre Tasche auszupacken und zu zeigen, wieviel Geld sie hat. Sie will in ein paar Tagen nach Rumänien fliegen, um Leute vom SCI zu treffen und mit ihnen über die verschiedenen Projekte zu sprechen, die SCI mit Freiwilligen in diesem Teil der Welt unterstützt. Sie baten mich von Suncokret dorthin zu gehen, aber ich habe im Augenblick nicht genug Kontakt mit ihnen, als daß ich sie dort vertreten könnte. Ich hoffe, sie werden selbst jemanden schicken. 

Irgendwo zwischen den beiden Grenzen Sloweniens beginne ich, die Berge von Post, die ich in der letzten Woche bekommen habe, zu beantworten. Wir wissen noch nicht, was wir mit all diesen Reaktionen anfangen können. Was können wir mit E-Mail in Pakrac oder in Bosnien tun? Ich sprach über den Job, den sie mir in Sarajewo angeboten hatten. Vanja schaut mich ein paarmal an mit einem Blick, als ob ich total den Verstand verloren hätte. Ich verspreche ihr, daß ich im Augenblick nicht plane, Pakrac zu verlassen und etwas anderes anzufangen. Wie an jedem Wochenende war es wieder ein richtiges Pakrac-Wochenende gewesen, mit vielen Gästen und Leuten, die nur "vorbeikamen". 

Draußen wird die Welt wieder weiß, wir fahren nach Österreich. Zum erstenmal in all diesen Monaten bin ich im Ausland, außerhalb des ehemaligen Jugoslawien (außer den drei Wochen in Holland). 

13.Dez.: Ein Morgen in Wien, was für eine große Stadt, und wie eilig sind all diese Leute, ganz anders als in Zagreb. Wir fragen einige Leute, die Unterschriften gegen’ Gewalt in Österreich sammeln, wie wir zum Internationalen Zentrum von Wien gelangen können. In den letzten Wochen scheint es in Wien an verschiedenen Stellen eine Serie von Briefbomben gegeben zu haben. Eine wurde z.B. an jemand ausgeliefert, der mit Flüchtlingen arbeitet. Wir unterschreiben ihre Petition und schlagen den beschriebenen Weg ein. Wir fahren mit der Straßenbahn durch eine nagelneue Unterführung und gelangen zu der U-Bahn-Station. Es ist schon lange her, seit ich zum letztenmal U-Bahn gefahren bin, und ich fühle mich ziemlich verloren zwischen all diesen Leuten, die wissen, woher sie kommen und wohin sie wollen. 

Beim VIC (Vienna International Center = UNO-City) kommen wir gleichzeitig mit Tausenden von Diplomaten und anderen internationalen UN-Leuten an. Der Wachmann am Tor in seinem hübschen elektronischen Dienstraum kann kaum seine Überraschung verbergen, als er unsere blauen Pässe sieht. Kurz sagt er: "Sie sind Berater??" Ja, das sind wir. Er sieht den Rucksack auf Vanjas Rücken und fragt, ob wir direkt von unserer Mission kommen. "Ja, wir kommen direkt von der Front." Er lacht und wir bekommen mit dem Aufdruck "OFFICIAL VISITORS" (offizielle Besucher) und brauchen nicht durch das Flughafentor zu gehen. Auf unserem Weg kommen wir an ein paar hundert offiziell aussehenden Leuten vorbei, die warten müssen, bis sie durch den Metalldetektor gehen können. Wir fragen uns, wieviel Handgranaten sie wohl in ihrem Gepäck haben. 

Wir gelangen zu einem der Büros im obersten Stockwerk, irgendwo in dem Ameisenbau, welcher das Wiener UNO-Zentrum ist. Neben unserem Raum steht an der Tür, daß das die Küche des DG sei und daß sie immer abgeschlossen sein sollte, sonst sei die Sicherheit des DG nicht gewährleistet. Nach einer halben Stunde kommen die beiden Gäste aus Belgrad, dank E-Mail und Fax konnte ihre Reise in wenigen Tagen organisiert werden, einschließlich der Visa, die sie für Österreich benötigten. Jetzt ist es Tatsache, das Projekt in Pakrac ist jetzt das Projekt beider Friedenszentren, sowohl in Zagreb als auch in Belgrad. 

14.Dez.: Wir waren alle müde von der Reise von Belgrad bzw. Zagreb, deshalb gab es keinen langen Abend. Um 10 Uhr gingen wir alle auf unsere Zimmer. Immerhin war es gut, frei und offen miteinander reden zu können. Es kommt nicht so häufig vor, daß man außerhalb des Landes jemandem aus Belgrad direkt gegenüber sitzt, wenigstens mir nicht. Wir beendeten unsere Berichte im UNOV-Büro und gingen in unser Hotel, ein kleines, nettes, echt österreichisches Hotel. 

Während des Abendessens erfuhr ich aus den Gesprächen, daß die Leute aus Belgrad ganz andere Erfahrungen gemacht haben als z.B. jene in Kroatien und BiH, die an der Front waren. Die ganze Zeit in Belgrad zu sein muß ähnlich sein, wie wenn man die ganze Zeit in Zagreb ist. Wir erzählten ihnen von Pakrac und wie stark zerstört es nach dem Krieg war. Sie erzählten, sie seien in Vukovar gewesen, und welchen Eindruck ihnen das hinterlassen hat. 
Ich wachte sehr "früh auf und ging hinunter um zu frühstücken und zu schreiben, ich hatte einige Geschichten im Kopf und konnte nicht mehr schlafen. Nach zwei Stunden kamen auch die anderen herunter, und es war Zeit zu zahlen und wieder an die Arbeit zu gehen, zur UNOV. Als ich meine Sachen in meinem Zimmer zusammenpackte, konnte ich meine Reisetasche einschließlich meiner Ausweise, etwa 5.000 DM (die ich für das Projekt hier bekommen hatte) nicht finden. Unten im Restaurant konnte ich sie auch nicht finden. Sie war weg und blieb weg. Wir drehten das ganze Hotel um, zusammen mit den Putzfrauen, aber nichts! 

In fast zwei Jahren in Kroatien und BiH habe ich nichts verloren und jetzt, in einer Nacht in Wien, verliere ich fast alles, was ich habe. Ich kann aber nicht Wien dafür verantwortlich machen, es war vermutlich mein eigener Fehler. In einer fremden Stadt, ohne Paß, ohne Geld Oder sonst etwas, doch glücklicherweise umgeben von Freunden! Das erste war, wenigstens wieder einen Ausweis zu bekommen. In solchen Fällen ist es plötzlich möglich, daß die UN sehr effektiv arbeitet. Innerhalb einer Stunde hatte ich meinen blauen Paß wieder und Fotos für den Paß und saß in der Straßenbahn auf dem Weg zur holländischen Botschaft. 

Die nette Dame war schon von der UN angerufen worden, um ihr mitzuteilen, daß mein Paß verloren gegangen sei, und daß ich käme, um einen Ersatzpaß zu bekommen. Sie telefonierte nach Den Haag, um meine Personalien zu überprüfen, und sie fragten sie, warum ich nicht in Zagreb sei, aber wenn ein "Idiot" am Schalter stehe und erzähle, er sei WAM KAT und dann vier offizielle Namen aufschreibe, dann könne das nur ich sein. 
Zurück im UNOV-Gebäude nahm mich Platzer mit zu einem anderen UN-Chef, der Platzer offensichtlich gut kannte, doch nicht so recht wußte, was wir in Pakrac machen. Er war überrascht, daß die UNO sich bei etwas engagiert, das man "Frieden bauen" nennen könnte, eher als "Frieden erhalten". Er wußte, daß irgendetwas gemacht werde, hatte jedoch noch nicht wahrgenommen, daß schon etwas auf die Beine gestellt war. Er sagte, die UNO solle eine Pressekonferenz organisieren und etwas über dieses Projekt sagen. Wir werden ja sehen, aber es ist komisch, hier bei hohen Stellen der UNO zu sitzen und ihnen zu erklären, was ihre eigene Organisation tut, und wie sie es macht. 

Danach gingen wir zu CARE, um die Leute zu treffen, die ich normalerweise in ihrem eigenen Büro in Pakrac sehe. Das Büro in Wien ist viel größer als die beiden Tische, die sie in Pakrac im UNOV-Büro haben. Und hier gibt es wenigstens einige (statt nur einer) Telefonleitungen. Ich fragte sie zuerst, wo in der Nachbarschaft sich eine Polizeistation befinde, um sie über meinen Verlust von heute morgen zu informieren; und als ich dort ankam, fand ich plötzlich heraus, daß ich jetzt CD bin, zum diplomatischen Corps gehöre und nichts für meine Formulare zu bezahlen brauche und eine nette junge Frau nimmt die ganze Liste der IDs von den verschiedenen Institutionen und Organisationen auf. Der stolze Polizist mit seinem dicken Revolver, vor dem ich mich wahrscheinlich vor einigen Jahren noch gefürchtet hätte, fragte mich, wie es an der Front sei und warum ich diese Arbeit mache. Ich erzähle ihnen einige unserer Geschichten. und nach einer Weile sitzen 5 oder 6 Polizisten um mich herum und hören meinen Geschichten zu. Mit "Grüß Gott" verabschieden wir uns lachend. Es ist lange her, wenn überhaupt, daß ich eine Polizeistation auf diese Weise verließ. 

Die Welt ist wieder weiß, als wir als einzige Reisende im Nachtzug von Wien nach Zagreb fahren. Doch bevor wir wieder nach Hause fuhren, trafen wir noch Manfred in Wien, und er zeigte uns eines der besten Speiselokale von Wien. 

15.Dez.: Endlich wieder "zu Hause", dieses Gefühl hatte ich, als ich die Häuser von Zagreb durch die Fenster meines Schlafabteils sah. Das ist bekanntes Land, hier fühle ich mich zu Hause. Wien war wirklich Ausland. Was ist alles geschehen in den letzten Tagen! Die Wahlergebnisse der Krajina sind noch nicht bekannt. Der kroatische Staat jedoch sagt, die Wahlen hätten gegen die Verfassung von Kroatien verstoßen und seien deshalb illegal... 

Der Konvoi vom BiH-Konsulat in Zagreb, der für Maglaj bestimmt ist, hat Split heute verlassen und wird wahrscheinlich eine "heiße Straße" vor sich haben. Bei Novi Travnik, einer Gegend, durch die sie fahren müssen, hat die BiH-Armija kroatische Stellungen angegriffen, wie die Presse berichtete, und es wird wieder schwer gekämpft. In Sarajewo starben heute elf Menschen, und gestern, als ich um meine gestohlene Tasche jammerte, starben auch acht Menschen. Obgleich der holländische Außenminister Kooijmans in Sarajewo war, kann ich mir nicht recht vorstellen, daß er davon Notiz genommen hat. Der Unterschied zwischen der Sicherheit der internationalen Besucher in Sarajewo und derjenigen der Einheimischen ist sehr groß. Minister können kommen und gehen, aber selbst schwer verwundete Zivilisten dürfen nicht durch die Luftbrücke evakuiert werden (die bosnisch-serbische Regierung scheint es verboten zu haben). 

16.Dez.: Einen großen Teil des Tages brachte ich damit zu, Geld aufzutreiben als Ersatz für das in Wien gestohlene oder verschwundene. Das ist nicht so einfach, da ARK im Augenblick nicht so reich ist. ARK wächst und wächst und wird so groß, daß das Geld, das für den Rest des Winters gereicht hätte, plötzlich ausging, und es gibt kaum Rücklagen. Dank den Runden Tischen und den Menschenrechtsaktivitäten, die zu unserer Überraschung eine positive Presse bekommen, wollen immer mehr Leute innerhalb dieses Netzwerkes aktiv werden, und da die meisten von ihnen nicht viel mehr mitbringen als ihr Wissen, was fantastisch ist, braucht man einfach Geld. Und nach fast zwei Kriegsjahren wird die ursprüngliche Unterstützung durch die westeuropäische Friedensbewegung etwas kleiner. 

Auch wollen jene Friedensarbeiter zu exotischeren Orten wie z.B. nach Mostar, Tuzla und Sarajewo gehen. "Saat für den Frieden" und einige italienische Friedensgruppen planen etwas für die Weihnachtszeit. Ich hörte sie davon sprechen, symbolisch die Brücke von Mostar reparieren zu wollen. Außerdem sind viele Weihnachtskonvois auf dem Weg nach Bosnien,, einige auch zu uns nach Kroatien, und vielleicht werden einige Gruppen auch die emotionale Schranke durchbrechen und in diesem Winter auch den Leuten in Serbien helfen. 

Ich hatte geplant, am Abend wieder zurück in Pakrac zu sein, aber der flämische Journalist versprach mir, mich morgen früh als erstes dorthin zu bringen. So habe ich einen Ruhetag in Zagreb. Die Weihnachtszeit beginnt, und in den letzten beiden Jahren ist das das wichtigste Ereignis des Jahres geworden. Die ganze Stadt scheint grün und rot geschmückt, am Trg Ban Jelecic ersetzen einige große Weihnachtsbäume die verschneite Weihnachtsszene (der Schnee ist geschmolzen) und in Tkaleciva ist ein großer Weihnachtsmarkt. 

17.Dez.: Wenn wir sagen früh, meinen wir früh. Es war etwa um Mitternacht, als wir Zagreb verließen, und ein paar Minuten später waren wir auf dem Weg zur Autobahn. Er ist überrascht, als wir an den Ölfeldern vorbeikommen, etliche Kilometer vor Kutina. Es war ihm nicht bewußt, daß Kroatien sein eigenes Öl hat. Ich sage ihm, daß auch die großen Ölquellen von Vukovar und in Nordbosnien noch arbeiten. Das Öl von diesen Quellen erhält die serbische Wirtschaft noch einigermaßen in Gang. 

Etwas später kommen wir an einem kleinen Konvoi von Lastwagen vorbei. Ich bin sehr verwundert: Auf der Rückseite steht mit lateinischen und kyrillischen Buchstaben, daß diese Lastwagen aus Banja Luka oder wenigstens aus einigen Dörfern dieser Gegend kommen. Auch die Nummernschilder sind noch aus den alten jugoslawischen Zeiten. Ich bin überrascht, diese Lastwagen hier zu sehen, sie sind offensichtlich auf dem Heimweg. Beinahe habe ich die zwei kleinen UNPROFOR-Jeeps, die sie "beschützen", übersehen. Sie haben wahrscheinlich in Zagreb ihre Ladung aufgenommen und beeilen sich, auf der Autobahn in ihre Stadt zurückzufahren. Aber man macht sich ein bißchen andere Gedanken über den Krieg, wenn man plötzlich "feindliche" Lastwagen auf der Autobahn sieht. 

Als wir nach Pakrac kommen, kann ich nichts anderes tun, als ihm zuerst Skorpija zu zeigen, denn wie kann man Pakrac besuchen, ohne diese Kneipe von innen zu sehen, Dann gingen wir zu der Schule hinauf, welche die BBC instandgesetzt hat, und dann zum Krankenhaus. Ein Radiojournalist ist etwas anderes als ein Fernseh- oder Foto-Journalist, man denkt, man kann die Atmosphäre einfangen, wenn man ein paar Hintergrundgeräusche einspielt. Aber zurück in Pakrac stelle ich fest, daß die Atmosphäre ganz verschieden von Zagreb ist. Hier geht es um ganz andere Fragen... 

Es war die ganze Woche ruhig, erzählt man mir, die Schießereien in den letzten Tagen hätten stark abgenommen. Nur ein APC vom ArgBat fuhr auf eine Mine; sie liegen manchmal sehr nahe am Straßenrand, und es scheint, daß einer der Soldaten getötet und der andere schwer verwundet wurde. 
18.Dez.: Die Polizei verbot unsere Weihnachtsfeier morgen abend. Ein hoher Polizeibeamter beschloß, der Platz so nahe der Waffenstillstandslinie sei zu unsicher., und es sei auch nicht genügend Polizei in der Stadt, um uns zu schützen. Wir grinsten ein wenig, als wir dieses Schriftstück sahen. Das ist ein Argument, das sie immer benutzen können und das man nicht widerlegen kann. 

Vielleicht war es in den letzten Wochen etwas zu ruhig; als Manfred und ich uns im Rathaus trafen, hatten wir das Gefühl, es finde eine extra große Hochzeit statt; die Explosionen und Schießereien schienen von allen Seiten der Stadt gekommen dazu sein, und die Berge um das Zentrum herum gaben das Echo wieder, aber noch denkt man an nichts besonderes, nema problema. 

Die Hochzeit, die sich im Rathaus abspielte, war wirklich groß; auf der Treppe standen mindestens acht Musiker. und in der Halle waren eine Menge Leute. Einige von ihnen konnten nicht mit dem Feuerwerk warten, und es gab auch Explosionen im gesamten Gebäude, man konnte das Schießpulver sogar im CARE-Büro riechen. Aber die Schießerei kam, so weit ich hörte, aus der Gegend um das Krankenhaus. Und es waren nicht Pistolen- oder Revolverschüsse, sondern es klang mehr wie Maschinengewehrfeuer. Wir horchten eine Weile und kamen zu dem Schluß, daß tatsächlich etwas los war und nicht nur auf dieser Seite der Grenzlinie. 

Wir gingen hinaus und schauten zum Kontrollpunkt; gerade in diesem Augenblick gingen auf dem Hügel vor dem Rathaus einige Schüsse los, hinter dem UNCIVPOL-Gebäude. Am Kontrollpunkt lagen die Polizisten hinter ihren Sandsäcken, obwohl einige Zivilisten nur ein paar Meter von ihnen entfernt dastanden. Aus dem Gebäude am Kontrollpunkt kam Maschinengewehrfeuer und wir hörten, daß jemand von der anderen Seite das Feuer erwiderte. 
Manfred und ich schauen einander an und wir beschließen, daß im Augenblick der beste Platz Skorpija wäre, und dort zu warten, bis das "Wetter" draußen etwas besser wird. Die Freiwilligen kommen einer nach dem anderen herein. Die meisten von ihnen haben noch nicht gemerkt, daß die Schießerei draußen nichts mit einer Hochzeit zu tun hat. Jura hat uns erzählt, daß heute morgen ein Austausch von Gefangenen hätte stattfinden sollen, darum erschienen die Witwen vor dem UNCIVPOL-Gebäude; aber es funktionierte aus irgendeinem Grund nicht. Daher die Schießerei. 

19.Dez.: Heute sollte eine Delegation des schweizerischen Parlaments nach Pakrac kommen. Außerdem informierten sie uns, sie hätten auch die Stadtverwaltung informiert und sie gebeten, einen Besuch auf der "anderen Seite" für sie zu organisieren. Das taten sie auch zu unserer Überraschung. Da wir nicht genau wußten, wann sie ankommen würden, nahmen wir vor dem Skorpija eine strategische Stellung ein, mit viel Kaffee, dort in der Wintersonne. Man meint, es sei Frühling, und das Schießen von gestern ist ganz vorbei. 

Normalerweise ist Skorpija schon voll, wenn 20 Leute drinnen sind, aber heute nachmittag war das Lokal dicht besetzt. Jura ist sehr glücklich. Er sagt mir später, jede Delegation sollte zu ihm kommen und die normalen Plätze in der Stadt besuchen, und nicht nur das Rathaus und die internationalen Büros. Nachdem die Gruppe wieder weggegangen ist, bleibe ich mit einigen Polizisten aus der Stadt in der Kneipe. Sie versuchen mir zu erklären, was gestern geschehen ist, und daß sie auch nicht so glücklich darüber waren. Das Gespräch verläuft in vier verschiedenen Sprachen, einer spricht ein paar Worte französisch, ein anderer etwas englisch, ein Dritter hat einen Onkel in Deutschland, den Rest schafft meine naive Interpretation der lokalen Sprachen, aber alles in allem ist es ein nettes Gespräch! Die Schweizer Delegation läßt sich nicht wieder sehen. 

P.S. Derzeit bin ich wirklich etwas deprimiert, wegen des Geldes, das mir gestohlen wurde, ich weiß wirklich nicht, wie ich das den Leuten vom Aufbauprojekt beibringen soll. 

20.Dez.: Zagreb ist jetzt hübsch in seiner Weihnachtsstimmung, der man nicht entgehen kann. Einige meiner Freunde hier müssen sich wirklich daran gewöhnen. Sie lebten ihr ganzes Leben in einem Land, wo es keine Weihnachten gab. Nach guter sozialistischer Tradition glaubten ihre Familien an keinen Gott, oder vielleicht an einige kommunistische Helden (Religion sei Opium für das Volk, hatte Bruder Marx gesagt, nein, keiner von den Filmbrüdern!). Aber jetzt ist der Neujahrsbaum plötzlich ein Christbaum geworden und es gibt drei weitere gesetzliche Feiertage. Noch habe ich das Gefühl, daß Weihnachten in den letzten Jahren ein wenig seiner Bedeutung beraubt worden ist. Es sieht ein wenig so aus, als ob der (Heilige)Geist der ersten freien, mehr oder weniger friedlichen, offenen katholischen Atmosphäre sich etwas verändert hat in die Party- und Geschenkatmosphäre, der ich im Westen immer zu entkommen suchte. 

Neu sind die Plakate des Innenministeriums, gezeichnet mit MUP, die Stadtpolizei. Ein Aufruf für ein friedliches Weihnachten und Neujahr. Auf dem Plakat sieht man ein rundes Verkehrszeichen mit einem roten Band, und darauf alle Arten von Waffensystemen, die ein Mann tragen kann (Gewehre, Granaten, Minen usw.). Nach den Erfahrungen der letzten zwei Jahre hat die Polizei gelernt, wie es scheint: nicht schießen am Weihnachtsabend, keine Handgranaten werfen. Mir gefällt dieses Plakat, sie sollten es an der ganzen Frontlinie entlang aufstellen und an den Ausgängen der Kasernen und es nicht auf Weihnachten und Neujahr beschränken. 

Die Luftbrücke nach Sarajewo wird wahrscheinlich für ein paar Tage geschlossen. Das geschieht meistens, wenn einem der Flugzeuge etwas passiert ist. Heute bekam eine Iljuschin-76 acht Geschosse, vermutlich von einem Maschinengewehr, während ihres Landeanflugs am Flughafen von Sarajewo. Die Untersuchungen nach dem Beschuß ergaben, daß die Geschosse aus einem Bezirk unter der Kontrolle des bosnisch-serbischen Generals Mladic kamen. Wie immer sandte UNPROFOR einen offiziellen Protest, aber dieser wird vermutlich dieselbe Wirkung haben wie all die Tausende von Protesten zuvor. 
Die Lebensmittelversorgung in Sarajewo ist z.Z. so ziemlich am Ende. 

Das offizielle Ziel, das sich die UNHCR vorgenommen hatte, war, 624 Gramm Lebensmittel pro Person und Tag anzuliefern, meist etwas Reis oder Brot und vielleicht eine Büchse Sardinen. Doch im November sind (infolge des Winterwetters) so viele Flüge ausgefallen, und kaum ein Überlandkonvoi konnte durchkommen. So ist die Versorgung auf 240 Gramm zurückgegangen. 

Unsere Geldbeschaffungskampagne zur Weihnachtszeit kam nicht zustande, und es sieht so aus, als ob es noch einige Zeit dauern wird, bis wir damit anfangen können. Wir {ARK) haben immer noch "ernste" finanzielle "Probleme". Das bedeutet, daß nichts mehr auf unserem Bankkonto ist, und es ist keine Grundlage mehr da für allgemeine Aktivitäten wie Friedenserziehung, elektronisches Netzwerk, Projekt für Kriegsdienstverweigerer und rechtliche Hilfe für Menschenrechte. ARKzin und das Pakrac-Projekt haben noch einige Reserven, aber wir müssen bald eine gute Idee finden. Das Problem ist, daß der Krieg in Kroatien fast vergessen ist. Die Probleme in BiH und mit den muslimischen und kroatischen Flüchtlingen aus BiH sind natürlich wichtiger, und glücklicherweise kommt eine Menge Unterstützung für diese Probleme, doch nicht genug, aber was ist "genug" in diesem Krieg? Andererseits ist auch die Friedensarbeit nötig. 

21.Dez.: Vesna J. und ich hatten ein Gespräch mit jemand von "Saat für den Frieden", der Gruppe von 22 Leuten, meist aus den USA und einige aus Deutschland, welche die letzten zwei Wochen in Medjugorje waren und auf die Erlaubnis warteten, Flugblätter über gewaltfreie Konfliktlösung in Mostar verteilen zu dürfen. Das Gespräch war realistisch, aber die Idee, 'auf der Brücke zu stehen (der Ponton-Brücke, da die andere ja weg ist), zwischen den beiden sich bekämpfenden Gruppen (oder besser: drei, da die bosnisch-serbischen Truppen noch auf dem Berg sind, von dem aus man die Stadt überblicken kann), in der Hoffnung, auf diese Weise einen Waffenstillstand zu erzwingen, das klang für Vesna und mich, um es gelinde auszudrücken, unrealistisch. Wir fühlten uns ein wenig wie kleine Schulkinder, unsere Aktionen, die Veröffentlichung von ARKzin, die Arbeit für die Menschenrechte, Wiederaufbau in der Kriegszone, die Hilfe in den Flüchtlingslagern und alles andere, was ARK und wir beide tun, scheint ein Kinderspiel im Vergleich zu dieser "wirklichen Friedensarbeit", indem sie sich zwischen die Geschosse stellen und "FRIEDEN, MIR" rufen, das ist das Wahre, so scheint es! 

Heute abend gab Sophy ihr Abschiedsfest. In den letzten Tagen sind viele nach Hause gegangen. Einige, wie die polnischen Jungens (die wir als 'Muppets' bezeichneten) und Lynette werden bald zurückkommen, um die Arbeit auf der anderen Seite zu beginnen, aber Sophy wird zuerst nach Indien gehen. Trotzdem hofft sie, Ende März wieder hierher, in diesen Teil der Welt, zurückzukehren. Während des Abends machten Sophy, Vesna 3. und Sara (die auch aus Großbritannien ist und im Zentrum für weibliche Opfer und im Frauenhaus arbeitet), schon Pläne, um für nächstes Frühjahr eine große Fahrradtour von Zagreb nach Pakrac zu organisieren. 

Meine Wohnung war voll (ich war lange Zeit nicht dort, ich zahle aber noch dafür, um eine offizielle Daueranschrift zu haben). Sanja, nachdem sie 28 Jahre mit ihrer Mutter zusammengewohnt hat, fängt an, hier zu wohnen, und David aus Austin ist schon mehr als zwei Monate da, Sophy wohnt auch dort, und eine Menge von Langzeitfreiwilligen aus Pakrac benutzen sie als Schlafplatz. Ich war tatsächlich erstaunt, daß alles mehr oder weniger so aussah, wie ich es das letztemal verlassen hatte, außer, daß der Hausbesitzer das Portrait von Tito entfernt und außer Sichtweite untergebracht hatte. Ich hatte das Portrait ganz gern gehabt und war stolz, daß es noch dahing. Er sagte aber, man könne es von außen sehen (die Wohnung ist im 6. Stock) und er dachte, es könne mich in Gefahr bringen, wenn ich offizielle Besucher habe. 

Außer Vesna J., den mehr oder weniger ständigen Bewohnern der Wohnung und Sara kamen auch noch Vesna T. und Stephanie vom IRC vorbei, Sophy hat eine Art Frauen-Unterstützungsgruppe montagabends angefangen für Frauen vom ARK und verwandten Projekten (IRC gehört nicht direkt dazu, aber Stephanie kennt jeder). Wir werden Sophy vermissen, sie hat viel für die Schuljugend in Pakrac getan und wunderbare Kontakte für unser Projekt aufgebaut, doch wird sie ja zurückkommen, und das tröstet uns. 

22.Dez.: Hurra! Heute scheinen sie irgendwo eine Übereinkunft über Bosnien getroffen zu haben. Um Weihnachten herum wird eine Waffenruhe stattfinden, und zwar länger als das westliche Weihnachtsfest, da die Orthodoxen zwei Wochen später feiern. So wollen sie nicht vor dem 15.Januar wieder mit dem Kämpfen beginnen. Wie schade, daß sie Ramadan nicht in ihre Vereinbarung eingeschlossen haben. Habt ihr gemerkt, wie sarkastisch man wird, wenn dauernd von einer Feuerpause um die andere gesprochen wird und man weiß, daß sie nicht länger dauern wird als bis die Tinte auf dem Dokument getrocknet ist. Diese Feuerpause macht vielleicht eine Ausnahme, man kann es nie wissen und sollte nie die Hoffnung aufgeben. 

23.Dez.: Gestern abend traf ich Georg, einen jungen Mann aus Ostberlin, der zur ersten Mennoniten-Arbeitsgruppe im Flüchtlingszentrum von Brac gehörte; es war im September, wenn ich mich recht erinnere. Er war seither schon viele Male wieder da, mit Transporten von Hilfsgütern, und jetzt hat er soeben mit einem kleinen Konvoi Hilfsgüter in Nascisce abgeliefert. Er blieb hier, da er Weihnachten nicht in Berlin verbringen wollte. Ost- und Westberlin gibt es nicht mehr, seit sie die Mauer geöffnet haben. Er hat das Gefühl: Niemand fühlt sich mehr zu Hause. Er hatte von den Workcamps in Pakrac gehört und kam deshalb gerne her, um zu sehen, ob er sich hier nützlich machen könne, und will auch versuchen, das Projekt von Berlin aus zu unterstützen; er ist dabei, eine Werkstatt für arbeitslose Vietnamesen in Deutschland einzurichten (als die Mauer fiel, waren viele Studenten und Gastarbeiter in Ostdeutschland, und viele von ihnen blieben) und sie sollen etwas produzieren, was in dieser Gegend gebraucht wird. 

Um sechs Uhr mußte Vesna J. in der Staatsdruckerei sein, um dort mit den Vorbereitungen für den Druck von ARKzin zu beginnen. Es ist merkwürdig: die einzige unabhängige Monatszeitschrift in Kroatien, die bekannt ist wegen ihrer Kritik an der Regierung und der sogenannten Pressefreiheit, wird in der größten Staatsdruckerei des Landes gedruckt! Können wir stolz auf uns sein oder sind wir gekauft? Wir werden ja sehen, aber es ist wirklich seltsam. Die zwei Hauptgründe dafür sind: erstens, es war die billigste Lösung (das Doppelte zum halben Preis), zweitens, es ist die einzige zuverlässige Lösung. Andere Drucker haben so viel zu tun, daß sie ihre Versprechungen nicht einhalten, wenn man kommt, und man einen Tag oder mehr warten muß. Und es spart uns Transportkosten, denn die Staatsdruckerei ist im selben Gebäude wie der Vertrieb, der gewährleistet, daß ARKzin morgen, am Tag vor Weihnachten, in allen Kiosken von Zagreb aufliegt (und am Montag im übrigen Land). 

Natürlich kam derjenige, der uns abholen sollte, mindestens eine halbe Stunde zu spät. Auch wußte er einen "kürzeren" Weg, der mindestens 5 km weiter war, wenn man mich fragt. So arbeitete die Frühschicht schon eine Stunde, als wir endlich ankamen. In dieser Druckerei und .in dieser Grafikabteilung wird mindestens 75% von allem hergestellt, was man in Kroatien zu lesen bekommt. 

In einem riesigen Raum mit mindestens 100 der altmodischen hellen Tische, an denen über 30 Leute arbeiten, die meisten davon Frauen, mußten wir das A 4-Format in A 3 umsetzen und die Fotos und anderen Illustrationen am richtigen Platz hinzufügen (das können wir jetzt alles mit dem Computer machen). Hier wenden sie den Computer noch kaum an, das wird noch eine Weile dauern, aber die meisten Leute in diesem Raum sind gute Fachleute. Während wir kleben, kommt ein Arbeiter nach dem anderen vorbei und versucht zu sehen und zu lesen, was wir produzieren. Besonders, daß David das Ganze filmt, macht es natürlich besonders interessant. 

24.Dez.: Zurück nach Pakrac mit dem 15 Jahre alten Ostberliner Ford-Transit, hinten drin eine Ladung von Hilfsgütern für Slavonski Brod und von außen aussehend wie jeder Trabi aus der ,früheren DDR, er sieht aus, als ob er jeden Augenblick zusammenbrechen würde, aber solange der Fahrer und Besitzer am Leben ist, fährt das Ding weiter. Eine der Spezialitäten meiner Freunde aus der DDR oder anderen osteuropäischen Ländern war es immer, alles, was man besaß, in Gang zu halten, denn man wußte ja nie, ob man jemals einen anderen Gebrauchtwagen bekommen konnte. Auf der Autobahn stoppte uns sofort die Polizei, kein Wunder, und war sehr überrascht über den DDR-Führerschein und die Identitätskarte von Georg, z.Z. reagieren sie ein wenig verwundert auf "Hammer und Sichel", eine "Allergie" aus der Vergangenheit, glaube ich... 

Wir kommen am Freiwilligen-Haus in Pakrac an, fast im gleichen Augenblick wie ein Lastwagen aus Zadar, der über unsere Rosenstöcke fährt (einige in oder an diesem Haus, die noch nicht zerstört waren), um seinen Wagen nahe an die Garage heranzubringen, wo wir die 1000 Pakete von CARE-Deutschland für diese Seite von Pakrac stapeln können (die anderen 1000 kommen direkt von Zagreb auf der Autobahn mit einem internationalen Lastwagen). Glücklicherweise sind alle Freiwilligen, von denen noch etwa 20 da sind, gekommen, um zu helfen, obwohl wir eigentlich z.Z. ein bißchen Ferien machen, so ist der Lastwagen im Nu leer und unsere Garage voll. 

Wir waren gerade auf dem Weg nach Skorpija, um nach Beendigung unserer Arbeit ein kleines' Bier zu trinken, da begegnen wir Burkie mit Markus an der Pädagogischen Hochschule (in der wir. im Sommer schliefen). Der Lastwagen von "Woman for Peace" aus Großbritannien hat sich im Schlamm festgefahren und bewegt sich nicht mehr von der Stelle. Burkie, der den Weihnachtsmann für alle Kinder auf dieser Seite von Pakrac spielte (mit Geschenken, die wir von "MiZaMir"-Amsterdam bekamen, und die gestern mit einem Konvoi ankamen) und nicht mehr weiß, wie viele Häuser er den Tag über besucht hat (und auch nicht mehr, wie viele Rakijos er als Nikolaus zu sich nehmen mußte), erinnert sich nur, daß der Stapelplatz für Baumaterial irgendwo in der Nähe der Schule ist, aber nicht darin, so schickte er den Lastwagen auf den Sportplatz hinter der Schule, welcher durch den geschmolzenen Schnee zu einem kleinen Noor geworden ist. Mit dem Lastwagen, der die CARE-Pakete brachte, und einem alten Wasserschlauch der Feuerwehr bekommen wir den englischen Lastwagen aus dem Schlamm heraus und können sofort beginnen, ihn abzuladen. 
Auch diesen haben wir in einer halben Stunde geleert, obgleich alle fünf Minuten die Wache kam, um immer zwei von uns zu einer Runde Rakija einzuladen. Das ist gut für die Stimmung, aber es dauert zu lange für solche Situationen. 

Gerade als wir fertig waren, kam Zdenko, um unsere Arbeit zu "kontrollieren", konnte aber nicht mehr tun, als Manfred und seine Freundin, Georg, Vesna und mich zu Abendessen einzuladen. 

Bei Zdenko fanden wir heraus, daß er sein Schwein geschlachtet hatte und daß es Fleisch geben würde, Fleisch und nochmals Fleisch, zusammen mit hausgebrautem Bier, hausgemachtem Wein und hausgebranntem Rakija, von Zdenko und seiner Mutter vorbereitet. Glücklicherweise gibt es als Vorspeise Fisch, sonst hätte ich von Brot und Pickles leben müssen, was in dieser Gegen immer noch Luxus ist. Die arme Vesna kann kaum etwas essen, sie muß die ganze Zeit übersetzen und manchmal erhitzen sich die Gespräche; ich kann sie ein wenig "abkühlen", indem ich sage, daß Vesna Urlaub hat, daß sie meine Freundin ist und nicht etwa eine Berufsübersetzerin. 

25.Dez.: Frohe Weihnachten, John, frohe Weihnachten, Yoko. So – das ist Weihnachten, und ein glückliches Neues Jahr! 

Ihr glaubt vielleicht, das Abendessen bei Zdenko war das letzte, was wir gestern getan haben; um 10.30 Uhr war die Heilige Nacht noch jung und in Skorpija waren mindestens 60 Leute oder mehr versammelt. 

Georg, der mit uns hineinging, brauchte eine Zeitlang, bis er sich daran gewöhnt hatte, daß die meisten tanzenden und offenbar nicht mehr ganz nüchternen Männer Pistolen und Revolver an ihren Gürteln und in ihren Taschen trugen. "Sie haben keine Uniform an", sagte er. "Das ist auch nicht nötig, jeder weiß, daß sie bei der Polizei sind, warum sollen sie dann eine Uniform tragen?" Schon tagsüber gab es viel Schießereien (auch mit Handgranaten und Maschinengewehren) aber jetzt klang es draußen vor der Kneipe fast wie letzten Samstag nachmittag. 

Dieser Lärm zog die UNCIVPOL, den Kommandeur der UNPROFOR und einige lokale Polizisten an. Da es drinnen zu heiß war, gingen Vesna und ich auch hinaus. Ich erinnere mich nicht, wer zuerst geschossen hat, aber nach einer Weile standen wenigstens sechs Leute mit dem Revolver in der Hand da, und jeder wollte sein Magazin zuerst leer schießen. Unter ihnen waren einige mit sehr schweren Kalibern, wie "Dirty Harry". Die konnte Jura mit seiner Pistole nicht schlagen, so ging er wieder hinein, durch die Tür mit dem großen Poster, auf welchem die Polizei jedermann freundlich bittet, in der Christnacht keine Waffen zu benutzen„ um sein automatisches Gewehr zu richten, um bei dem Wettschießen zu bestehen. Nach seiner Salve beschlossen die anderen, es sei für sie zu weit, auch ihre Schußwaffen zu holen, um Jura zu schlagen, und gaben auf. Das Ganze dauerte etwa 15 Minuten; danach lag die Straße voller Geschoßhülsen. Vor 20 Monaten wäre ich wahrscheinlich von so etwas schockiert gewesen. Jetzt stand ich da und hatte Spaß am "Wilden Westen" (wie rasch gewöhnt man sich an so etwas Verrücktes!). 

Um Mitternacht wünschten alle einander friedliche Weihnachten, und das Tanzen und Singen ging weiter. Trotz der Schießerei war es eines der "friedlichsten" Weihnachten, die ich je erlebt habe; nicht einen Augenblick gab es Aggressionen oder böse Worte. Das stellte ich fest, als ich um vier Uhr mit Vesna zurück zum Verwaltungshaus ging. Wir sind an der Frontlinie, mit Leuten von fast allen Kontinenten und Einheimischen verschiedenster Nationalitäten außer den Kroaten, und es war ein großes gemeinsames Fest. Wie es wohl heute in Sarajewo und den anderen Orten in BiH zugeht? 
26.Dez.: Heute abend speisen wir im Hotel Termal in Daruvar. Manfred und seine Freundin haben uns eingeladen, und während wir auf das Essen warteten, hörte ich, in einer Pause zwischen zwei Stücken der Musikkapelle, an einem Tisch hinter mir holländisch sprechen. Sie waren alle Kommunikationsspezialisten bei den verschiedenen UNPROFOR-Truppen hier in Daruvar. Als sie hörten, daß ich in Pakrac arbeite, schauten sich mich an und fragten: "Das ist ziemlich zerstört, nicht wahr?" Was kann man da antworten? 

Fernmelder können einem immer die neuesten Nachrichten geben, sie hören alle Radionachrichten und wissen alles schneller als jedermann sonst, so fragte ich sie, wie friedlich es in den letzten beiden Tagen in BiH gewesen sei, ob der Waffenstillstand bis jetzt gehalten habe. Doch, wie wir erwartet hatten, wurde er wieder gebrochen... Wieder ein gewalttätiges, nicht orthodoxes, christliches Christfest, mit anderen Worten, genau wie letztes Jahr! 
Weihnachten bedeutet nur etwas Besonderes für die katholischen Kroaten und für einige Amerikaner (Nord und Süd), auch für einige afrikanische UNPROFOR-Bataillone; für die anderen ist es wie ein gewöhnliches Wochenende. 

In diesem Krieg wurden bis jetzt religiöse Symbole und Rituale der Nation der Gegner (sprich der "andern" Religion, wenn der andere nicht diese Religion hatte oder die Religion nicht aktiv praktizierte, die durch Vorurteil mit seiner Nationalität oder seiner ethnischen Herkunft verbunden war) oft als Hauptzielscheibe der Kämpfe benutzt. Tatsächlich wurden Moscheen, orthodoxe und katholische Kirchen oft direkt beschossen (oder in die Luft gesprengt). Ein großer Teil der Grausamkeiten besteht aus Provokationen gegen die mögliche Religion des gegnerischen Opfers. Die Frage ist jedoch, seit wann wußten sie das? Viele Leute, so sagte man mir, kannten nicht einmal die Vorschriften der Religion, für deren Mitglied sie gehalten wurden, entsprechend ihrer Nationalität. 

So nehme ich an, es ist nicht wahrscheinlich, daß verschiedene Gruppen oder Nationalitäten plötzlich anfangen werden, die Feiertage der anderen zu respektieren. 

27.Dez.: Am frühen Morgen verschwand Georg nach Slavonski Brod; ich riet ihm, über Virovitica, nicht über Pozega zu fahren. Da Georg in seinem Paß einen Vermerk hat, daß er letztes Jahr nach seiner Verhaftung in Kosovo aus Serbien ausgewiesen worden ist, ist es besser, ein wenig weiter von der Waffenstillstandslinie weg zu bleiben. Ich weiß nicht, wer an der Krajina-Grenze patrouilliert. Ich würde wirklich gerne wissen, warum er letztes Jahr aus Serbien ausgewiesen wurde. Er war im Kosovo, als die Demonstrationen für den freien Gebrauch der albanischen Sprache in den Schulen stattfanden, und die Polizei glaubte, er sei ein Journalist. Da er aus Ostdeutschland kam, war dies die erste Demonstration in seinem ganzen Leben, und er wurde sofort ins Gefängnis geworfen. 

Weihnachten ist vorbei, und wir hörten im Radio, daß einige Politiker auf der ganzen Welt sagten, sie glaubten, es sei sehr schwer, den Krieg in BiH zu beenden. Es ist, als ob sie gehört hätten, was Karadzic vor einigen Tagen sagte; er behauptete, die bosnischen Serben kämen dem Frieden immer näher, aber die Moslime bewegten sich in entgegengesetzter Richtung. 

Es ist ein wenig seltsam, nach 20 Monaten solche Dinge zu hören. Vor 20 Monaten war. es sicher, daß die Moslime gegen jeden Krieg in Jugoslawien und vor allem in BiH waren. Einige bosnische Serben hatten schon ihre Kampferfahrungen in Kroatien gemacht, und die HVO hatte sich schon auf Kämpfe vorbereitet. Der erste Kampf zwischen der JNA und HVO (der kroatischen Armee) hatte schon in Ravno bei Dubrovnik stattgefunden. Zu dieser Zeit verteidigte ein "ganz friedlicher Karadzic" sich selbst, da er sonst angegriffen worden wäre, nach seinen Argumenten, und überrollte alle Gebiete, in denen die HVO nicht darauf gefaßt war. Nur in einigen Städten außerhalb dieses Gebiets konnte die lokale Territorialverteidigung (oftmals gebildet aus Moslimen, Kroaten und Serben) der Kriegsmaschinerie Widerstand leisten, der Rest wurde überrollt, und die Welt weiß jetzt, was in diesen wenigen Monaten geschehen ist. 

Heute morgen als ich aufstand, hatte ich Temperatur, Davids Thermometer zeigte über 100 Grad Fahrenheit, und das ist mehr als 37 Grad Celsius, aber ich bin nicht so sicher. Sicher ist, daß ich krank bin; später am Tag erzählte Goran, daß viele Leute in Zagreb krank seien, wahrscheinlich ist es irgendein Virus. Vesna bestand darauf, am Abend nach Zagreb zurückzukehren, um ein gut geheiztes Haus zu haben und Husten und Fieber loszuwerden... 

Zurück in Zagreb hörten wir in den Nachrichten, daß heute tatsächlich ein guter Tag für Mazedonien gewesen sei. Nach Slowenien, der Türkei, Bulgarien und Großbritannien hat sich nun auch Frankreich entschlossen, die Republik anzuerkennen. Sie planen sogar, dort eine Botschaft zu eröffnen. Nach Jahren müssen all diese Länder plötzlich die Anzahl ihrer Botschaften vergrößern, um mit der neuen politischen Realität Schritt zu halten. Im übrigen haben wir an diesem Abend Tee getrunken und sind schnurstracks ins Bett gegangen, um zu schwitzen. 

28.Dez.: Das Fieber stieg heute stark an, es war nicht gerade der beste Tag des Jahres, aber ich hatte schöne Träume. Gestern, gerade ehe wir Pakrac verließen, kam Goran mit den ersten Neujahrs- und Weihnachtskarten für die Leute von Pakrac, es waren mehr als 50, und heute nacht habe ich geträumt, daß die ganze Opcina (Rathaus) voll war mit Karten aus der ganzen Welt, Jedermann weiß jetzt, wo Pakrac liegt, jedermann verfolgt, was dort vor sich geht. Gute Wünsche, wir denken an Euch! 

Als ich aufwachte, war es klar, daß ich nicht in Pakrac war. Dann träumte ich, ein Panzer rolle durch die Wand meines Schlafzimmers in Pakrac, plötzlich sah ich den Schrank umfallen und die Panzerräder die Mauer durchbrechen, dann kam das Maschinengewehr und die übrige Vorderfront des Panzers. Ich nahm meine Sachen und begann zu laufen. Ich weiß nicht, von wem der Panzer kam; er kam von hinten, also von der kroatischen Seite, vorn liegt der serbische Teil und das Minenfeld. Gerade als ich nach den Symbolen auf dem Panzer schauen wollte, wachte ich auf. 

So war ich also heute morgen wirklich erstaunt darüber, daß ich in Zagreb war. Das Leben fängt wieder an, und eigentlich sollte ich heute morgen zum HPT gehen, um Informationen über ein mobiles Telefon für Pakrac einzuholen, doch offensichtlich bin ich zu krank, um mich von der Stelle zu bewegen. 
Heute war auch eine Kundgebung in Zagreb, veranstaltet von der italienischen Organisation "Brei Nationen – ein Friede". Seit über zwei Monaten ist eine junge Frau aus Turin in Zagreb. Sie arbeitet im Büro des ARK (und sitzt immer dort, wo man gerade hin sollte) und bereitete ein großes Treffen aller möglichen politischen und humanitären Organisationen mit einer Delegation italienischer Friedensaktivisten in Zagreb vor. Es fing mit 50 Italienern an, und gestern sagte sie, es kämen mindestens 230. Von Zagreb wollen sie nach Belgrad, und von dort geht eine kleine Gruppe weiter nach Sarajewo, wo sie am Neujahrstag ankommen wollen. 

Die Idee ist, mit eigenen Augen zu sehen, was vor sich geht, mit allen Betroffenen offen darüber zu reden, um sich ein klares Bild zu verschaffen, das nicht durch die Medien gefärbt ist. Ein edles Ziel. Sie sind sicher nicht die ersten, die mit dieser Absicht hierher kommen. Wären sie die ersten gewesen, wäre ihre Kundgebung vielleicht ein Erfolg gewesen. 

Etwa 100 Italiener scheinen gekommen zu sein; fast keine kroatische Organisation kam zu dem Treffen, und einige meiner Freunde sagten, diese Italiener könnten auf billigere Weise zusammengekommen sein, wo doch keine anderen dabei waren. Sie hörten von ihrem Botschafter in Belgrad, sie seien dort nicht willkommen, und die Reise nach Kat ist wegen dem nicht bestehenden Weihnachts-Waffenstillstand plötzlich viel weiter entfernt als sie zunächst gedacht hatten (es tut mir leid, dies sagen zu müssen). 

Für heute abend hatten sie auch eine Demonstration durch Zagreb geplant, mußten aber diesen Plan aufgehen, vor allem deshalb, weil man die Polizei 48 Stunden vorher informieren muß, aber auch, weil ihnen jemand vom ARK klar machte, es hätte nur zur Folge, daß man sie auslacht. Wir wissen, wovon wir sprechen. Fast in allen Ferien oder an jedem besonderen Tag kommt eine Gruppe von irgendwoher, um für den Frieden in Zagreb zu demonstrieren, und die Leute von Zagreb sind schon an diese "Ausländer mit Friedensparolen" gewöhnt! 

29.Dez.: Ich hatte heute ein Gespräch darüber, daß Kroatien (und natürlich auch die anderen Staaten) begonnen haben, zu einer Art 
Kolonie der internationalen Gemeinschaft zu werden. Die UNO hat einen anderen Status in diesem Land als die "Einheimischen". "Wir von der "UNO-Familie" können relativ frei durch das ganze Gebiet reisen, und die anderen nicht. Wenn die Politiker nicht bereit sind, genau das zu tun, was die internationale Politik bestimmt, droht man mit Boykott. Tudjman mag glauben, er sitze am Lenkrad, aber manchmal scheint er eher ein Spielball der verschiedenen Interessen zu sein: der Interessen der radikal-kroatischen Lobby-Gruppen, die finanziell ein wichtiger Faktor waren und immer noch sind, und der internationalen Gemeinschaft mit all ihren Anleihen und Möglichkeiten wirtschaftlicher Hilfe. 

Ich bin immer noch krank, aber, wie ich schon gesagt habe, ich bin sicher nicht der einzige; heute sagte einer der Generale der HV im Fernsehen, zu viele Soldaten lägen krank im Bett, als daß die Sicherheit des Landes noch gewährleistet wäre. 

30.Dez.: "Es geht von Tag zu Tag immer besser und besser!" Das Fieber fällt ein bißchen und ich belle wie ein junger Hund, doch langsam fühle ich mich besser. 

Eine deutsche Waffenfirma scheint Probleme zu bekommen. Ihre Waffen sind nämlich auf der Seite 'der bosnischen Serben gesehen worden, und es gibt Geschichten, es könne bewiesen werden, daß die Firma ihnen die Waffen direkt geliefert hat, und zwar nachdem das Waffenembargo ausgesprochen war. Der Direktor der Firma sagte, das sei Unsinn. Auch der frühere Leiter dieser Firma muß vor Gericht. Er ist angeklagt, Waffen an den Irak verkauft zu haben, auch nachdem das Embargo verhängt worden war. 

31.Dez.: Am letzten Tag des Jahres muß ich immer noch im Haus und die meiste Zeit sogar im Bett bleiben. Von draußen dringen immer mehr erkennbare Laute herein: Peng – eine Sekunde – peng – eine Sekunde – peng – eine halbe Sekunde – peng – eine viertel Sekunde – peng – peng – peng: Ein Maschinengewehr schießt eine Runde. 

Später wurde die Stadt total verrückt und draußen ging die Hölle los. Wenn in diesem Augenblick Bomben und Granaten heruntergekommen wären, hätte niemand davon Notiz genommen. Es war nicht viel, doch immer noch hörte man den auffallenden Lärm eines Maschinengewehrs durch das Knallen des üblichen Feuerwerks. Besonders ein junger Mann in unserem Block schien sein Gewehr sehr zu lieben und schoß alle fünf Minuten, bis ihm die Munition ausging. Irgendwo hinter den hohen Gebäuden schickte jemand Leuchtraketen in den Himmel. Das erinnert mich an die letztjährige Silvesternacht in Medjugorje. Draußen wird im Augenblick eine Menge Geld verpulvert, und es sieht aus und klingt mehr nach Sarajewo als nach Zagreb. Es dauert etwa eine halbe Stunde, dann ebbt es langsam ab... 

In Sarajevo haben sie wahrscheinlich auch Feuerwerk heute nacht, und ich glaube, sie wollten dort lieber' zur Abwechslung einmal eine ruhige Nacht haben. Seit fast 21 Monaten haben sie und andere Städte in BiH jede Nacht ihr Feuerwerk, und auch jeden Tag. Hier in Zagreb macht es vielleicht Spaß zuzuschauen, aber dort ist es die Wirklichkeit, wie sie sagen, die Stadt, wo all das Schreckliche geschieht. Hoffen wir, daß es nächstes Jahr um diese Zeit dort ganz anders aussieht. 

ICH WÜNSCHE EUCH EIN FRIEDLICHES 1994 : W a m 


– 1994 – 

3.Jan.: Vor ein paar Tagen fand ich das folgende 'Zitat im täglichen Report des kroatischen Auslandspressedienstes: "Mostar, Bosnien-Herzegowina: Zwei Frauen, ein Kind und ein älterer Mann wurden letzten Donnerstag in das Nova Bila-Krankenhaus gebracht, mit Symptomen, die für Vergiftungen durch chemische Waffen charakteristisch sind, nämlich: Husten, schwerer Atem, Erbrechen usw. Nach Aussagen von Dr.Tabak gibt es keinen Zweifel, daß diese Leute, die durch Geschosse der muslimischen Armee während des Weihnachtsangriffes auf kroatische Enklaven in Zentral-Bosnien verwundet wurden, an Vergiftungen durch chemische Waffen leiden." Und ich beabachte mich selbst: in den letzten 10 Tagen waren alle meine Symptome fast dieselben. Langsam wird es besser, nur der Husten ist geblieben. Ich war nicht einmal dort in der Nähe. Deshalb bin ich sicher, unsere Krankheit kommt von einer Art Virus, sie hat nichts mit chemischen Waffen zu tun, wenigstens hoffe ich das. 

Meine Hauptbeschäftigung in der letzten Nacht, als mich der Husten wachhielt, war, über die "finanzielle" Zukunft unseres transnationalen Netzwerks "ZaMir" nachzudenken. Wir haben Stationen in Zagreb und Belgrad und die Computerzentrale in Bielefeld (BIONIC). Wir haben dies vor eineinhalb Jahren aufgebaut und wollen es bald auf andere größere Systeme ausweiten. Doch neben Spenden hat alles die Friedensbewegung in beiden Städten auch einen Haufen Geld gekostet. Vielleicht können wir unsere Informationen "verkaufen" oder so etwas, da ich noch keine Möglichkeit sehe, daß die Leute, die Benutzer in Kroatien, BiH und Serbien imstande sind, dies zu finanzieren; sobald wir um Bezahlung bitten, wird die Benutzung zurückgehen, weil einfach nicht genug Geld da ist. 

4.Jan.: Als ich vor einiger Zeit im UNO-Gebäude in Wien das Poster mit den friedenserhaltenden Operationen sah, war ich schon überrascht. Wie schnell kann man vergessen! Wenn man auf diese Liste schaut, sieht man alle Arten von Krieg, die für längere oder kürzere Zeit auf der Titelseite aller Zeitungen der Welt zu finden waren. Viele sind schon seit einiger Zeit von der Liste verschwunden, damit es Platz für neue gibt. Wenn man die Liste anschaut, wird man Kriege wie den Zypernkonflikt finden, und wer wird dieses Jahr seinen 30jährigen Aufenthalt in Zypern feiern, ja, die UNO, mit ihren UNFICYP-Blauhelmen. Und wenn man die Liste weiter verfolgt, sieht man, daß die Reaktion der meisten Leute so ist, daß sie sagen, wenn einmal UN-Streitkräfte im Land sind, wird man sie nie wieder los. Einige Aufträge sind abgeschlossen, aber meistens folgt ein neuer UNO-Einsatz, nur mit einem anderen Namen. Es gibt nur ein paar, welche die UNO wirklich erfolgreich beendet hat, und das waren nicht gerade die größten. 

Der UNPROFOR-Einsatz in diesen Ländern des Balkans gehört wirklich zu den großen. Bald ist Zeit, das UNPROFOR-Mandat für Kroatien zu erneuern, ich glaube dies wird im Februar sein müssen. Diese Liste, diese Geschichte ist nicht als Angriff auf die UNO aufzufassen. Eher als eine Kritik an der allgemeinen Ansicht, man könne diese Sache in ein paar Monaten oder in ein paar Jahren lösen. 

5.Jan.: CARE Österreich in Pakrac sucht vier Fahrer, die vier kleine Lastwagen nach Pakrac fahren können, die man dazu benutzen kann, Gemüse und andere Erzeugnisse von den Bauern zu den Wochenmärkten zu bringen. 

Gestern abend suchte auch jemand nach Freiwilligen: Es war ein Offizier der HVO, der im Fernsehstudio von Siroki Brijeg befragt wurde. Er rief alle Kroaten auf, wo immer sie sind, nach Zentral-Bosnien zu kommen und dein Völkermord der BiH-Armija an den bosnischen Kroaten, der dort stattfinde, ein Ende zu machen. 

Die Zeitungen berichteten, eine berühmte Persönlichkeit aus der Künstlerwelt sei an AIDS gestorben. Globus, die unabhängige Wochenzeitschrift, die sich nie gegen die Regierung äußert, denn sie ist eine "hübsche" Boulevard-Zeitschrift, die sich aufgrund von Skandalberichten gut verkauft, hat die Geschichte übernommen und herausgefunden, daß der Junge, nachdem er gehört hatte, daß er HIV-positiv sei, immer noch mit Männern und Frauen der ganzen Gegend Verkehr hatte (ja, er war bisexuell) und die meisten von ihnen gehören zu der Klasse "berühmter" Kroaten. 

Allmählich beginnt AIDS ein ernstes Problem für Kroatien zu werden. In der Zeit des Sozialismus gab es das natürlich noch nicht. Dieser Mensch ist, wie Globus berichtet, ein Massenmörder und trieb fast alles, was Gott verboten habe. Ich wage das ja kaum zu sagen, doch dieser Künstler war mehr oder weniger in denselben Kreisen von Zagreb zu Hause, in welchen auch die Journalisten von GLOBUS zu finden sind. So kann man sich vorstellen, wie nahe der HIV-Virus und damit AIDS ihnen plötzlich gekommen ist. Die freie Welt ist plötzlich nicht mehr so frei. Und das in einem Land mit einer richtigen Macho-Zivilisation, wo Dinge wie Kondome als Angriff auf den männlichen Stolz angesehen werden und als etwas, das nicht für die Leute, für den echten Mann aus diesem Teil der Welt geschaffen wurde. 

Offenbar habe ich "opala pluca" (Lungenentzündung). Ich hätte letzte Woche nicht länger in dem kalten Zimmer in dem Haus in Pakrac bleiben sollen. Die ganze Woche war ich schon nahe daran, sagten 

Ein Anruf aus Ploce machte uns klar, daß das Krankenhaus aus Südafrika immer noch dort liegt, doch scheinen die Verhandlungen zwischen Kroaten und Moslimen in Wien einen Durchbruch gebracht zu haben. So lauteten wenigstens die letzten Nachrichten, die von dort kamen. Izetbegovic hat schon einen Brief an Tudjman geschrieben in dieser Sache. Wie er schrieb, verschwindet das Krankenhaus langsam. Die Leute nehmen die Teile Stück für Stück auseinander... 

6.Jan.: Die Neujahrskarten-Aktion geht weiter. Es sind nicht Tausende, wie ich gehofft hatte, aber vor einigen Tagen haben wir die Hundert überschritten. 
Es ist schön für die Leute, daß sie sehen, daß sie nicht alleingelassen sind. Einige der Leute, die meinen Aufruf erhalten hatten, reagierten ein wenig zynisch, etwa: Wie, könnt Ihr Postkarten essen?, oder: Beizen sie besser als Kohlen? – Ich kann dies durchaus verstehen. Lebensmittel, Kleider, Heizung ist das erste, woran die Leute denken. Aber man kann sich nicht vorstellen, wie glücklich die Leute sind, wenn sie den kleinsten Brief oder eine Karte bekommen. Besonders wenn die Karten oder Briefe von Verwandten kommen, die im Ausland in Flüchtlingslagern leben. Aber auch von Leuten, die man überhaupt nicht kennt. In dem Krieg hier in Kroatien, der bei weitem nicht so spektakulär ist wie der Krieg in BiH zur Zeit, fühlen sich die Leute vom Rest der Welt alleingelassen. Sie bekommen ihre Hilfsliefe-rungen, aber die kommen in großen Mengen und sind unpersönlich. Sie möchten gerne Kontakt haben von Mensch zu Mensch, selbst wenn es keine Geschenke sind, der Kontakt selbst ist schon ein Geschenk. 

Gestern, spät in der Nacht, rief jemand aus Rijeka an, sie hatten eine eilige Botschaft, die ans Netz gehen sollte. Es scheint, letzten Freitag hat die kroatische Armee (HV) den Herausgeber der größten und kritischsten Wochenzeitschrift "Feral Tribune" eingezogen. 

Viktor Ivancic war gerade zu Hause, um seine Neujahrsfete vorzubereiten, als die Militärpolizei kam. Es scheint, alles ging so schnell, daß Viktor nicht Zeit hatte, einen Anwalt zu rufen oder etwas über seine Rechte zu erfahren. Sie hatten ihn, nicht vorher informiert, wie es sonst üblich ist, sondern sie kamen und sagten, er sei eingezogen und brachten ihn in die Kaserne einer Sondereinheit in Split. Freunde haben ihn schon in Uniform gesehen. Wir hoffen, in den nächsten Tagen mehr darüber zu erfahren, da z.Z. einige Freunde dort sind, und hoffen" herauszufinden, was wirklich los ist. Heute morgen schrieb "Novi List", die einzige unabhängige Tageszeitung von Rijeka, einen Artikel darüber, und ARKzin hat heute einen Protestbrief geschickt. Es ist klar, daß Viktor kein richtiger Soldat ist, und daß die HV ihn nicht wirklich einsetzen kann. Wer "Feral Tribune" kennt, wird wissen, daß aus ihm kein richtiger fanatischer Kämpfer für Kroaten würde. 

7.Jan.: Wenn Viktor Ivancic ein Petitionist gewesen wäre (jemand, der immerfort Petitionen schreibt, eine Lieblingstätigkeit der Regime-Gegner des früheren sozialistischen Jugoslawien), hätte er wahrscheinlich nicht ohne Überlegung seine Einberufungspapiere unterschrieben, als sie damit zur Tür hineinkamen. Was haben wir daraus gelernt? Unterschreiben Sie nie ein Schriftstück, das Ihnen von jemand in Tarnuni-form überreicht wird, denn dann sind Sie im nächsten Augenblick selbst in Tarnuniform und exerzieren für einen Krieg, mit dem sie absolut nicht einverstanden sind. Viktor machte diesen Fehler. Von diesem Augenblick an untersteht man dem Militärgesetz, und jeder Ungehorsam kann mit 30 Tagen Gefängnis bestraft werden ohne jede gerichtliche Untersuchung. Hätte er nicht unterzeichnet, wäre er noch Zivilist und müßte vor einem normalen Gericht erscheinen, aber erst viel später. 
Viktor hätte das wissen können, denn ARK hatte ein paarmal eine ziemlich große Anzeige in der "Feral Tribune", in welcher erklärt wurde, welche Rechte man hat, wenn man eingezogen wird, und auch, daß fast alle Anträge auf Kriegsdienstverweigerung von der Kommission für Zivildienst anerkannt werden. Inzwischen habe ich gehört, daß holländische Journalisten eine Gegenaktion planen. 

Die Regierung in BiH veröffentlichte ihre Zahlen über Gefallene und Verwundete dieses Krieges. Nach ihrem Bericht starben bis zum 1.Januar 141.605 Menschen, und mindestens 160.000 wurden verwundet. Das sind 6,5% der ursprünglich 4,5 Millionen Bürger von BiH. In Sarajewo allein starben 9.662 Menschen, und 56.000 wurden verwundet. Seit Beginn des weihnachtlichen Waffenstillstandes wurden 106 Menschen erschossen und 470 verwundet, in den ersten vier Tagen des Neuen Jahres wurden schon 24 Tote gezählt. Das sind nackte Zahlen, wenn man jede Woche die üblichen Listen sieht, wird einem noch kälter. Nur wenn man beginnt, die neuen Gräber auf einem Fußballplatz oder in einem Park zu zählen (das habe ich in Mostar getan), beginnt man zu verstehen, wie viele weitere Fußballplätze und Parks in der Zukunft so aussehen werden. 

8.Jan.: "Wissen Sie überhaupt, daß jetzt Weihnachten ist." 

Du hast gerade einen Tag lang Steine aus einem zerstörten Gebäude neben der Hauptkaserne der UNO bearbeitet. Plötzlich hörst du ein pfeifendes Geräusch, jemand ruft etwas auf kroatisch, und eine Sekunde später gehen alle Einheimischen der Arbeitsbrigade in Deckung. Fünf Sekunden später bist du auch hinter einem Baum oder einer Mauer, denn es sind wirklich Geschosse. Das passierte drei von unseren Freiwilligen gestern nachmittag in Pakrac. Bald darauf gingen sie zu UNCIVPOL, um zu melden, was geschehen war. Sie füllten Formulare aus und wurden zur kroatischen Polizei geschickt, um zu fragen, was los sei. Auf der Polizeistation hörten sie, es sei eine Weihnachtsfeier auf der "anderen Seite". Man nahm weiter keine Notiz von dem Vorfall. 
"...also, das ist Weihnachten..." 

Daß die "andere Seite" ihr Weihnachtsfest feierte, wußten wir schon. Jan hat es mir am Telefon erzählt. Die ganze Nacht über waren Detonationen zu hören gewesen. Viel mehr Lärm als letzte Woche und vor zwei Wochen bei der römisch-katholischen Weihnachtsfeier. Später an diesem Abend berichteten die kroatischen Nachrichten, 16 kleine Granaten seien in dieser Nacht auf Pakrac abgefeuert worden. Es entstand kein wirklicher Schaden, und niemand wurde verletzt. Aber unsere Freiwilligen werden sich's heute morgen zweimal überlegen, ehe sie hinausgehen, um an derselben Arbeitsstelle zu helfen. Gestern abend gingen sie nicht ins Skorpija. Das erste Geschoß, das man erlebt, macht einen nachdenklich. Ich erinnere mich daran, wie ich letztes Jahr nördlich von Mostar zwei Tage hinter einem Felsen in der Falle saß. 

Wir sprachen über die riesigen Mengen von Lebensmitteln, die zur Zeit in dieses Gebiet gebracht oder vielmehr "dagelassen" werden von privaten humanitären Organisationen auf ihrem Weg nach Sarajewo oder Mittel- oder Nord-Bosnien, die nicht weiter als bis nach Herzegowina gelangen können. Sie möchten nicht mit voller Ladung zurückkehren und lassen ihre Hilfsgüter in Medjugorje. Diese stehen jetzt vor den Häusern einiger ausländischer Organisationen herum, erzählt man mir. Die Lagerhäuser sind voll. Vor ein paar Wochen mußten sie sogar einige Tonnen vernichten, da das Verfalldatum weit überschritten war. 

20km weiter verhungern die Menschen oder sind nahe daran, aber nicht nur diejenigen, die auf der anderen Seite der Frontlinie leben. Selbst in der von Kroatien kontrollierten Herzegowina scheint es Probleme mit der Versorgung zu geben. Das Gebiet von Ravno z.B., wo wir nächstes Frühjahr mit dem Wiederaufbau beginnen wollen, ist fast von allen vergessen. Die Leute denken an Mostar und Dubrovnik, vielleicht auch an Stolac oder Caßlina und natürlich an Medjugorje. Aber sie haben auch bemerkt, daß einige der ausländischen Organisationen sich aus Medjugorje und aus BiH zurückziehen. Es kommen jetzt mehr "Pilger" als letztes Jahr, aber nur, wenn eine neue Welle von Flüchtlingen vorbeikommt, die in den Zelten (!) hinter der Kirche schlafen. (Es gibt fast 40.000 leere Betten in Privathotels im selben Ort!) Dann ist es etwas voller; im übrigen ist dies eine leere Touristenstadt (an Weihnachten war dort sonst Hochsaison). Eine Stadt des Friedens mitten in einem Kampfgebiet. 

Mir ist gesagt worden, ich solle nicht über die Brücke in der Herzegowina sprechen, und die meisten Leute sind derselben Ansicht, daß es alles andere als ein Unfall war. Es geht nämlich das Gerücht, daß die alte Brücke viel zum Schmuggeln von Waffen und Lebensmitteln benutzt wurde. Den Gerüchten zufolge wurde der Schmuggel hauptsächlich von UNPROFOR oder anderen UNO- und internationalen Hilfsorganisationen betrieben, und sie brachten nicht nur Lebensmittel und Medikamente, sondern auch Waffen und Munition. Nein, dieser Angriff war gut geplant. Man kann nicht so leicht Schmugglerware über eine Pontonbrücke schaffen, man wird ja aus großer Entfernung gesehen. Ich erinnere mich an die Fotos von Edin, er war mit einer der ersten Gruppen in Mostar, nachdem die vereinigten HVO und BiH-Armija-Streitkräfte Mostar den bosnischen Serben und der JNA abgenommen hatten. Sie setzten mit diesen kleinen Gummibooten über die Neretva, 50m unterhalb der Brücke. Es war absolut sicher, sagten sie mir später, kein Geschoß kann einen dort erreichen. Die Brücke sah nicht so sicher aus an den Tagen, bevor sie ihren letzten Schuß erhielt. 

9.Jan.: Am Vormittag kamen Delegierte der Helsinki-Bürgerversammlung vorbei (eines umfangreichen Netzwerken von europäischen Nichtregie-ungsorganisationen aller Art – Gewerkschaften, Friedens-, Menschenrechts- und Umweltschutzgruppen usw. – gegründet nach der Revolution in Zentraleuropa), um über das Büro zu sprechen, das sie in Sarajewo eröffnen möchten. Ihr erstes Ziel ist, das Basisgruppen-Hilfswerk und die Verteilung humanitärer Hilfsgüter in der Stadt zu koordinieren, .zusammen mit den örtlichen Gruppen. Wichtiger jedoch ist, das internationale Interesse für die Notwendigkeit unabhängiger Medien in BiH zu wecken. Neben Zeitungen wie Oslobodjenje gibt es noch einige andere, die in Sarajewo veröffentlicht werden, auch einige unabhängige regionale Radiostationen senden noch (eine davon ist Radio Zid/Mauer), doch seit mehr als zwei Monaten stehen schon einige Kisten mit Ausrüstung für Medien auf dem Flugplatz von Zagreb herum, und der bosnisch-serbische Verbindungsoffizier oder so jemand läßt sie nicht durch. 

Vor drei Jahren, im Mai: 1991, versammelten sich etwa '30 Leute in Sarajewo, um die Helsinki-Bürgerversammlung für Jugoslawien zu gründen. Ich war dabei und zusammen mit zehn anderen Leuten aus Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Serbien wurde ich in das. Koordinationskomitee gewählt. Diese Organisation fing jedoch nie an zu arbeiten. Sie zerfiel sogar noch schneller als Jugoslawien. Die Hauptinitiatorin, Sonja Licht aus Belgrad,, wurde einige Monate später eine der Vizevorsitzenden der Helsinki-Bürgerversammlung. Sie reiste viel herum und sagte, es gäbe gar keine richtige Friedensbewegung in Kroatien, denn sie seien nationalistisch (und ich bin persönlich wohlbekannt als nationalistisch innerhalb der ARK). Sie besuchte nie Kroatien oder Slowenien, um mit uns direkt über unsere Arbeit zu sprechen und einen Meinungsaustausch zu haben. Wir, ebenso wie die Slowenier, waren ganz unzufrieden mit der Führung der Helsinki-Bürgerversammlung, die zu einer völlig zentralistischen Organisation wurde anstatt zu einem Netzwerk von Basisgruppen. Trotzdem hat die Helsinki-Bürgerversammlung auch einiges Gute geleistet, besonders einige Landesverbände. 
 


    Pakrac: Unfall mit Todesfolge 

    Bei dem Wiederaufbauprojekt in Pakrac wurde ein Loch im Fußboden dem schweizerischen Freiwilligen Urs Weber zum Verhängnis. Der 25jährige Theologiestudent stürzte durch dieses Loch auf einen Haufen Steine, der im Untergeschoß lag. Jede Hilfe kam zu spät: Urs Weber starb vier Tage später, am 29.Juli, an den Folgen des Aufpralls. Die Beerdigung war am 5.August in Davos/Schweiz. 
    In der Todesstunde waren seine Eltern bei ihrem Sohn. Anschließend reisten sie zurück nach Pakrac und boten den Freiwilligen und ihren örtlichen Unterstützern Hilfe an. In der katholischen Kirche von Pakrac fand ein Trauergottesdienst statt, der von vielen Einwohnern besucht wurde. 
    Das Unglück fand genau ein Jahr nach Beginn des Wiederaufbauprojektes statt. In einer Erklärung zum Tode von Urs Weber schrieben die internationalen Freiwilligen von Pakrac u.a.: "Wir geben unser tiefstes Mitgefühl der Familie von Urs zum Ausdruck und allen, die ihn kannten. Wir sind seinen Eltern, Peter und Nelly, sehr dankbar, daß sie in dieser schwierigen Zeit mit uns zusammen waren, und dafür, daß sie am Trauergottesdienst in Pakrac teilnahmen und anschließend mit den Freiwilligen Gemeinschaft hatten. Wir danken ihnen sehr für die Kraft und Hoffnung, welche sie uns gaben. Ihnen und uns wurde klar, daß Leben aus dem Tode entstehen und das Unerklärliche verständlich werden kann. 
    Im Gedächtnis an unseren Freund werden wir unsere Arbeit fortsetzen. Seine Eltern waren die ersten, die uns darin bestärkten und sie wären die letzten, welche seinen Tod als sinnloses Schicksal betrachten würden. Zum Gedächtnis an Urs werden eintausend Rosen in Pakrac blühen und einhundert Häuser werden wieder aufgebaut. Wir sind in tiefer Trauer für unseren Freund und Friedensarbeiter-Kameraden, doch inzwischen voller Hoffnung und Kraft für die Arbeit, an welcher er teilgenommen hatte."



Wir danken der Fördergemeinschaft für demokratische Friedens-Entwicklung e.V. für die Übersetzung und die Genehmigung, diese Übersetzung auf unserem Webserver und im /CL-Netz zur Verfügung stellen zu dürfen.