MailBoxen als neues Medium

Gleichberechtigte Kommunikation im Netzwerk

von Rena Tangens
  1. Einleitung
  2. Was ist überhaupt eine MailBox?
  3. MailBox als Medium
  4. Die Sprache
  5. Frauen im Netzwerk: Erfahrungen
  6. Chancen für Frauen im Netz
  7. Designing society
  8. Visionen für die Zukunft
  9. Literaturliste

Einleitung

MailBoxen sind elektronische Zeitung, Briefkasten und Café zugleich. MailBoxen stehen mittlerweile in Firmen und Redaktionsbüros, Kommunikationszentren und Bibliotheken, Schulen und Privathaushalten. MailBoxen sind das einzige Neue Medium, das nicht nur interaktiv ist, sondern auch die bisher unüberwindliche Grenze zwischen Produzenten und Konsumenten aufhebt. Jede und jeder kann nicht nur lesen, sondern auch schreiben, - kommentieren, anfragen und selbst veröffentlichen - ohne Zensur. Die fortschreitende Vernetzung hat Auswirkungen auf Sprache, Kultur, Politik und Gesellschaft. Welche Chancen bieten MailBox-Netze für Frauen?

Was ist überhaupt eine MailBox?

Eine MailBox ist zunächst einmal ein ganz normaler Computer, der über ein Modem mit der Telefonleitung verbunden ist und 24 Stunden am Tag am Telefon wartet, um Anrufe von anderen Rechnern entgegenzunehmen. Die MailBox ist so etwas wie ein lokales elektronisches Postamt, wo Sie ein Postfach mieten können. Sobald Sie ein solches Postfach haben, besitzen Sie eine elektronische Postadresse und können Briefe versenden und empfangen, weltweit. Ihre lokale MailBox hat regelmäßigen Kontakt mit anderen MailBoxen und tauscht über das Netzwerk Nachrichten aus. Auf diese Weise wird Ihre Nachricht weitergeleitet, bis sie die angegebene Empfänger-MailBox erreicht.

MailBox als Medium

Doch eine MailBox ist wesentlich mehr als ein elektronisches Postamt: Neben den privaten Postfächern gibt es die sogenannten 'Bretter' - hier stehen öffentliche Nachrichten. Dieser Bereich einer MailBox entspricht einer überregionalen Tageszeitung mit vielen verschiedenen Rubriken: Politik, Kultur, Wissenschaft, Regional- und Kleinanzeigenteil etc. Aber mit einem entscheidenen Unterschied: In der elektronischen Zeitung dürfen alle NutzerInnen nicht nur lesen, sondern auch schreiben! Durchaus analog zu schwarzen Brettern, wo Sie nicht nur nach interessanten Nachrichten suchen, sondern auch eigene Mitteilungen anheften können. MailBox-Netze ermöglichen echte Zweiwegkommunikation. Hier gibt es nicht den spärlich genutzten Alibi- Rückkanal (wie z.B. Zuschauertelefon beim TV), sondern hier ist im Medium selbst die Trennung zwischen Konsumenten und Produzenten tatsächlich aufgehoben. In MailBox-Netzen gibt es keine Redaktion, alle TeilnehmerInnen haben die Möglichkeit, jederzeit selbst zu veröffentlichen, Diskussionen anzuregen, zu berichtigen, zu kommentieren. Und zwar nicht in einer Leserbriefecke, sondern im jeweiligen Themenbrett.

Einige dieser Bretter werden von einem kompetenten Menschen oder einer Gruppe betreut, die eine Art Patenschaft für dieses Brett übernommen haben. Zensiert wird dabei nicht. Es findet nur eine Positivauswahl statt: Ständig kommen neue Nachrichten herein, alte werden von der Box nach einer bestimmten Zeit automatisch gelöscht. Nachrichten, die über das Tagesgeschehen hinaus interessant sind, bekommen einen Archivierungsvermerk. So sammelt sich in einer gut gepflegten MailBox mit der Zeit in den Brettern ein 'Bodensatz' an interessanten Nachrichten, die eine MailBox zu einem wertvollen Archiv werden lassen. Dabei handelt es sich nicht um eine Datenbank im herkömmlichen Sinne mit einem konsistenten, redaktionell gefilterten Bestand, sondern um ein lebendiges, pluralistisches Modell, in dem sich zwei Beiträge durchaus völlig widersprechen können - ich muß selbst entscheiden, was ich für wahr halte oder von wem ich eine Quellenangabe zur Verifizierung anfordere.

Anfangs waren die MailBoxen noch jede eine Insel für sich, mit Minimalausrüstung (Homecomputer, Akustikkoppler und abenteuerlichen Bastelkonstruktionen zum automatischen Telefonabnehmen) von experimentierfreudigen Menschen betrieben. Der endgültige Anstoß aber, die Vernetzung der vereinzelten MailBoxen miteinander in Deutschland voranzutreiben, war dann die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1985 - anhand der tatsächlichen Radioaktivitätswerte, die keine Zeitung abdrucken wollte, wurde vielen schlagartig der Wert und die Notwendigkeit eines eigenen unabhängigen und unzensierten Publikationsmediums klar.

Im Zerberus-Netz (kurz: Z-NETZ) und dem damit eng verbundenen /CL-NETZ (Computernetzwerk LinkSysteme) wurde die Idee eines Bürgernetzes verwirklicht. Es arbeitet mit Low Tech und Low Cost nach dem Store- and-Forward-Prinzip auf einfachen Telefonleitungen und ist unabhängig vom Rechnertyp. Das Netz ist dezentral und weitgehend anarchisch organisiert, weder die Software noch die Netzregeln schreiben eine Stern- oder Ringstruktur vor. Das Netz ist unkontrollierbar. Wenn eine Nachricht einmal geschrieben und abgeschickt worden ist, ist sie kaum noch aufzuhalten. Sie wird nach dem Prinzip des 'Flood fill' auf dem schnellsten Wege über das gesamte Netz verteilt.

Das Netz gibt sich eigene Regeln, geschriebene und ungeschriebene. Das Netz ist ein Mikrokosmos, in dem diese Regeln gelebt und ausgetestet werden. In der Netikette - dem Knigge fürs Netzwerk - sind einige Grundregeln festgehalten. Da gibt es

Mittlerweile haben sich die meisten MailBoxen zu Netzwerken zusammengeschlossen, in denen überregional und international Daten ausgetauscht werden. So gelangen ungefilterte Nachrichten aus aller Welt in die lokale MailBox, wie zum Beispiel Wam Kats Zagreb Diary, ein öffentliches Tagebuch über den Alltag im Kriegsgebiet in Ex- Jugoslawien - seit mehr als zwei Jahren kontinuierlich in einem öffentlichen Brett publiziert: Ein zeitgeschichtliches Dokument von ungleich höherer Qualität als die Routine-Agenturberichte vieler Journalisten.

Die Sprache

Dem Schreiben und der Sprache - die im Zusammenhang mit Computern / Neuen Medien zumeist zum sterbenden Kulturgut erklärt werden - kommt in den MailBox-Netzen zentrale Bedeutung zu. Denn in den MailBox- Netzen kommuniziere ich mit anderen über das geschriebene Wort - und hier werde ich nach dem, was und wie ich schreibe beurteilt.

In den Netzen erfahren wir tatsächlich ein Wiederaufleben der Schreibkultur - und werden u.U. zum ersten Mal mit Erschrecken feststellen, wieviele Menschen Probleme mit der Rechtschreibung haben. Die öffentlichen Bretter ermöglichen Kontakt mit Menschen mit ähnlichen Interessen. Während ich im 'wirklichen' Leben mehr oder weniger zufällig andere Menschen treffe und sie dann erst nach und nach kennenlerne, kann ich in der virtuellen Welt der Netze durchaus Menschen mit ihren Interessen, Meinungen und ganz privaten Eigenheiten kennenlernen, bevor ich mich eventuell entschließe, sie auch persönlich zu treffen.

Im Netz entwickelt sich fast unmerklich ein anderer Schreibstil. Es ist aufschlußreich, sich selbst beim Lesen zu beobachten: Kürzere Texte, die klar und lebendig formuliert sind, werden langen Elaboraten, die mit Zitaten anderer Nachrichten durchsetzt sind, deutlich vorgezogen. Da das Lesen am Bildschirm weniger komfortabel als vom Papier ist, wird schneller und entschlossener ausgewählt; was keinen Reiz zum Lesen bietet, wird gnadenlos übersprungen. Aussagekräftige Betreffzeilen zu formulieren ist eine Kunst. Auch über das Schönschreiben entwickeln sich im Netz eigene Vorstellungen: Wie sollte ein Text formatiert, gegliedert, gestaltet sein, damit er als angenehm empfunden wird? Welche ungeschriebenen Regeln gelten für Quellenangaben oder die eigene Signatur?

In einer MailBox muß ich lernen, behutsam mit Sprache umzugehen. Mit Ironie und Sarkasmus ist beispielsweise Vorsicht geboten, wenn ich nicht weiß, ob sie von den Lesenden als eben dies verstanden werden. Dieselbe Bemerkung, die amüsiert aufgenommen wird, wenn sie jemandem persönlich gesagt wird, da die Situation klar ist und durch Mimik, Gestik und den Klang der Stimme interpretiert wird, kann als schriftliche Nachricht im Netz eine heftige Fehde auslösen. Ursache ist meist ein Mißverständnis und das Unwissen, wieviele Bedeutungen und Botschaften schon ein einfacher Aussagesatz mit sich tragen kann.

In Ermangelung von Ton und Bild wird oft auf Comicsprache ausgewichen, um auf den Zeilen zwischen den Zeilen doch noch etwas mitzuteilen. Die <> eckigen Klammern ersetzen die Sprechblase: <staun> <grins> <Arrrrglll> etc. Neben den kreativen Abkürzungen ('cu' heißt 'see you' oder -= bedeutet 'bis gleich!') gibt es dann noch die Minimalgrafik mit ASCII-Zeichen wie die unendlich vielen Smileyvariationen :) :-)) :-< und ;-) Klammer auf - Kopf um 90 Grad nach links drehen beim Lesen nicht vergessen - Klammer zu.

Elektronische Post über Netz ist eine gelungene Kombination von Schreiben und Telefonieren: Es ist viel schneller und viel weniger aufwendig als ein Brief auf Papier und es ist weniger aufdringlich als ein Telefonanruf. Und weil alles so einfach und auch nicht teuer ist, werden auch schon mal Gedankenblitze, unfertige Textfragmente und interessante Fundsachen aus Brettern mit Kommentar an Bekannte verschickt, die ansonsten verlorengehen würden, weil jeder andere Mitteilungsweg zuviel Aufwand und zuviel Bedeutung mit sich bringen würde.

NetzbewohnerInnen entwickeln mit der Zeit ein ausgeprägtes Gefühl dafür, welcher Kommunikationskanal dem jeweiligen Anlaß angemessen ist: Eine private oder eine öffentliche Nachricht im Netz, ein Telefonanruf oder durchaus auch ein handgeschriebener Brief auf Papier.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß nicht ein Medium durch ein anderes ersetzt werden wird, sondern daß viele nebeneinander bestehen werden. Gefordert sind neue Kulturtechniken (wie z.B. in einem Überangebot an Information navigieren zu können) und Kompetenz in der differenzierten Nutzung der verschiedenen Kommunikationskanäle und der Weiterentwicklung einer lebendigen Sprache in den Medien. Hier ist interdisziplinäre Forschung gefordert.

Frauen im Netzwerk: Erfahrungen

Wieviele Frauen bereits in MailBoxen aktiv sind, läßt sich nicht so ohne weiteres feststellen. Klar ist, daß sie deutlich unterrepräsentiert sind. Die Ursache liegt zum einen darin, daß bisher weniger Frauen als Männer überhaupt einen Computer besitzen. Die meisten Frauen schaffen sich einen Computer nicht zum Spielen und Ausprobieren an, sondern erst dann, wenn für sie ein konkreter Anlaß, eine sinnvolle Anwendung damit verbunden ist.

Der Frauenanteil in den MailBox-Netzen wird dennnoch nach meinen Erfahrungen allgemein unterschätzt. Das hat mehrere Gründe: Zum einen kann es sich bei Usernamen wie D.LOEBNER oder B.THOENS sowohl um Dietrich und Barbara als auch um Doris und Bernd handeln. Um dies in meinem Fall von vornherein klarzustellen, schreibe ich selbst im Netz unter meinem Vornamen. Trotzdem bekam ich von einem Teilnehmer aus Hamburg nach drei Monaten ausführlicher Korrespondenz über das Netzwerk und seiner anfänglichen Frage, ob RENA ein Pseudonym sei (nein, ich heiße so), plötzlich eine Nachricht mit der Betreffzeile "Du bist ja 'ne Frau!!!". Was einmal mehr zeigt, daß auch für die meisten Menschen der angenommene Normalfall der männliche ist.

Ein weiterer Grund dafür, daß der Frauenanteil in den Netzen unterschätzt wird, liegt in dem unterschiedlichen Kommunikationsverhalten: Frauen nutzen weitaus häufiger den Weg der PM (personal mail = privater Brief an eine Empfängerin) für Antworten auf Nachrichten in Brettern, während Männer meist öffentlich auch für alle anderen lesbar im jeweiligen Brett antworten. Frauen sind präsent, aber als Folge dieser Zurückhaltung weniger sichtbar.

Dabei gibt es Frauen, die sehr wesentlichen Einfluß auf die Entstehung und Gestaltung der Bürgernetze genommen haben. Beispielsweise die gewählte Koordinatorin des Z-NETZES Kerstin Freund, Mutter von fünf Kindern, seit 1984 Systembetreuerin der Tölleturmbox (TTB) in Wuppertal und damit eine der Pionierinnen. Sie lenkt seit Jahren mit Klugheit, Geduld und Durchsetzungsvermögen die Geschicke dieses exponentiell wachsenden Netzes. Auch das /CL, eine Brettstruktur, in der Themen wie Umweltschutz, Soziales und Menschenrechte im Vordergrund stehen, wurde von einer Frau mitbegründet, konzeptioniert und vorangetrieben: Dr. Gabriele Hooffacker, Buchautorin und Journalistin (u.a. für die Süddeutsche Zeitung und c't) aus München.

Immer mehr Frauen nutzen das Medium, als Teilnehmerinnen und zunehmend auch als Systembetreiberinnen, um sich mit anderen auszutauschen, um ein offenes Forum für Diskussion und Information zu haben, zu allem, was sie interessiert. Das ist die ganze Bandbreite von Musik bis Politik über Rechts- und Programmierfragen zu Umwelt- und Artenschutz, von Witzecke bis Wissenschaft. Daneben gibt es einige Bretter, die ausschließlich für Frauen geöffnet sind. Mittlerweile ist auch ein eigenes MailBox-Netzwerk nur für Frauen (FemNet) im Aufbau.

Chancen für Frauen im Netz

Wenn Frauen die Möglichkeiten des Netzes erst einmal entdeckt haben, sind sie zumeist sehr engagiert dabei. Für einige hat der Computer durch das Modem und die damit geschaffene Verbindung zur Außenwelt überhaupt erst eine Bedeutung bekommen. Die Vorteile der MailBox- Kommunikation, insbesondere für Frauen, liegen auf der Hand:

Die Teilnahme am öffentlichen Diskurs wird unabhängig von Ort und Zeit. Mobilität ist nicht mehr zwingend notwendig und auch nicht die Anwesenheit an einem bestimmten Ort zu bestimmten Tageszeiten. Ein großer Vorteil für Frauen, die sich wegen ihrer Mehrfachbelastung oft ihre Zeit besonders sorgfältig einteilen müssen.

Es werden nicht ständig neue teure Geräte (schneller, bunter, mehr Speicherplatz) benötigt; mit einem einfachen Homecomputer (egal welcher Marke - über das Netz sind alle kompatibel), einem Terminalprogramm (gibt es günstig als Shareware), einem Modem und einer Telefonleitung kann jede dabeisein.

Nach kurzer Einlernzeit ist die Bedienung eines Terminal- bzw. MailBox-Programmes übrigens erheblich einfacher als etwa die einer feature-überladenen Textverarbeitung. Im Zerberus-MailBox-Programm kann ich mich beispielsweise mit den fünf Befehlen BRETT,INHALT, LESEN, SENDEN und ENDE schon bestens verständigen und dabei wesentlich mehr mitteilen als nur 'hello world'! Nicht die ständige Perfektionierung im Handling oder Technik um der Technik willen stehen im Mittelpunkt, sondern das, was ich damit anfange, der Inhalt, das, was ich schreibe.

Für Vorurteile gibt es neben dem gewählten Usernamen und der bevorzugten MailBox wenig Anhaltspunkte; ich kann nicht sehen, ob mein Gegenüber weiblich oder männlich, alt oder jung, Rugbyspielerin oder Rollstuhlfahrer ist, einen Irokesenschnitt, Ohrring oder eine Krawatte trägt - ich kann mir nur aufgrund des Geschriebenen eine Vorstellung machen. Ein späterer Realitätsabgleich ist immer spannend.

Weiterhin brauche ich für die Kommunikation in einer MailBox keine laute Stimme; ich kann meine Beiträge einem großen Personenkreis zugänglich machen, kann dabei in Ruhe formulieren und werde nicht unterbrochen. (Frauen werden ansonsten in Diskussionen signifikant häufiger übergangen oder unterbrochen als Männer.) Ich kann mich jederzeit zu dem Beitrag eines/einer anderen äußern und kann mich entscheiden, ob ich das öffentlich in einem Brett oder privat mit einer persönlichen Nachricht tue.

'Anmache' gibt es - ganz wie im täglichen Leben - auch in der MailBox. Ich kann mir aber - anders als im täglichen Leben - ganz in Ruhe meine Reaktion überlegen (Antworten, Löschen oder Ignorieren), ohne daß es wirklich unangenehm oder gefährlich werden kann. Die physische Bedrohung entfällt, die Auseinandersetzung läuft auf sprachlicher Ebene.

Auch echte Differenzen können in der MailBox ohne Gewaltanwendung ausgetragen werden. Streitkultur will allerdings gelernt werden. Kommunikative Fähigkeiten, aktives Zuhören und Nachfragen, auf andere Eingehen können, sich-hineinversetzen-Können etc. sind bei der Kommunikation übers Netz noch mehr als sonst gefordert. Diese Fähigkeiten, die bisher traditionell eher bei Frauen gefördert worden sind, könnten nun durchaus auch gesellschaftliche Anerkennung finden, da sie Voraussetzung für eine gelungene Kommunikation über das Netz sind.

Frauen sollten diese Chance nützen, sich aktiv beteiligen und im weitesten Sinne Einfluß auf die Entwicklung nehmen. Die Gestaltung der Technik, der Leitungshoheit (= die Macht über die Kommunikationskanäle) und der Organisationsform der Netze werden das Leben von morgen maßgeblich prägen.

Ganz allgemein wird das Sammeln, Aufbereiten und Vermitteln von Information zur wichtigsten Handelsware. Ein beträchtlicher Teil dieser Information wird ohne Zweifel sprachliche Information sein. Die Kompetenz von Frauen in diesem Bereich könnte ihnen für die Zukunft sehr viel bessere Chancen eröffnen als in einer Gesellschaft, die durch die Schwerindustrie geprägt wurde. Und dies ist gleichzeitig eine große Chance für die Gesellschaft.

Designing society

Seit US-Vize Al Gore das Schlagwort vom Information Highway geprägt hat und Bundeskanzler Helmut Kohl in einer TV-Fragestunde dazu nichts Kompetenteres einfiel, als daß Autobahnen Ländersache seien, neigen viele zu der Annahme, daß Deutschland wieder einmal einer Entwicklung in den USA hinterherhinkt. Tatsächlich aber sind die technischen Grundlagen in Deutschland bereits viel weiter gediehen; insbesondere in den Neuen Bundesländern, sind bereits weitflächig die notwendigen Glasfaserkabel verlegt. Die flächendeckende Vernetzung wird hierzulande wohl früher Realität werden als in den USA. Was allerdings inhaltlich über dieses Netz laufen wird, wer an dieser Kommunikation wie beteiligt wird und was das kosten wird, ist noch offen.

Eine interessante Vision, die Utopie einer globalen lebenswerten Gesellschaft durch ein solches Netzwerk zu verwirklichen, stammt übrigens von einer Frau: Marianne Brun beschreibt sie in ihrem Buch Designing society (1985): "Wenn ich dazu aufgefordert würde, an ernsthaften Überlegungen teilzunehmen, die zu einer Gestaltung der Gesellschaft führen sollen, die eine mögliche und durchführbare Alternative zu unserer bestehenden Gesellschaft darstellt, dann würde mein erster Beitrag die Beschreibung eines Computersystems sein, welches so programmiert ist, daß seine Antworten auf jede und alle Eingaben von wem auch immer stets auf dem aktuellen Netzwerk beruhen, das durch alle derzeitigen und alle vorangegangenen Eingaben gebildet wird.

Ich nenne dieses Computersystem hier einmal "Socially Beneficial Information Processor" oder kurz "SBIP". Und ich setze voraus, daß dieses aus einer großen Anzahl von miteinander verbundenen, technisch gleichartigen Komponenten besteht, die über die ganze Welt verteilt sind - überall, wo Menschen sind - und daß es für alle, jede und jeden, der oder die ihn benutzen will, zugänglich sein soll.

Ganz am Anfang, wenn es der Welt übergeben wird, ist das System praktisch "leer": Es braucht erst einmal Eingaben der unterschiedlichsten Art, bevor es antworten und irgendeine Art von Ausgabe machen kann. Dieser Zustand kann Stunden oder auch Tage dauern. Einmal begonnen, wächst seine Fähigkeit zum Antworten und auf etwas einzugehen jedoch schnell.

Eine Eingabe kann eine Feststellung sein, eine Frage, ein Artikel oder ein Gedicht, eine Sammlung von Regeln für ein Spiel, ein logischer Satz, eine Theorie, ein Computerprogramm, ein gesprochener Satz, Musik, ein Foto, ein Film und so weiter. Einige der Eingaben werden Daten sein und einige Programme, Regeln, Algorithmen und Prozeduren. Die Daten werden von den NutzerInnen so eingegeben, daß sie entweder zur Recherche und Begutachtung zur Verfügung stehen oder zur Verwendung. Während die Anzahl und Bandbreite der eingegebenen Daten wächst, nimmt auch die Flexibilität des Systems beim Antworten zu. Jede Nutzerin, jeder Nutzer des Systems kann alles, was vorangehende NutzerInnen eingegeben haben, verwenden. Jemand kann das System nach der Lösung eines Problems fragen und bekommt nur dann eine positive Antwort, wenn irgendjemand anderes eine Minute oder auch ein Jahr vorher eine Prozedur, ein Programm oder einen Algorithmus eingegeben hat, der es ermöglicht, dieses Problem zu lösen. Jedesmal, wenn jemand neue Daten eingibt, ändert sich das System. Bedeutsame Eingabe können so dem System ermöglichen, seine Antworten zu ändern, zu aktualisieren und so besser allen NutzerInnen zu dienen.

Ich schätze, daß mit intensiver Nutzung durch Menschen aus allen Lebenslagen, allen Interessengebieten, allen Altersgruppen, allen möglichen Bereichen von bevorzugten Hauptbeschäftigungen und allen möglichen Gegenden der Welt wird es weniger als ein Jahr brauchen, bis das System eine mehr als nur gleichwertige Sammlung von derzeit verfügbarem menschlichen Wissen repräsentiert und als solche mit all ihren Möglichkeiten dient. (...)

Nach jeder Antwort, die das SBIP ausgibt, wird die Nutzerin ermuntert, ihrerseits zu antworten, zu kommentieren, die Antwort zu kritisieren, die ursprüngliche Frage neu zu formulieren oder kann verfügen, daß die Eingabe so noch nicht abgespeichert werden soll. Die gegenseitige Frage und Antwort im Wechselspiel zwischen der Nutzerin und dem Computersystem gewährleistet, daß die Themen, die die Nutzerin tatsächlich bewegen, auch angesprochen werden und bereichert gleichzeitig das Wissen des Computersystems. Auf diese Weise entwickelt die Nutzerin mit der Zeit ein Bewußtsein für die Tatsache, daß sie oder er sich mitten in allem aktuell verfügbaren menschlichen Wissen befindet, Teil davon ist, damit im Dialog steht und Einfluß darauf hat. Dies geht soweit, daß das SBIP helfen kann, eine Gesellschaft zu gestalten und der Nutzerin bewußt und gegenwärtig wird, daß sie oder er ein willkommenes, notwendiges, ja, und ein unverzichtbares Mitglied der Gesellschaft ist. (...)

Um es zusammenzufassen: Jede Person überall ist eine potentielle Nutzerin: Durch Einloggen ins System wird ein Mensch eine aktive Nutzerin. Die Eingaben der Nutzerinnen verwenden nicht nur das Netzwerk, sie verändern gleichzeitig das gesamte Netzwerk. Wenn eine Eingabe nicht zurückgenommen wird, wird sie in einem der Netzknoten gespeichert und wird dort aktiver Bestandteil in der Konstruktion der Antworten des SBIP. Es kann passieren - und am Anfang wird das recht häufig vorkommen - daß aufgrund der Eingabe einer Nutzerin am Dienstag die Antwort von SBIP auf eine Frage am Mittwoch eine ganz andere ist, als die Antwort auf dieselbe Frage war, als sie am Montag gestellt wurde. Folglich können wir uns das ganze System so vorstellen, daß beide, das SBIP und die Nutzerinnen, stets und ständig Teil von jeglichem menschlichen Wissen sind, die beide einander benutzen und verändern und daß sie aktive und integrale Bestandteile eines selbstbezüglichen und sich-selbst- organisierenden Systems sind: Eine menschliche Gesellschaft, in der jede lebende Person Mitglied ist und deren strukturelle Zwänge ständig beeinflußt, festgelegt, entwickelt und dann wieder geändert werden durch das Zusammenwirken der Eingaben aller seiner Mitglieder.

Wenn auch mein Entwurf und seine Beschreibung und Verheißung Kritik auf den Plan rufen wird - so wie es mit jedem anderen Vorschlag auch der Fall wäre - so reklamiere ich doch einen wichtigen Unterschied: Alle Kommentare dazu können direkt in das SBIP eingegeben werden und werden, unabhängig von meiner Meinung, ein Teil vom System, nämlich aktiver Teil des derzeitigen menschlichen Wissens."

(Brun, Marianne: Designing society, Princeton 1985; Textfragment übersetzt von R.T.)

Die MailBox-Netzwerke kommen dem socially beneficial information processor, den Marianne Brun hier beschreibt, schon recht nahe. Nur daß es nicht ein maschinelles Superhirn gibt, das die Information analysiert, sondern einen lebendigen Organismus, der aus einer Vielzahl autonomer menschlicher Einzelwesen besteht, die in ihrer Gesamtheit das kollektive Wissen und Bewußtsein des Netzwerkes - die Matrix - bilden: 'Frag doch das Netz...'

Visionen für die Zukunft

MailBox-Nutzung wird in einigen Jahren für viele so einfach und selbstverständlich sein wie heute telefonieren oder fotokopieren. Die Vernetzung schreitet allerorten in Riesenschritten voran. Dies ist noch kein kultureller Fortschritt an sich. Wie diese Vernetzung aussehen wird, wer sie nutzt und was über sie mitgeteilt werden wird, diese Entwicklung ist noch offen. Die MailBox ist im Moment ein Labor, in dem experimentiert wird, ein Mikrokosmos, in dem sich eine neue Kultur entwickelt, neue Regeln und Umgangsformen erfunden und erprobt werden, die das Leben im Globalen Dorf bestimmen werden.

Damit alle (also auch diejenigen, die keinen Computer, kein Modem oder Telefon haben) die Chance haben, an dieser Kommunikation teilzunehmen, fordert die Bielefelder Vereinigung FoeBuD öffentliche Terminals, beispielsweise in Bibliotheken und in eigens dafür geschaffenen Räumen wie in den vom FoeBuDgeplanten Mediencafés. Dort sollen nicht nur die technischen Möglichkeiten vorhanden sein, sondern auch qualifiziertes Personal zur Verfügung stehen, das den kompetenten Umgang -- technisch und inhaltlich -- damit vermitteln kann. Denn was nützt eine allgemein zugängliche Umweltdatenbank, wenn ich nicht weiß, wie die Informationen abzufragen oder wie sie zu deuten sind.

Im kleinen Rahmen passiert das in Bielefeld bereits in den Räumen des FoeBuD, wo sich neben der MailBox //BIONIC auch das Archiv, öffentliche Terminals und eine kleine Teeküche befinden. Was hier bereits läuft -- bisher ehrenamtlich und mit großem persönlichen Engagement -- kann als Labormodell betrachtet werden, das nun durch eine öffentliche Finanzierung auf die nächsthöhere Stufe der Entwicklung gestellt werden soll, damit das hier auf engstem Raum versammelte wertvolle Know-How für die Allgemeinheit nutzbar gemacht werden kann.

Für die Zukunft im "Globalen Dorf" brauchen wir ein elektronisches Caféhaus mit Anschluß an die elektronische Stadtbibliothek, reale Räume mit Caféhausqualitäten für das virtuelle Caféhaus. Dies wird die Schnittstelle zwischen Mensch und Netz sein - ein Ort, wo Austausch und Orientierung zwischen Alltagserfahrung und Wissenschaft, Spezialistentum und Allgemeinbildung gefunden werden und gemeinsame Projekte entstehen können und wo ich mich vergewissern kann, daß die anderen Menschen noch real vorhanden und keine Simulation sind...


Literaturliste

Frauenwelt - Computerräume
GI-Fachtagung Bremen, September 1989 Heidi Schelhowe (Hrsg.); Springer Verlag Berlin Heidelberg 1989
Mensch und Computer
Zeitschrift für Bildung, Erziehung, Kultur und Soziales, 2. Jahrgang 1989, Heft 1/89 (Frauen und Computer) ISSN 0933-0895
Miteinander reden - Störungen und Klärungen
Allgemeine Psychologie der Kommunikation Friedemann Schulz von Thun; Rowohlt, Reinbek 1981 und 1989
Designing society
Marianne Brun and correspondents; Princelet Editions, London 1985
Virtuelle Gemeinschaft - Soziale Beziehungen im Zeitalter des Computers
Howard Rheingold; Addison-Wesley, Bonn, 1994
Politisch Arbeiten mit dem Computer
Gabriele Hooffacker; Rowohlt, Reinbek 1991
Dieses Buch ist vergriffen, es gibt jedoch eine Online-Ausgabe http://www.goldmann.de/redaktion/polit/welcome.html.
Computer im Telenetz
Gabriele Hooffacker u.a.; Rowohlt, Reinbek 1993
Z-NETZ, CL, APC etc.
in der BIONIC-MailBox: +49-521-68000

Rena Tangens lebt und arbeitet in Bielefeld, Deutschland. 1984 gemeinsam mit padeluun Gründung von 'Art d'Ameublement', Galerie für Modernste Kunst. Rahmenbau für Erik Satie, diverse Aufführungen der 'Pages Mystiques'.
Seit 1987 Kuratorin der monatlichen Kultur- und Technologie-Veranstaltungsreihe Public Domain in Bielefeld. Performances u.a. bei d'art room in Bologna, auf der documenta 8 in Kassel und auf der ars electronica in Linz. 1988 Artist in residence in Galerien in Winnipeg, Banff und Vancouver (Kanada). 1989 Gründung der //BIONIC MailBox, seit 1990 Programmentwicklung und -gestaltung für das ZERBERUS MailBox-Programm. 1993 Ausstellungen bei Online und In Control in Graz, 1994 bei Earth Wire in Cleveland, England und beim Europäischen Medien Kunst Festival in Osnabrück.
Die Autorin ist erreichbar
c/o Art d'Ameublement, Marktstr.18, D-33602 Bielefeld
oder per electronic mail als rena@bionic.zerberus.de


Der vorliegende Text wurde zuerst veröffentlicht in dem Buch "/innen- Ansichten", der Festschrift zum 25-jährigen Jubiläum der Universität Bielefeld, herausgegeben von der IFF (Interdisziplinäre Frauenforschung).